Lehren aus dem Krieg in der Ukraine: Sternstunde der Lenkwaffen

In diesem Beitrag geht es nicht um eine normative Bewertung des Krieges in der Ukraine, sondern lediglich um militärisch-technische Erkenntnisse. Nach eingehender Sichtung der mir zugänglichen Quellen, erleiden die mechanisierten russischen Verbände in der Ukraine offenbar erhebliche Verluste. Ein guter Teil davon geht auf das Konto von ferngesteuerten unbemannten Kampfdrohen und Panzerabwehrlenkwaffen.

Hier soll auf letztere eingegangen werden. Panzerabwehrlenkwaffen (PAL) zwar keine ganz neue Erfindung, haben aber seit ihren Anfängen eine stürmische Entwicklung genommen, was Reichweite, Bedienerfreundlichkeit und Ersttrefferwahrscheinlichkeit angeht. PAL haben im Kampf gegen einen mechanisierten Feind eine neue Karte ins Spiel gebracht.

Die Einsatzgrundsätze von Kampfpanzern auf dem modernen Gefechtsfeld, werden sich wohl erheblich wandeln (müssen). Der Panzerschutz der Fahrzeuge wird nämlich durch deren Gesamtgewicht limitiert. Der Wettlauf zwischen Panzerentwicklung einerseits und Abwehrwaffen andererseits, scheint im Moment jedenfalls zugunsten der letzteren auszugehen. Nichtsdestotrotz: Nach wie vor ist der moderne, stark motorisierte Kampfpanzer ein wesentlicher Akteur auf dem modernen Gefechtsfeld, da er schnelle Bewegung und Feuerkraft in sich vereint. 

Zurück zu den Lenkwaffen: Erstmals in großem Stil eingesetzt wurden PAL von der ägyptischen Armee im Sinai während des Yom-Kippur-Krieges im Jahre 1973. Die israelischen Panzertruppen erlitten damals schwere Verluste durch die von den Ägyptern eingesetzten russischen Waffen des Typs 9K11 Maljutka mit der Nato-Bezeichnung SAGGER und 2K8 Falanga (Nato-Code: SWATTER). Das waren drahtgelenkte Raketen mit Hohlladungssprengkopf, die dem Schützen große Aufmerksamkeit abverlangten, weil sie wie ein fernsteuerbares Flugmodell von der Starteinheit bis zum Aufschlag ins Ziel gelenkt werden mussten. Der Schütze war während der Flugzeit seiner Rakete dem feindlichen Feuer ausgesetzt, weil ihn der unbedingt notwendige Sichtkontakt zum Ziel aus der Deckung zwang.  

Die derzeit von den ukrainischen Streitkräften eingesetzten PAL vom Typ FGM-148 JAVELIN Medium Antiarmor Weapon System US-amerikanischer Provenienz oder damit vergleichbare Systeme (wie die in der Ukraine produzierte STUGNA-P) sind dagegen regelrechte "Wunderwaffen": Der Schütze muss nur das Ziel kurz anvisieren, "aufschalten" und den Auslöser betätigen. Alles weitere erledigt die Rakete selbsttätig.

Es handelt sich um ein im Militärjargon als "fire-and-forget-Waffe" bezeichnetes Gerät. Ist die Rakete einmal unterwegs, kann der Panzer fahren, wohin er will, er wird jedenfalls getroffen. Das Javelin-System verschießt eine Feststoffrakete mit einem achteinhalb Kilo schweren Gefechtskopf, der eine doppelte Hohlladung enthält und damit auch modernste Reaktivpanzerungen überwinden kann. Was diese und andere aktuelle PAL für Panzerfahrzeuge so besonders gefährlich macht, ist der Umstand, dass die Rakete kurz vor dem Ziel hochzieht und den Panzer von oben trifft – also dort, wo er am wenigsten geschützt ist. Vielfach sind in der Ukraine bereits improvisierte, zum Teil recht abenteuerliche Konstruktionen auf Russenpanzern aufgetaucht, die der Gefahr eines vernichtenden Treffers von oben entgegenwirken sollen.

Viele Bilder und Videos aus den Kampfzonen der Ukraine, zeigen neben abgeschossenen russischen Panzern liegende Geschütztürme. Das hat damit zu tun, dass die Treffer durch PAL eben von oben erfolgen, und die unter dem Turm in einer automatischen Ladevorrichtung ruhende Munition, sich in diesem Fall mit der Ladung des aufschlagenden Geschosses solidarisiert, ebenfalls detoniert und dabei den Panzerturm absprengt.

Das ist der Konstruktion der russischen T-Panzer geschuldet, die auf einen vierten Mann der Besatzung (den in westlichen Panzertypen üblichen Ladeschützen) verzichten, was zwar eine niedrigere Silhouette ermöglicht, aber mit sich bringt, dass die Mannschaft de facto auf einem Pulverfass sitzt. Bei in Westarmeen eingeführten Kampfpanzern, die über keine Ladeautomatik verfügen, sondern einen Ladeschützen an Bord haben, lagert die Bereitschaftsmunition meist im hinteren Teil des Turms, was im Fall eines Treffers die Überlebenswahrscheinlichkeit der Besatzung und des Gerätes deutlich erhöht.

Dazu hier eine anschauliche Grafik der Washington Post.

Wie der Kriegsverlauf in der Ukraine jedenfalls unmissverständlich zeigt, lohnt sich eine entschlossene militärische Landesverteidigung – auch gegen einen zahlenmäßig klar überlegenen Angreifer. Außer zugegeben beachtlichen Gebietsgewinnen im Donezbecken und im Süden des Landes sind den russischen Truppen nach immerhin sechs Monaten Krieg bislang keine atemberaubenden strategischen Erfolge beschieden. Westliche Militärexperten zeigen sich daher über die bescheidenen Leistungen der als deutlich stärker eingeschätzten russischen Truppenverbände erstaunt. Die verhältnismäßig schwache Performance der Russen, und das ist die gute Nachricht, könnte den Appetit der russischen Führung auf weitere militärische Abenteuer verringern – etwa einen Angriff auf einen angrenzenden Nato-Staat.  

Die liberalen Demokratien Europas wären in jedem Fall gut beraten, ihre zugunsten des überbordenden Wohlfahrtsstaats stark vernachlässigten Verteidigungsanstrengungen drastisch zu erhöhen – besonders im Hinblick auf ein mögliches Comeback Donald Trumps im Weißen Haus. Trump hatte in seiner Amtszeit als Präsident ja bereits laut darüber nachgedacht, den von den USA über Europa errichteten Schutzschild abbauen zu wollen. In diesem Fall stünde Mittel- und Westeuropa dem russischen Bären im Moment erschreckend schwach gegenüber. 

Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.

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