Der Aachener Friedenspreis geht im Jahr 2013 an drei Schulen, die der deutschen Bundeswehr den Zutritt für Informationsveranstaltungen im Unterricht verwehrt haben. "Wir wollen nicht, dass sich die Bundeswehr als friedensschaffende Kraft anpreisen kann", begründet eine der geehrten Bildungseinrichtungen, die Käthe-Kollwitz-Schule in Offenbach, ihre Motivation, die Bundeswehr vor die Tür zu setzen. 2019 fordert die Berliner SPD unter dem Slogan "Für Töten und Sterben macht man keine Werbung" ein generelles Verbot der Bundeswehr an Berliner Schulen.
Das politmediale Establishment und das neulinke, woke Bürgertum verachtet das Militär und glaubt, seinen Schutz nicht mehr zu benötigen. In ihrer Gender-Öko-Multikulti-Idylle löst man Konflikte mit Dialog, Integration, Frauenpower und Sesselkreisen. Die Bundeswehr ist in diesem Milieu ein Sinnbild toxischer Männlichkeit: Gewalt, Waffen, Mut, Ehre, Patriotismus etc. Das Militär verkörpert, was politisch Korrekte verachten. Entsprechend sah die deutsche Verteidigungspolitik der vergangenen Jahre aus. Die Bundeswehr wurde gezielt und systematisch kaputtgespart. Kritik und Widerstand dagegen gab es kaum. Es herrschte diesbezüglich ein breiter Konsens in Politik und Gesellschaft.
Man war sich weitgehend einig, dass aus diesem anachronistischen Männerbund eine woke, gendergerechte Multikulti-Truppe werden müsse. Die ursprünglichen Funktionen und Aufgaben einer Streitkraft sind unter solchen Rahmenbedingungen in Vergessenheit geraten. Es ist in Deutschland und Europa Usus geworden, Frauen ohne militärische Ausbildung und Erfahrungen zu Verteidigungsministerinnen zu machen. Sie sollen die Truppe nach ihrem Ebenbild – weiblich, sanft, konsensorientiert, sozial etc. – umbauen. Gleich mehrfach kritisierte US-Präsident Donald Trump in den Jahren 2018 und 2019, dass Deutschland zu wenig für seine Verteidigung aufwenden würde. Dafür wurde er vom deutschen Mainstream verhöhnt und geprügelt.
Seit dem 24. Februar 2022 ist alles anders. Von einem Tag auf den anderen. SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz setzt nun wie selbstverständlich um, was Trump gefordert hatte. Die ehemalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die an der Zersetzung der Bundeswehr führend beteiligt war, twitterte nach Kriegsbeginn: "Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben." Sie beklagte öffentlich den katastrophalen Zustand der "Parlaments"-Armee, für die sie selbst verantwortlich war. Immerhin, AKK gehört zu den wenigen Angehörigen des politmedialen Establishments, die zumindest – wenn auch nur halbherzig – eigene Fehler und Versäumnisse einräumten.
Der Krieg direkt vor der EU-Außengrenze hat etwas Unruhe in den woken Ponyhof gebracht. Plötzlich sind die Lieblingsthemen der Linken, die ansonsten die Medien und öffentlichen Debatten beherrschen, in den Hintergrund getreten. LGBT-Rechte, Veganismus, Unisex-Toiletten, Blacklivesmatter, intersektionaler Feminismus, Klimaapokalypse etc.
Wenn die Realität die geschützten Räume der Linken – Medien, Universitäten, Bobo-Bezirke, Kultur und das NGO-Wesen – bedroht, fällt es den Bewohnern zunehmend schwerer, sich mit ihren selbst erdachten Scheinproblemen auseinanderzusetzen. Wenn ein realer Krieg vor der Tür des Gutmenschen-Biotops ausbricht, erinnern sich sogar Klimakinder, Feministinnen und all die anderen Geschöpfe, die dieses dekadente System hervorgebracht hat, wofür man Soldaten braucht.
Plötzlich steht auch für Feministinnen, Genderisten und Menschen, die behaupten, Geschlechter seien nur soziale Konstrukte, außer Frage, dass Männer, die echten, in den Krieg zu ziehen haben, um Frauen, Kinder und eine ganze Nation zu schützen. Reale Bedrohungen lassen neulinke Träume und Utopien schnell verdampfen. Keine Emanze stößt sich daran, dass ukrainische Männer ihr Land nicht mehr verlassen dürfen, selbst jene nicht, die sich plötzlich als Frau oder "trans* Mensch" oder "genderfluide" Person fühlen. Solche Überlegungen sind vor dem Hintergrund realer, existenzbedrohender Umstände – und das scheinen auch die von dem Mainstreammedien abgestumpften Gutmenschen zu erkennen – völlig absurd, pathologisch und infantil.
Mit ideologischen Hirngespinsten und abgehobenen Utopien, die die menschliche Natur und historische Erfahrungen leugnen, lassen sich reale Bedrohungen nicht bewältigen und schon gar nicht kriegerischen Auseinandersetzungen. Das scheint ein Teil der Linken in Ansätzen begriffen zu haben.
Weil angesichts des Ukraine-Kriegs und der deutschen Energiewende Blackouts, Rekordpreise und Versorgungsengpässe zur realen Gefahr geworden sind, hat sich auch das Image der sogenannten Prepper, also Menschen, die sich aus eigenem Antrieb auf Notsituationen vorbereiten, in Politik und Öffentlichkeit gewandelt.
Als im Jahr 2018 der damalige österreichische Innenminister Herbert Kickl mit Behörden, Militär und Blaulichtorganisationen eine bundesweite Blackout-Übung durchführte, machte sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk darüber lustig. Man unterlegte einen Beitrag in den ORF-Abendnachrichten mit dem Schlager "Stell dir vor, es geht das Licht aus". Die Gefahr eines Blackouts war für die linken Redakteure nur ein Witz. Alle, die sich ernsthaft auf solche Bedrohungsszenarios vorbereiten, waren für sie Paranoiker, Rechte, Wirrköpfe, gar Staatsfeinde.
Vor wenigen Tagen brachte der ORF eine TV-Doku, in der solche "Irre" plötzlich als normale Bürger präsentiert wurden. Der linke Staatsfunk erklärte den Österreichern, als hätte er es immer schon gewusst und propagiert, wie sie sich auf einen solchen Ernstfall vorbereiten können und sollen. Was der ORF noch im Jänner als rechts und staatsfeindlich einordnete, wurde über Nacht zur Bürgerpflicht.
Plötzlich jubeln die Linken in Politik und Medien sogar den kämpfenden Patrioten und mutigen Nationalisten in der Ukraine zu, obwohl dieselben Menschen schon beim Anblick einer aufgezogenen deutschen oder österreichischen Fahne ein mulmiges Gefühl bekommen und an Faschismus und Nazis denken müssen, für die Patriotismus und Nationalstaat nur Vorstufen zu Faschismus und Völkermord sind. Sogar Telegram-Gründer Pawel Durow wird von den deutschen Mainstreammedien derzeit als Held gefeiert, weil sein Messenger-Dienst für die Ukrainer im Krieg eine wichtige Rolle spielt. Es sind dieselben Medien und Politiker, die kurz zuvor Telegram den Kampf angesagt haben, ihn sogar verbieten wollten, eben weil der Messengerdienst allen zensurfrei zur Verfügung steht.
Das linke Narrativ und Weltbild hat Risse bekommen. Die Pazifisten von gestern fordern heute wie selbstverständlich die Aufrüstung der Bundeswehr, die Genderisten und Feministen vertrauen auf die Kampferfahrung von Männern und die linken Staatsgläubigen setzen auf Eigeninitiative und lagern Mineralwasser und Trockennahrung im Keller ein.
Hat der Ukraine-Krieg tatsächlich zu einem breiten Umdenken, einem politischen Paradigmenwechsel, zur Renaissance von Hausverstand und Vernunft geführt? Oder ist es nur ein Strohfeuer? Wird alles wieder vergessen sein, sollte sich die Lage in der Ukraine normalisieren? Wird gar ein Backlash, ein massiver Linksruck einsetzen, wenn sich herausstellt, dass die russische Armee bei weitem nicht so mächtig und kampfstark ist, wie man lange Zeit angenommen hat?
Erleidet Putin eine Niederlage, ist aus EU-Sicht die Bedrohung aus dem Osten gebannt, kann man nicht nur wieder zur Tagesordnung übergehen, sondern seine linke Politik, seine Anstrengung beim Umbau der westlichen Gesellschaft sogar intensivieren.
Zweiteres scheint wahrscheinlicher. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck hält ohnehin trotz explodierender Strom- und Gaspreise, trotz drohender Energieknappheit an der völlig irrationalen Energiewende fest, die nur ein Vorwand für die Etablierung der Planwirtschaft ist. Auch gegen die Pläne von Bundeskanzler Scholz, mehr in die Bundeswehr zu investieren, regt sich innerhalb der SPD und seitens der Grünen Widerstand.
Die Linken aller Parteien wünschen sich, so schnell wie möglich wieder in ihre von der ungemütlichen Realität abgekoppelten Blasen zurückzukehren, um sich wieder mit ihren selbsterdachten Problemen auseinandersetzen zu können. Eines haben die vergangenen Tage deutlich gezeigt: Auf der Ebene der Sachpolitik fühlen sich Linke mangels Wissen, Kompetenzen und Motivation unwohl. Die Mühen der Ebene sind ihre Sache nicht.
Sie fühlen sich zu Höherem berufen, wollen das Klima und die Dritte Welt retten, die Menschheit in lichte Höhen führen. Das Funktionieren einer Gesellschaft oder die Aufrechterhaltung einer komplexen Infrastruktur interessiert sie indessen nicht. Doch ihre heile Welt wird nicht so sehr von Putin und dem Ukraine-Krieg bedroht. Eine andere, von den Linken konsequent ignorierte bzw. unterschätzte Gefahr ist für Europa eine viel größere Bedrohung: die Inflation mit all ihren Folgen, wie Massenarbeitslosigkeit, Zerstörung des Mittelstandes, soziale Unruhen etc.
Wenn der Euro nur noch eine Schrottwährung ist und die Preise durch die Decke gehen, werden die Linken einmal mehr völlig überrascht und unvorbereitet sein. Die Inflation, die die Eurokraten und Linken mit ihrer expansiven Geldpolitik zu verantworten haben, wird die Scheinwelt der Gutmenschen in ihren Grundfesten erschüttern und den Ukraine-Krieg und Putin weit in den Schatten stellen.
Werner Reichel ist Autor und Journalist. Er hat zuletzt das Buch "Europa 2030 – Wie wir in zehn Jahren leben" bei Frank&Frei herausgegeben.