Wenn moderne Philosophen im 20. und 21. Jahrhundert nach einer historischen Patenschaft für ihre Modernität suchen, nehmen sie üblicherweise Zuflucht zu Nietzsche. Keiner hat die kommende Umwertung aller Werte eindringlicher vorhergesagt, keiner hat die Spaßkultur des "letzten Menschen" als ebenso unvermeidbar vorausgeahnt.
Nicht Hegel, der einen Sieg der absoluten Idee alias Weltvernunft prognostizierte, sondern seine Gegner, mit Schopenhauer und Nietzsche als ersten Agitatoren einer neuen Nicht-mehr-Vernunft, haben gesiegt. Sie und deren moderne Nachfolger scheinen heute allein noch fähig, die Geschicke der neuen Menschheit im 21. Jahrhundert philosophisch rechtfertigen und verstehen zu können.
Doch schon die Zeitgenossenschaft Hegels, die deutsche Frühromantik, hatte Bedenken gegen eine Herrschaft der Vernunft, in der mit Kant und Hegel eine Philosophie des Begriffes die leitenden Geschäfte der Menschheit übernehmen sollte.
Novalis und Friedrich Schlegel trieb die Vision eines neuen Christentums um, das sie überall ("in Kunst, Wissenschaft und Religion") schon in "Gärung und Aufbruch" sahen. Eine Vision, die sich über den Ruinen von Protestantismus und Aufklärung erhob und "unzweifelhaft als neue goldne Zeit mit dunklen unendlichen Augen" kommen werde.
Allerdings hatte auch Hegel, zu gleicher Zeit am Beginn seines öffentlichen Wirkens stehend, verkündet, "diese Zeit (von 1800) sei eine Zeit des Überganges", die ihre Entfremdung (von der noch nicht gefundenen Vernunft der absoluten Idee) erst noch genau erkennen müsse, um sie endgültig zu überwinden.
Vor Anbeginn der "Moderne" standen somit die Systemphilosophie Hegels und die "Symphilosphie" Schlegels in einem unversöhnbaren Gegensatz. Und wäre dieser Gegensatz ein nur innerphilosophischer und nur akademischer gewesen, könnten wir heute nicht erkennen, dass dieser Gegensatz den antreibenden Widerspruch und Motor aller Moderne ausmacht. Es verwundert daher nicht, wenn heutige Philosophen die Symphilosophie Schlegels als eine Art Geburtsstunde der philosophischen Moderne ehren und feiern.
Neuzeit und Aufklärung: Befreiung oder Frevel?
Schlegel sollte sich jedoch von den Träumen der deutschen Frühromantik bald verabschieden und schon 1808 in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehren. Wenige Jahre später hat er auch die Entwicklung der Neuzeit und Aufklärung insgesamt als Fehlentwicklung verurteilt und für eine Restauration der mittelalterlichen Ständeordnung plädiert. Prompt wurde er als Gesandter "der päpstlichen Interessen in Deutschland" bekämpft.
Doch um 1800 war er sich noch gewiss, die Geburtsstunde einer neuen Zeit zu erleben, und heutige Deuter sind sich ebenso gewiss, dass Schlegel als einer der ersten Denker mit etwas konfrontiert war, das man heute schlicht und einfach als erste "Moderne-Erfahrung" zu benennten pflegt. Nicht anders als Hegel, wie schon angedeutet, doch mit dem Unterschied, dass beide auf das radikale Novum der Geschichte diametral entgegengesetzt reagierten.
Hegel war überzeugt, durch eine konsequente Weiterführung der traditionellen Philosophie die Probleme des neuen Zeitalters natürlich nicht lösen, aber doch verbindliche Grundlagen für verbindliche Lösungen bereitstellen zu können. Im Haus der Wissenschaften selbst durch seine "absolute Methode", dann aber auch für die gesellschaftliche Praxis in Kultur und Staat durch seine Rechtsphilosophie einerseits, sein logisch-metaphysisches System von Phänomenologie des Geistes, Logik und Enzyklopädie andererseits.
Ohne philosophisch wissende Mitte sei der Kosmos der Wissenschaften nicht als leitendes Kulturmedium bestandfähig, könnte man heute sein damaliges kulturelles Credo zusammenfassen. Indes die Künste, nach ihrem erreichten universalen Ende, zwar durchaus zu einem produktiven Neubeginn fähig seien, allerdings auf einem nur mehr stark abgesenkten und fragmentierten Niveau. Eine Absenkung, die auch an der christlichen Religion nicht spurlos vorbeigehen werde und daher eine "spekulative" Grundlegung als "absolute Religion" erfordere.
Von diesen kühnen Thesen und Forderungen Hegels wusste sich Schlegels Auffassung von Moderne frei und unbelastet.
Rettung in der Not: Die "Konstruktion des Einzelnen"
Ähnlich wie Hegel sieht er zwar die Fragmentierung der modernen Kultur und Gesellschaft, deren Zersplitterung und Pluralisierung als ungelöstes und die Zukunft Europas bedrohendes Übel. Doch nur "einerseits", keineswegs auch "andererseits." Einerseits Zersplitterung und Pluralisierung, andererseits Befreiung zu neuen Werten und neuen Welten.
Hegel empfiehlt den Zerstreuten und Vereinsamten der neuen Epoche, die aus dem geborgenen Nest der bisherigen Wertsysteme zu fallen drohen, eine neue gemeinsame Vernunft zu suchen und zu finden, um aus dieser obersten Pflicht eine neue Sittlichkeit in Staat und Gesellschaft zu begründen. Schlegel plädiert hingegen für den Genuss und für eine fruchtbringende Betätigung der neuen Freiheit, die den alten und verzopften Werten und Institutionen das Lebenslicht zu Recht ausgeblasen habe.
Zwar sieht er die "Zersplitterung" des modernen Menschen, der nunmehr ganz auf sich und seine Alleinigkeit gestellt sei. Denn inmitten einer Unzahl von vielfältigen Lebensformen, die sich überdies beschleunigt erweitern und spezialisieren, ist "Sinn und Zusammenhang" ein seltenes, ein vielleicht verschollenes Gut. Wie Hegel strebt auch Schlegel eine Wiedervereinigung an, aber diese sei nur noch als "Konstruktion des Einzelnen" erreichbar, wie ein moderner Philosoph von heute die Position Schlegels reklamiert.
(Johannes Korngiebel: Symphilosophie und Provokation. Zu Friedrich Schlegels 250. Geburtstag https://www.praefaktisch.de 2. August 2022.)
Ein "Unverhältnis" regiere seit damals zwischen Mensch und Gesellschaft, doch just dieses neue Verhältnis biete alles an, was das Herz des modernen Menschen angeblich begehrt, wenn dieser nur wüsste, in welcher Richtung sein Herz zu finden wäre. (In der Realität wird diese neue Theorie-Suppe bekanntlich bis heute weniger heiß gegessen, weil der glorreiche Einzelne, um ökonomisch und sozial überleben zu können, auf die freischwebenden Angebote des jeweiligen Status quo zurückgreifen muss. Wozu neuerdings vermehrt auch das Angebot einer flächendeckenden Arbeitslosenentlohnung zählt, die ihm erlaubt, unsympathische Arbeitsangebote zurückzuweisen. Das Schlaraffenland des europäischen Sozialstaates lebt noch.)
Ist nun die "Zersplitterung" in das Innere jedes Menschen eingekehrt, muss entweder dessen Wiedervereinigung oder das totale Laissez-faire zum insgeheimen Lebensziel aufsteigen. Ein radikales Entweder-Oder, dem sich der reale Mensch (auch der Moderne), schon aus Gründen seiner Selbsterhaltung immer wieder zu entziehen weiß. Würde er versuchen, die vielen Nicht-Identitäten, die ihm als moderne Identität angeboten werden, (auch nur einen Tag) wirklich zu leben, würde ihn nur noch eine angeborene Narrenfreiheit vor Depression und Absturz bewahren.
Alles widerspricht sich selbst: Zwei Wege zur Erlösung
So weit in die Gegenwart hatte Schlegel noch nicht vorausgesehen, er sieht aber doch schon in das Auge eines Tragöden, der entsetzt beobachtet, dass sich in einer immer komplexer werdenden Welt nur noch ein letzter (grundsatzloser) Grundsatz abzeichnet: "Alles widerspricht sich selbst." Ein allerdings tragischer Befund, weil das Sich-Widersprechende, wenn es nur noch dies und nicht auch sein erhaltendes Gegenteil ist, nichts als die vorweggenommene Bestätigung seines künftigen Leichnams sein kann.
Als führender Denker der deutschen Frühromantik dachte auch Friedrich Schlegel gründlich und umfassend: Es gäbe zwei (Königs-)Wege, die grassierende Entfremdung der modernen Welt und seiner Geisel: den entfremdeten modernen Menschen zu heilen und (fast) endgültig zu überwinden. Zum ersten einen mehr geselligen und mehr theoretischen, dann aber auch einen produktiv-praktischen Weg. Auf dem ersten Weg trifft man sich, um die Fremdheiten, die zwischen den Vielen und deren oft komplexen Verschiedenheiten entstanden sind, auszutauschen. Besser reden und zuhören, als schweigen und immer nur im eigenen Stall herumlaufen.
Auf dem zweiten Weg gründe man Produktionsgemeinschaften unter den Kreativen und Schaffenden, um neue vielfältige Produkte herzustellen.
Warum nicht auch mit und unter Lyrikern und Romanciers und Philosophen, wie noch heute die sechs Hefte des Athenäums von 1798-1800 belegen? Diesen sollten übrigens ab 1803 noch einige Hefte unter dem Titel "Europa" folgen. Ein Titel, der die keimende Europabegeisterung der deutschen Frühromantik belegt, die sich auch in den Beiträgen von Schlegel, Novalis, Schleiermacher und den Geschwistern Schlegel zeigt. Nicht verwunderlich, sollte doch das damalige "moderne" Europa (nach Überwindung von Aufklärung und Protestantismus) eine neue (universalkatholische) Christenheit gebären.
Schlegels Heilungs-Rezept war demnach einfacher als jenes von Hegel: nach diesem sollte der Geist seiner Zeit in allen Dingen, den natürlichen wie den historischen, zuerst und zuletzt nach den Gründen der Vernunft suchen. Nach Schlegel sollten die Kinder der neuen Zeit mit vereinigtem Geist danach trachten, mit allen Dingen und deren Teilen nach freiem Belieben zu schaffen: Welche Wonne, eine neue Freiheit gründlich auszuprobieren, die erstmals durch keine fürstlichen oder kirchlichen Prärogative und Regimente behindert wird.
Schon bald wird der eine und einzige Beethoven einen Frieden der Menschheit bejubeln, der noch dem heutigen Europa als klingende und absingbare Phantasmagorie seiner politischen Friedensvisionen dient.
Schlegels und der Seinen Visionen über eine neue Menschheit, die im neuen Zeitalter möglich sein wird, nehmen sich heute verflossen aus. Weder ist eine neue Christenheit, noch ist eine neue Menschheit auf unserem Planeten eingekehrt. Daher scheinen wir aus der Vergangenheit der Frühmoderne um 1800 rein gar nichts "lernen" zu können. Obwohl wir selbstverständlich ahnen, dass wir die kolossalen Veränderungen, die von 1800 bis 2022 eingetreten sind, nicht als vergängliche Moden oder äußerliches Flickwerk am Korpus der Menschheit abtun können.
Dies auch dann nicht, wenn wir feststellen, dass sich "die Erfahrung der Moderne" seit 1800 weder befriedet noch sonst wie aufgelöst und in den Weltraum abgesetzt hat. Im Gegenteil: ob pluralistische Vielfalt der kreativen Freiheit oder Zerrissenheit und Entfremdung regiert oder aber beides zugleich, (aber wo und wie genau?) wäre nur klärbar, wenn die Gesetze der Plattentektonik der Kulturbewegung auf allen Kulturkontinenten geklärt worden wären.
Die Explosion der Alma Mater
Schlegels Befriedungs- und Befreiungsmodell lässt sich in der Gegenwart am ehesten noch am Gedeihen und Nichtgedeihen der modernen (Massen-)Universitäten wiedererkennen: An jenen markanten Punkten der akademischen Szenerie, wo deren Verhältnis von Gedeihen und Nichtgedeihen öffentlich wird.
Interdisziplinäre Kommissionen zwischen den Fächern und Fakultäten der wahrlich "ausgeuferten" Alma Mater dürften ziemlich auf Linie mit Schlegels erstgenanntem Weg liegen. Im Alle-Tage-Alltag leben die universitären Teilnehmer aller Etagen wie in einander fremden Welten, aber am interdisziplinären Tag ist etwas Feierliches angesagt. Welches genau, wird sich noch zeigen. Man kann doch der freien Spontaneität der Teilnehmer keine Prärogative-Prügel zwischen die Beine werfen. Soweit die Illusion von 1800.
In der Realität von heute läuft auch diese Chose schon seit langem vollständig ernüchtert und ohne Hoffnung auf Erlösung vom Fremdgewordensein ab: Man weiß schon im Voraus, über welche Punkte welcher Sonderexperte welcher Fakultät welche Meinungen explanieren wird.
Dieses Spiel war bis vor kurzem sakrosankt: Welche Meinungen die disiecta membra der Alma Mater ihrem umstrittenen Meinungspool zuführten, war frei und ohne lenkende Eingriffe von außen möglich: ("Die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei und nur ihren Wahrheitskriterien verpflichtet.") Je umstrittener, umso besser, wenn auch gesellschaftlich oft umso belangloser.
Man hatte den Eindruck, die konservativen unter den modernen Nachfolgern Schlegels hofften insgeheim immer noch auf einen Weg zu einer Wiedervereinigung der Alma Mater, vielleicht unter dem Dirigat eines neuen Humboldt.
Theologie und Philosophie allerdings, die sich immer noch als ehrwürdige Häupter im übergroßen Ensemble der Alma Mater finden, werden eher nur noch geduldet, denn als einheitsstiftende Mächte wahrgenommen.
Lautet der Befund demnach doch dramatisch: viele Stimmen, aber keine gemeinsame mehr? Aber mit welcher Gesamtstimme spricht eigentlich das Rektorat der Universitäten? Nur mehr mit der Stimme des Verwalters und Managers, der das Repertoire seiner Marketingphrasen in- und auswendig beherrscht? Im Übrigen aber den Chor seiner tausendstimmigen Universität durch sich selbst, durch tausend Sonderstimmen singen lässt, der somit eines Chorleiters nicht mehr bedarf?
Wer so frage, habe das Wesen der Freiheit noch nicht verstanden. Diese Freiheit - die Freiheit der Wissenschaften, die Freiheit der Künste, die Freiheit der Religionen - sei für die Demokratie – nach dem Ableben von realen- und Kirchenfürsten – substantiell: Würde diese Freiheit nicht durch sich selbst funktionieren, würde gar nichts mehr funktionieren.
Wer am Fundament dieses Triumvirats rüttle, indem er wahre und falsche Freiheiten und Wahrheiten vorsortiere, agiere schon wie jene Geister, die Europa ab 1917 und ab 1933 in den Abgrund einer unheilerfüllten Unfreiheit stürzten.
Ist nun das Modell Schlegel an sein Ende gelangt, hat es seinen Meister gefunden an einem ruppigen dogmatischen Gegen-Modell namens Cancel Culture?
Am Rubikon der westlichen Toleranzkultur
Noch vor wenigen Jahren wäre es selbstverständlich gewesen, an einer universitär organisierten interreligiösen Tagung auch die Koran-begründete Meinung eines Imams zuzulassen, die Erde sei eine Art von Scheibe, auf keinen Fall aber eine Art von Kugel, denn hätte Allah davon gewusst, hätte er sein Wissen seinem Propheten gewiss nicht vorenthalten.
Heute aber könnte es geschehen, dass die Scheiben-Meinung des Imams zustimmendes Kuratoren-Lob einheimst, weil sie sich erfolgreich dem widersetzt, was moderne Culture-Experten neuerdings als Vergehen einer "kulturellen Aneignung" durch die westliche Kultur anprangern.
Womit der Rubikon der westlichen Toleranz-Kultur (wieder einmal) überschritten wurde. Diese droht in universale Unkultur abzustürzen: indem sie ihr jahrhundertwährendes Abonnement bei den Instanzen Vernunft und Freiheit kündigt, beginnt sie der Umwertung aller Werte auf der Straße der Nicht-mehr-Vernunft blindlings Gefolgschaft zu leisten. Sie wird fähig, noch die dümmste vormoderne Planetologie als ernstzunehmende Wahrheit zu diskutieren.
Würde der Westen, durch Aufklärung und Wissenschaft genährt und erzogen, Scheiben-Meinungen und Kugel-Meinungen als einander ebenbürtig und gleichberechtigt, weil "multikulturell" geboten, anerkennen, so hätte er im Namen einer neuen, von der Vernunft abgekoppelten Freiheit die universale Vernunft der Menschheit, der sich auch der Islam in vielen Bereichen nicht mehr verweigert, verraten.
Und dies auch rückwirkend, denn warum soll unter den neu-freien Auspizien nicht auch die Sklaverei ein Gut gewesen sein, an dem sich westliche Kulturaneignung nicht vergreifen durfte? Auch der "Fall Galilei" wäre nochmals und neuartig aufzurollen, nun aber wirklich gerecht und nicht unter der Prärogative westlicher Meinungsdiktatur.
Einigen deutschgründlichen Jung-Philosophen ist es bereits gelungen, Kant und Hegel als Rassisten zu "dechiffrieren", und das Schicksal von Mohr, Eskimo, Indianer und Häuptling Winnetou ist bekannt. Sie wurden gerade noch rechtzeitig gerettet, um dem verordneten Weltuntergang durch Klima-Malus vorurteilsfrei beizuwohnen.
Dass Schlegel und die Seinen mit einem solchen Umsturz der um 1800 errungenen Freiheit in Unvernunft nicht gerechnet haben, darf angenommen werden.
Die "Paradoxe" der post-postmodernen Cancel Culture sind nicht nur unauflösbare Selbstwidersprüche, sie sind, zu Ende gedacht: kulturelle Selbstvernichtungsprogramme, von denen kollektiv abzulenken, nichts besser geeignet ist, als ein "global" verordneter natürlicher Weltuntergang.
Im gelebten Narrenkäfig postmoderner Moderne wird einerseits noch der verrücktesten Meinung "Gedankenfreiheit" und Redefreiheit gewährt. Doch als würde damit der Freiheitsbogen überspannt, wird ihm nun - im Land der erreichten Nicht-mehr Vernunft - ein System usurpatorischer Schein-Vernunft-Regeln aufgedrückt, um missliebige Meinungen zu erkennen und anzuprangern. Prompt vermehren sich diese mit der Macht einer globalen Seuche.
Das schon erwähnte autochthone Kulturprinzip (jede autochthone ist wahre Kultur, alle anderen sind falsche, weil "angeeignete" Kultur) hat kürzlich auch den Papst in die Falle plumpsen lassen. Ganz wie Erdogan seine Türken vor der "westlichen Aneignung" durch "Assimilation" in Europa warnt, rettet der Papst die zu missionierenden Indios (zweihundert Jahre verspätet) vor dem katholischen Gebot der Missionierung. Diese habe sich des Verbrechens der Assimilierung schuldig gemacht, und nur noch Schadenersatz-Gelder können jetzt noch retten, was nicht mehr zu retten ist.
Was immer die Missionare verbrochen haben mögen, eine Kirche, die den christlichen Missionsauftrag kündigt, hat mehr als ein nur moralisches Problem.
Die Selbstdestruktions-Programme der (multi)kulturell erweiterten Postmoderne sind gestartet, die Wände, an denen sie zerschellen werden, warten mit erbarmungsloser Geduld. Wir erinnern uns an Schlegels frühe Verzweiflung von 1800: "Alles widerspricht sich selbst."
Das autochthone Prinzip widerspricht schon der Massenmigration nach Europa, die der Papst als Mitverschworener der UNO unaufhörlich fordert, nicht bedenkend, dass eine "gelingende Integration" unter der Maxime der Assimilierungsfreiheit zur Farce werden muss, in weiterer Folge: zum Harakiri Europas durch anarchische Massenmigration.
Das Prinzip der "geschlechtergerechten Sprache" verstört die gemeinsame Substanz gelebter Nationalsprachen und zerstört die Sprache der Worte als primäres Vernunftorgan und bringt die universale Übersetzbarkeit aller Wortsprachen zu Fall. Und was hilft uns eine Befreiung für nur zwei Geschlechter, wenn bereits zehn weitere und mehr Geschlechter im toll gewordenen Köcher lauern?
Kaum noch nötig, auf die Selbstwidersprüche des von der Cancel Culture ausgerufenen Anti-Rassismus-Rassismus näher einzugehen. Ebenso nicht auf das "wissenschaftliche" Treiben von "Migrations- und Klimaforschern", die die Glaubenssätze der UNO-Gremien über offiziell dekretierte Weltuntergänge und Migrationsschübe unterschrieben haben. Gewiss: Keine Zeit, in der sich Wissenschaften nicht an jeweils aktuelle Ideologien verdungen hätten, aber auch dieser Krug ging noch jedes Mal mit großem Getöse zu Bruch.
Cancel Culture: Erfüllung oder tödliches Ende?
Aktuelle Ideologien sind wie ein Sturmwind, der alle Gemüter der Lebenden durchbraust, ihnen Besinnung und Vernunft raubt, und die ernsthafte Untersuchung der Probleme, auch von Klimawandel und unkontrollierbarer Massenmigration, journalistisch gezüchteten Massenhysterien oder ebenso künstlich gezüchteten Verschweigungskulturen opfert. Zwei entgegensetzt scheinende Formen moralischer Panik, mit der sich die Verängstigten höchstpersönlich aufs Schafott führen.
Nochmals gefragt: Ist nun die postmoderne Cancel Culture die Erfüllung der postmodernen Pluralitätskultur oder deren erreichtes tödliches Ende?
Schlegel und Hegel wissen um 1800 und sehen voraus, dass eine altgewordene Welt einer jungen und neuen Welt wird weichen müssen.
Wir Heutigen wissen, dass eine Kultur, die zwischen Vernunft und Freiheit keine tragfähigen Verbindungen und Vermittlungen findet, damit rechnen muss, eines Tages die Vielfalt über alle Ufer treten zu sehen, über die Ufer jenes Stromes, innerhalb dessen die Vielfalt einst fließen konnte und durfte.
Dann aber ist die Gefahr groß, dass Usurpatoren der Vernunft dem Strom entsteigen, um durch gezielte Hiebe die angesammelten Gordischen Knoten der vernunftlosen Freiheit(en) zu durchhauen. Sie nennen es korrektes Vorsortieren alles dessen, was im Trog der Freiheiten und Wahrheiten zusammengeschüttet wurde.
Das Kulturerbe unserer Tradition sei täglich neu "auszuverhandeln", teilen uns unsere zeitgemäßen Kuratoren für Kultur im Ton einer letzten Belehrung mit. Sie sagen nicht: welche Tradition?; nicht: in welchem Auftrag?; nicht: für welches Wir?; nicht: für welche Art von Gesellschaft und Kultur?; und am allerwenigsten: nach welchen Kriterien (um das "gecancelte" Wort "Normen" zu vermeiden) "ausverhandelt" werden soll. Als ob uns am Ende aller Vernunfthandlungen nur noch das letzte "Ausverhandeln" übrig bliebe.
Wenn aber die Frage an dem Verhältnis von Vernunft und Freiheit überhaupt falsch und ohne Aussicht auf Beantwortung gestellt wäre, weil man in dieser Welt nicht beides zugleich haben könne, nicht zugleich Vernunft und Freiheit, dann allerdings hätte die Philosophie alles Recht auf diese Welt, auf deren Gestaltung und Vermittlung verloren, und Schlegels Modell müsste nach jedem Scheitern des jeweils nächsten Usurpators immer wieder wiederkehren. Sisyphos wäre der wahre Name einer Moderne, die jede ihrer Postmodernen überlebt, dadurch aber niemals wirklich lebendig und wahrhaft, niemals frei und vernünftig wird.
Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.