Die Hoffnung war groß und währte lange: Europa könne als selbstständiger Block gedeihen und in eine prächtige Zukunft wachsen: in neuer Freiheit vereint, friedensgesichert und unabhängig von und gegen die USA, ebenso von und gegen China wie auch gegen die Mächte des Islams, die nach Europa drängten, was aber nur Israel und USA und deren Sicherheits- und Energieexperten wirkliche Sorgen bereitete.
Für immer sei die Trennung in zwei Blöcke (West und Ost) mit dem Ende der Sowjetunion in Europa beendigt, und nach den Wirren in Russland und einigen Kämpfen in den frei gewordenen Nachfolgestaaten sei das "Gespenst" von Weltkommunismus und östlichem Nachfolge-Autoritarismus überwunden. Eines Tages werde auch das große Russland auf Europas Freiheitskurs einschwenken und eine eurasische Weltfriedenszone (von Lissabon bis Wladiwostok) mittragen und mitschützen.
Allerdings gaben die Jahre 2008 (Georgien) und 2014 (Krim) und davor schon 2011 (Tschetschenien) zu denken. (Die Tibet-Jahre Chinas wurden in Europa nicht wirklich wahrgenommen.)
Skeptiker mahnten, noch habe der Friedensengel der Geschichte über Europa seinen Flug nicht begonnen, noch sei es zu früh, ein großes oder gar endgültiges Friedenszeitalter auszurufen. Kants Weltfrieden samt Weltfriedensstaat könnten auch am Beginn des 21. Jahrhunderts eine nicht-überlebensfähige Frühgeburt erleben.
Sie wissen noch nicht, was aus ihnen werden soll
Doch im Jahr 2022 hat die Geschichte Europas einen Salto mortale rückwärts gemacht. Man spricht von einem "historischen Ereignis", ein gängiger Oberbegriff für sehr verschiedene Erscheinungen, die eine bisher als gesichert geglaubte Richtung der Geschichte dennoch radikal verändern. (Attentate, Einzelangriffe verwegener Fanatiker, auch Naturkatastrophen, Entdeckungen neuer Weltteile und ähnliche Ereignisse, deren Wirkungen sich weithin niemand entziehen kann.)
Speziell die Ost-West-Teilung Europas galt bis 1989 als vollendeter Status quo der Weltgeschichte, an dessen nochmaliger Änderung auch Philosophen nicht glauben wollten, womit sie freilich offen oder verdeckt bekannten: Mit dieser Teilung habe die Geschichte Europas und der Menschheit ihr Ende und ihre Vollendung erreicht. Um niemanden nachträglich zu blamieren, unterbleibe die Nennung von Namen.
Auf den (stets naiven) ersten Blick scheint 2022, mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, die alte Zweiteilung Europas zurückgekehrt zu sein. Einer freien westlichen Welt steht wieder eine unfreie östliche Welt gegenüber. Im Westen: EU und NATO nebst einigen Neutralen und Unabhängigen (wie England), im Osten: Russland und China als Imperien der Unfreiheit.
Doch entgeht unserem zweiten Blick auf die veränderte Weltlage eine bemerkenswerte Novität nicht: Die beiden östlichen Imperien sind aus einem jeweils speziellen Kollaps ihrer Vorgänger-Systeme entstanden, oder wenn man will: durch zwei verschiedene Reaktionen auf diesen Kollaps: Der russische Postkommunismus hatte und hat gewisse anarchische ("oligarchische") Züge, wovon sich der kommunistische Staatskapitalismus Chinas freihalten konnte.
Unsere Verlegenheit, richtige (neue) Namen für die entstandenen Hegemonialgebilde zu finden, beweist bereits deren Novität wie auch die ungesicherte Übergänglichkeit der neuen Herrschaftssysteme. Sie scheinen noch nicht zu wissen, was aus ihnen werden soll.
Gesichert scheint ihnen nur eine Weisheit zu sein: In die Systeme vor dem Kollaps können sie nicht mehr zurück. Ein stalinistischer oder ein poststalinistischer Sowjetkommunismus ist auch für ein putinistisches Russland keine wirtschaftlich oder politisch tragfähige Option, und ein maoistischer Zwangskollektivismus, der jede freie Wirtschaftsentwicklung vernichtet, wäre für das aufstrebende China der Anfang vom Ende.
China hat es sogar geschafft, den Personenkult à la Mao oder Kim zu überwinden. Ob das neue Russland mit oder ohne Putinkult existenzfähig sein wird, wird die Zukunft weisen.
Neue Risse in der Freiheitswelt
Ein vereinfachter Gesamtblick auf die aktuelle Welten-Lage zeigt im Norden einen immer noch freien Westen, im Osten zwei dominierende autoritäre Systeme, im Süden eine quasi-archaische Welt, die unter dem Bann einer vormodernen Weltreligion ihren Weg in die Freiheit sucht.
Seit 1990 sickerten in die freie Welt allerdings einige juvenile Idiotismen ein, die den Westen von innen her fundamental bedrohen: Ein "Weltuntergang" durch:
- Klimanotstand,
- 70 oder mehr neue Menschengeschlechter,
- neue "gendergerechte" Sprachen, die die bisherigen systematisch zerstören
- und ähnliche Menschheitsexperimente mit neuen "Inklusivitäten" und "Gerechtigkeiten", von denen die Avantgardisten der europäischen Spätmoderne in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nur träumen konnten.
Diese neuen Bälle des Westens nehmen die Führer des Ostens (und der islamischen Welt) gerne auf, um sie als erkannt vergiftetete den selbstgerechten Menschenrechte-Verkündern zurückzuwerfen: Ihre neuartig erweiterten Menschenrechte seien vielleicht im Westen durchsetzbar, nicht aber im Osten und Süden. Schon die Zersetzung der Nationalstaaten sei eine Idee Europas, nicht der ganzen Welt. Europa sitze auf einer Bombe, deren Sprengkraft man jenseits von Europa nicht erproben möchte.
Es sind diese "Bälle", die auch das putinistische Russland motivieren, einen eigenen antiwestlichen Weg für ganz Russland (ein gefährlicher Expansionsbegriff) zu wählen. Und wenn es sein müsse, durch einen großen Krieg.
Anders als noch zu den Zeiten des Kalten Krieges sind die ideologischen Gefahren des westlichen und des östlichen Weges mittlerweile viel genauer bekannt. Dem radikalen Freiheitsweg des Westens droht eine Selbstzersetzung, dem radikalen Autokratieweg des Ostens droht eine Selbstüberhebung, die ihn zwingt, nach immer neuen Mitläufern und Vasallen suchen zu müssen.
Wogegen der Westen durch Aufnahme von weiteren willigen und gut bezahlten Beitritts-Staaten aufzubegehren versucht. Und irgendwo in der Mitte des Balkans scheint man bereits das Niemandsland zwischen Westen und Osten einzurichten. Mit einer chinesischen Brücke zum kroatischen Pelesjak.
In der Tat: China hat sich wirtschaftlich über den gesamten Globus "verirrt", es baut und investiert auf allen Kontinenten.
Indes Russland sich lediglich aus militärischen und politischen Gründen nach Arabien und Afrika verirrt zu haben scheint. Worin ihm die neue osmanische Türkei bekanntlich nacheifert.
Diesen Entwicklungen scheint eine nicht unwesentliche Frage vorgeschaltet zu sein: Welche neue Symbiose von Pakten wird der neue antiwestliche Osten errichten, nachdem das Ende der Pax americana ein Vakuum hinterlassen hat, das EU-Europa nur schwerlich mit neuer Machtsubstanz wieder füllen kann?
Wird man einander beistehen, wenn sich der Westen, in Sicht des Ostens, anschickt, einen neuen Happen zu holen? Heute die Ukraine, morgen Taiwan: Zwei Happen, die nicht willig zu sein scheinen, ihr stolzes Haupt unter das Schafott ihrer "Befreier" aus dem Osten zu legen.
Aufschaukelung und Trauerspiel
Und Europa und der Westen? Immer nur zusehen, um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden, wie die offizielle NATO-Doktrin zur Stunde lautet?
Es sind schauerlich lange Perlenketten peinigender Fragen, die sich am Horizont der nahen Zukunft zeigen. In waffengemütlicheren Epochen hätte man noch das berühmte "Damoklesschwert" bemüht. Ein vernichtender Raketenschirm ist das endgültige Gegenteil von Schirm und Regen.
In Europa und auch in den USA ist man nun vielfach der Meinung, schon früher hätte man Putins wahre Absichten, die jetzt auf totale Konfrontation gehen, erkennen müssen. Aber diese Meinung ist ebenso kursichtig wie ihre Voraussetzung, wonach Putin-Russland schon in den 1990er Jahren einen antiwestlichen Kurs beschlossen, diesen aber aus taktischen Gründen verheimlicht hätte. Eine angstgezeugte Meinung, die überdies den Grundsatz aller Gourmands vergisst, der auch für das politische Machthandeln gilt: Mit dem Essen kommt der Appetit.
Die erwähnten Sieges-Ereignisse von 2008 und 2014, denen sich ähnliche kleinere anfügen ließen, mussten im neuen Russland die Überzeugung nähren, in der Geschichte des 21. Jahrhunderts zu neuer Größe berufen zu sein. Alles politische Denken lebt durch und von "Aufschaukelung", und wenn sich nach geraumer Zeit oder manchmal auch rasch (man denke an Merkels Furcht vor "schlechten Bildern" im Jahr 2015), in den Entscheider-Eliten eine mehrheitsfähige Meinung als einzig richtige durchgesetzt hat, verlässt der Postzug der Macht seinen Bahnhof. Die Aufschaukelung des putinistischen Denkens zur jetzigen (Überfalls-)Größe muss sich durch lange Jahre entwickelt haben, manchmal zweifelnd, dann wieder überzeugt, am Ende vollkommen überzeugt.
Auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, der nicht, wie vielfach erwartet, nur den Donbass "befreien" soll, reagiert die russlandfeindliche Ukraine extrem heldenhaft – zur Beschämung der bislang putinfreundlichen Ampelparteien in Berlin. EU und NATO reagieren hingegen extrem passiv und asymmetrisch. Während Russland in der Ukraine auf alles schießt, was sich bewegt, schießen Europa und die USA auf russische Devisenreserven und Bankkonten und verfügen Handelsbeschränkungen samt Einfrierung oligarchischer Vermögen auch im Westen. In der Hoffnung, ein massenmörderischer Krieg werde durch ausgetrocknete Finanzierung erlahmen. Allerdings schickt man mittlerweile auch wirkliche Waffen, nachdem 5000 gebrauchte deutsche Helme eher an den einstigen Komikerberuf des ukrainischen Präsidenten gerichtet schienen: etwas zum Lachen und Totlachen im nicht normalen Sinn.
Der Westen (USA, NATO, EU und EU-freie Staaten Europas) weiß mittlerweile, dass er durch Sanktionen wirtschaftlicher und politischer Art weder einen Überfall Russlands auf die Ukraine verhindern hat können, noch Russland zu einem baldigen Rückzug aus der Ukraine bewegen wird.
Folglich muss er auf den bewährten Tropfen Zeit setzen, der noch jedem Stein irgendwann ein zersetzendes Loch beschert hat. Wann, wie und wo genau sich dieses Loch und der Beginn der Zersetzung auftun wird, ist naturgemäß unvorhersehbar. Aber diese Ungewissheit ist nun das (wackelige) Fundament aller Entwürfe künftiger "Szenarien" – der bekannte Tummelplatz aller Experten und Gegenexperten. Eine für Journalisten unerschöpfbare Quelle für Meinungen und Gegenmeinungen. Und für den Aggressor der Anbruch ewiger Verhandlungen, die seinen "Friedenswillen" täglich neu unter Beweis stellen.
Tobt auch ein menschenverachtender Vernichtungskrieg gegen den Nachbarn Russlands (und einstigen Gründers der Heiligen Rus zu Kiew), an den Verhandlungstischen wird darüber lediglich in Namen und Zahlen gesprochen. Dort die Realität, hier die Abstraktion von der Realität: das übliche Trauerspiel des immerwährenden politischen Menschheitsjammers.
Welche "roten Linien"?
Aber die Ungewissheit im realen Szenario der aktuellen Stunden ist noch weit größer: Niemand weiß, ob der Appetit des Aggressors gestillt wurde, ob für längere Zeit oder nur kurzfristig. Vorerst gratuliert er sich zum Mut, den er sich und der Welt bewiesen hat. Er hat gewagt zu begehen, was man im Westen einen "Zivilisationsbruch" nennt. Er hat einen neuen Anfang gesetzt, der ihm Anhänger in Massen zuführen wird. Ob genügend viele, wäre die nächste der unbeantwortbaren Szenario-Fragen.
Russland beklagt das feindliche Vordringen des Westens nach Osten, dieser habe mit unverzeihlicher Frechheit einige "rote Linien" überschritten. Vor allem diese: Die Ukraine wollte Mitglied der NATO und der EU werden, ein für Russland unannehmbares Projekt.
Bekanntlich gibt es unter den "Experten" viele, die gern und oft "aus der Geschichte lernen". Sie geben nun Russland recht: die Ankunft westlicher Freiheitsideen in der Ukraine sei "dasselbe" wie die Stationierung russischer Waffen auf Kuba im Jahr 1962. Damals musste sich Russland zurückziehen, heute soll sich der Westen zurückziehen, um den "Weltfrieden" nicht zu gefährden.
Wenn aber schon die Ukraine rote Linien überschritten hat, was haben dann Polen und die drei baltischen Staaten (um von den anderen Staaten des ehemaligen "Warschauer Paktes" zu schweigen) getan? Sie sind schon seit einigen Jahren NATO- und EU-Mitglieder. Verständlich, dass sie nun um ihre freie Zukunft bangen und hoffen, dass NATO und EU nicht aufhören, ihren "Vorstoß" in den Osten fortzusetzen.
Es ist wie beim Zusammenstoß zweier Kontinentalplatten: Welche wird sich unter die andere schieben, welche wird mehr oder weniger Erdbeben, Verwerfungen und "Klimakatastrophen" verursachen? Irgendetwas scheint das beliebte "Aus-der-Geschichte-Lernen" noch nicht gelernt zu haben.
Groß ist noch ein anderer Katzenjammer im Westen. Wer noch nach 2014, als die EU ein Embargo über Waffendeals mit Russland verhängt hatte, weiterhin mit dem Hegemon im Osten dealte (unter anderem Deutschland, Italien, Frankreich und andere mit beträchtlichen Gewinnsummen) muss sich jetzt den Vorwurf machen, Russlands Krieg in der Ukraine gefördert und vorfinanziert zu haben. Aber Verträge sind Verträge, lautete die Entschuldigung - bis vor kurzem.
Besonders betrübt zeigt sich die Friedensmacht Europa über den anachronistischen Verlauf der Geschichte an Europas Ostgrenze. Dass eine Großmacht einem benachbarten Staat dessen Existenzrecht einfach absprechen kann, das war zu Kolonialzeiten und noch im 19. Jahrhundert möglich und politisches Brauchtum, aber am Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint es uns wie ein Rückfall in eine längst überwunden geglaubte Barbarei. Als würden die Uhren in Europa um mehr als hundert Jahre zurückgestellt.
Auf in die Steppe
Auch sind die russischen Spiele der Verstellung, die man vorführte, um die Sympathisanten im Donbass als "unabhängige Kräfte" zu schützen, oder auch die Ansammlungen "grüner Männchen", die auf der Krim gesichtet worden waren, um die Besetzung der Halbinsel vorzubereiten, Vergangenheit. Ein gesichtswahrendes Visier wird nicht mehr benötigt.
Im Westen werden auch Serbiens Überfälle auf dem Balkan als beschwichtigende Vergleichsbeispiele aufgeboten, aber das putinistische Russland ist Serbien zur dritten Potenz.
Wie konnte es dazu kommen, fragen nun die EU-Staaten Osteuropas, warum haben uns unsere europäischen Brüder und Schwestern im Westen nicht geglaubt, als wir warnten und dies durch viele Jahre? Auf welchem Planeten habt ihr gelebt? Die Antwort wäre wie gehabt: auf demselben, auf dem wir auch heute noch leben: Friedensplanet ist sein Name.
In Deutschland gab man sich der Illusion hin, die riesigen Einnahmen aus Russlands Öl- und Gasgeschäften würden einer demokratischen Entwicklung zugutekommen, ein Zwilling der liberalen Marktwirtschaft des Westens würde im Osten entstehen.
Stattdessen wiederholte sich eine ferne Analogie zum erneuten Aufbau Deutschlands zur Militärmacht nach dem Ersten Weltkrieg. Der militärisch-industrielle Komplex wurde gefördert, alles andere wurde den korrupten Milieus zahlloser Oligarchien ausgeliefert. Nicht zufällig wird nun eine "Demilitarisierung der Ukraine" gefordert – man weiß, wie sich das Feuer nennt, von dem man lebt.
Doch haben besonders kluge Experten den wahren Schuldigen und Urheber des Krieges in der Ukraine längst schon ausfindig gemacht. Es waren (wieder einmal) die Amerikaner, nur dass sie diesmal in besonders perfider Weise die NATO und auch die EU als Mittel für höhere Zwecke benutzen. Um nach dem Ende der Pax americana einen Neustart zu versuchen? Mitnichten – um mit Russland zugleich auch China im Ringen um die künftige Weltherrschaft in die Knie zu zwingen. So träumt und phantasiert es sich auf einem Friedensplaneten namens Europa.
Die russische Paranoia muss natürlich einen objektiven Grund haben: Vor nichts fürchtet sich der Paranoiker nicht. Dass er sein Objekt der Furchtbegierde maßlos übertreibt, ist Teil seiner Krankheit, seines Verfolgungswahns usf. Letztlich fürchtet er um seine ganze Existenz, der Geruch einer anderen Freiheit bringt ihn um den Verstand.
Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.