Die gegenwärtige Lage ist wirklich ernst, eine Stunde der Wahrheit für die gesamte Welt, den Westen, speziell für Europa: Anlass dieses Kommentars war nicht zuletzt ein zutiefst beunruhigender Text aus dem "Guardian" (bzw. den "Lesetipps" dieses Tagebuches). Unter anderem ist in dem Artikel davon die Rede, dass der Einsatz von Atomwaffen lange Zeit ein Tabu war, noch immer ist – und dass es äußerst folgenschwer wäre, dieses Tabu jetzt zu brechen. Mit diesem Argument ließen sich vielleicht auch jene überzeugen, die derzeit für ein prinzipiell hartes Vorgehen gegenüber Wladimir Putin eintreten: Bewahren wir also dieses Tabu - nicht zuletzt in Hinblick auf Nordkorea, Pakistan/Indien, Iran usw.
In eine ähnliche Kerbe schlägt Christian Rieck in seinem Spieltheorie-Podcast: "Sanktionen können das Gegenteil bewirken: Wenn es nicht gelingt, dass dem Aggressor die Luft ausgeht, dann schaffen sie sogar einen Anreiz, seinen Krieg auszudehnen, auch auf andere Länder." Denn dann müssen die Missetaten so lange zunehmen, bis der Missetäter wieder in einen für ihn "positiven Bereich" kommt! (Denn wenn die Missetaten immer weiter zugenommen haben, kommt irgendwann wieder ein Punkt, an dem sich der Feldzug auszahlt – sozusagen ein "Break-Even"-Punkt.)
Die Invasion Russlands in der Ukraine war von vielen rational denkenden Strategen nicht erwartet worden. Und das ist insofern ein Problem, als es zeigt, dass Russland bis zu einem gewissen Grad zu irrationalem Handeln bereit ist. Umso wichtiger wäre es jedoch, dass der Westen, ja die gesamte Welt, darauf nicht ebenfalls mit Irrationalität antwortet.
Alles, was bereits geschehen ist, ist geschehen – kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden. So schlimm dies, vor allem für die in schrecklicher Weise betroffene Bevölkerung in der Ukraine, auch ist. Doch selbst wenn man sagen möchte: "Was können die armen Menschen in der Ukraine dafür, dass die restliche Welt nicht in diesen Konflikt hineingezogen werden möchte", dann muss man auch antworten: Was haben diese Menschen davon, wenn alle in den Konflikt hineingezogen werden?
Daher sollte es eigentlich in erster Linie darum gehen zu verhindern, dass weiterer Schaden entsteht! Nicht die "Bestrafung aller Schuldigen" sollte daher oberste Priorität haben – sondern die Verhinderung (potenziell unermesslichen) weiteren Leidens großteils unschuldiger Menschen.
Verhandlungsprofis, Spieltheoretiker oder auch Verhandlungsexperten bei Geiselnahmen haben einige wesentliche Leitlinien: Man sollte das Gegenüber (selbst wenn es sich um einen Kapitalverbrecher handeln sollte) niemals dämonisieren; man sollte sich stattdessen so gut wie möglich in dieses Gegenüber hineinversetzen und versuchen, zumindest auf irgendeiner Ebene eine Gesprächsbasis, ja sogar eine gewisse Empathie, ja sogar einen gewissen, möglichst gegenseitigen, Respekt zu etablieren. Hier werden einige sagen: Ja, aber vor dieser oder jener Person kann und darf man doch keinen Respekt haben. Doch dann muss wieder darauf verwiesen werden, dass es wichtiger sein sollte, weiteres Leid, noch größeren Schaden zu verhindern – als den vermeintlichen Übeltäter seiner "gerechten Strafe" zuzuführen.
Aktuelles Beispiel: Wladimir Putin. Hier drängt sich eine gewisse Parallele zu Saddam Hussein auf. Im ersten Golfkrieg hatte Vater George Bush einen Auftrag durch die UNO, Kuwait von den irakischen Invasoren zu befreien. Er wurde dabei sogar von syrischen und saudi-arabischen Streitkräften unterstützt. Als das Ziel erreicht war, zogen die Amerikaner und ihre Alliierten wieder ab. Saddam Hussein blieb etwa zwölf weitere Jahre an der Macht.
Dafür wurde George Bush sen. oft kritisiert. Doch letztlich muss man sagen, dass es der irakischen Bevölkerung während jener Jahre wohl weit besser gegangen ist als nach der späteren Invasion durch George Bush jun. Abgesehen davon, dass es mittlerweile außer Streit stehen dürfte, dass es die "Massenvernichtungswaffen", die den Vorwand für die amerikanischen Angriffe und den Einmarsch lieferten, gar nicht gegeben hat.
Dem jüngeren Bush gelang es zwar letztlich, Saddam Hussein zu entmachten, gefangen zu nehmen – und letztlich auch hinzurichten. Doch im Zuge der Auseinandersetzung wurden manche Berichten zufolge bis zu einer Million irakische Zivilisten getötet; das halbe Land zerstört; die Entstehung des "Islamischen Staates" begünstigt. Was letztlich zusätzlich noch dramatische Folgen für die gesamte Region – speziell Syrien – hatte und überdies eine Flüchtlingswelle und die drastische Zunahme terroristischer Aktivitäten verursachte. Die Amerikaner hingegen zogen schließlich wieder ab, ohne nennenswerte Erfolge erzielt zu haben.
Der Vergleich zu Ukraine hinkt natürlich insofern, als es wohl kaum gelingen wird, Putin zu einem totalen Rückzug aus der Ukraine zu bewegen – egal mit welchen vertretbaren Mitteln. Dennoch gibt es viele Parallelen: Natürlich kann man hoffen, dass immer drastischere Sanktionen gegenüber Russland irgendwann dazu führen, dass Putin von der eigenen Bevölkerung oder seinem eigenen Umfeld gestürzt wird. Doch dies ist keineswegs gewiss und kann zumindest sehr lang dauern.
Denn vorerst wäre wohl eher damit zu rechnen, dass es zu immer brutaleren Repressalien des russischen Regimes gegenüber allen kritischen Stimmen in der eigenen Bevölkerung kommt. Und das bedeutet fast notgedrungen, dass nicht nur die ukrainische Bevölkerung unglaubliches Leid ertragen müsste, sondern dass auch viele unschuldige Menschen in Russland sehr unter den Konsequenzen der Auseinandersetzung zu leiden hätten – ganz abgesehen davon, dass auch in Europa und der restlichen Welt der humanitäre, politische und ökonomische Schaden gigantisch wäre!
Die einzig wirkliche Alternative wäre – paradoxerweise – Putin ganz bewusst die Möglichkeit zu eröffnen, bis auf weiteres an der Macht zu bleiben. Man böte ihm damit sozusagen ein "Exit Szenario". Denn nichts ist gefährlicher als ein mächtiger, unberechenbarer Gegner, der so gut wie nichts mehr zu verlieren hat. Es ist geradezu von existenzieller Bedeutung, dass für Putin selbst (in jeder Phase der Konfrontation) etwas auf dem Spiel steht; dass er also noch etwas zu verlieren hat.
Von der eigenen Bevölkerung gestürzt oder ermordet zu werden – oder aber auch im In- oder Ausland vor ein Gericht gestellt zu werden – und dann den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen, wären hingegen alles Perspektiven, angesichts derer der Kreml-Chef im Grunde nichts mehr zu verlieren hätte. Weshalb er dann zum Äußersten schreiten könnte. Dies gilt es daher um praktisch jeden Preis zu verhindern.
Wirklich gewinnen kann Russland wohl weder den Krieg gegen die Ukraine, noch (viel weniger) einen Krieg gegen die NATO, ja praktisch den Großteil der Welt.
Doch dies ist nicht unbedingt ein Vorteil! Denn das Zerstörungspotenzial, das dem russischen Präsidenten zur Verfügung steht, ist gigantisch. Und es ist nun einmal leider viel einfacher, zu zerstören und zu vernichten, als konkret etwas zu gewinnen.
Es hätte daher dringlichste Priorität, Putin genügend Zugeständnisse zu machen, um ihn zu einer Verhandlungslösung zu bewegen. Diese müsste ihm sowohl erlauben, sich vorläufig im eigenen Land an der Macht zu halten, einige seiner Kriegsziele zu erreichen – als auch, wenn auch zähneknirschend, von der restlichen Welt weiterhin als Anführer Russlands akzeptiert zu werden.
Dies mag eine sehr bittere Pille sein. Im Vergleich zu einem Atomkrieg, ist sie jedoch zuckersüß. . .
Jetzt kann man natürlich sagen: Es wird doch keinen Atomkrieg geben! Selbst im Kalten Krieg hat das gegenseitige Abschreckungspotenzial die Kontrahenten letztlich davon abgehalten, ihre vernichtenden Waffen auch einzusetzen. Damals hatten allerdings beide Seiten sehr viel zu verlieren.
Und ja, ein Atomkrieg ist zum Glück wohl immer noch nicht sehr wahrscheinlich. Er wäre allerdings so folgenschwer, dass auch eine relativ geringe Wahrscheinlichkeit, absolut unannehmbar sein sollte. (Vad Vexler, israelischer Podcaster mit russischer Abstammung, meinte: Putin will keinen Atomkrieg.) Was er allerdings wollen könnte, wäre eine Erhöhung der – dann immer noch geringen – potentiellen Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, um dadurch strategische Ziele zu erreichen.
Man überlege sich doch einmal folgendes Szenario: Wenn Russland eine "kleine" taktische Atomwaffe in der Ukraine (oder auch in einem der benachbarten NATO-Staaten) einsetzt – was wird dann passieren? Kein europäisches Land östlich des Rheins besitzt eigene Atomwaffen. Man wäre also gegenüber einer russischen Streitmacht, die ihre Bereitschaft dokumentiert hat, taktische Atomwaffen einzusetzen, praktisch machtlos. Dies hätte möglicherweise einen ähnlichen Effekt, wie die beiden zum Glück bisher einzigen Atomwaffeneinsätze der Geschichte, in Hiroshima und Nagasaki: die Kapitulation der Gegner.
Denn wohl kaum jemand könnte sich in so einem Fall wünschen, dass die USA (oder auch Frankreich oder Großbritannien, die beiden einzigen europäischen Atommächte) dann ihrerseits russische Streitkräfte in der Ukraine oder in Osteuropa mit Atomwaffen angriffen. Denn dies würde die Katastrophe ja nur noch verschlimmern. Andererseits ist es aber auch schwer vorstellbar, dass eine andere Atommacht Russland auf dessen eigenem Territorium angreift. Denn dies hätte wohl unweigerlich zur Folge, dass jenes Land dann selbst von Russland in dessen eigenem Terrain mit ähnlichen oder sogar schlimmeren Waffen attackiert werden würde.
Gerade ein im eigenen Land und fast der ganzen Welt unter erheblichem Druck stehender Führer, der mit dem Rücken zur Wand steht, könnte versucht sein, dieses Risiko einzugehen. Er würde dabei wohl nicht wirklich etwas gewinnen, aber er könnte seinen Untergang vielleicht hinauszögern.
Atomwaffen sind eine gefährliche Sache. Das weiß nicht zuletzt auch der nordkoreanische Machthaber Kim Jong-un. Letztlich bleibt der gesamten Welt nichts anderes übrig, als ihn als Führer seines Landes zu akzeptieren. Donald Trump hat ihn deshalb sogar getroffen.
Natürlich kann man sagen, dass der Ukraine großes Unrecht geschehe, dass die Zivilbevölkerung unendlichem Leid ausgesetzt sei, dass es einfach überhaupt ein himmelschreiendes Vergehen sei, ein Nachbarland einfach zu überfallen. Doch dies ist alles bis zu einem gewissen Grad bereits geschehen.
Und auch wenn es einem nicht gefällt: Daran ist nicht nur Russland allein schuld (schon allein deshalb, weil fast nie in der Geschichte ein Land, eine Person, ein Regime ganz allein für eine Entwicklung die Verantwortung getragen hat) – es sind auch Europa, die NATO, nicht zuletzt aber auch verschiedenste Kräfte in der Ukraine für den gegenwärtigen Zustand mitverantwortlich.
Vor allem aber steht möglicherweise die Schuld für das bereits Geschehene in absolut keiner Relation zur möglichen Schuld für all das, was noch geschehen könnte . . . Daher müsste ab sofort – global und historisch gedachte – Schadensbegrenzung im Mittelpunkt stehen. Die gegenwärtige Lage hat leider katastrophales Zerstörungspotenzial. Und gerade wenn man sagt, Putin sei ein Verbrecher: Dann kann man doch nicht gleichzeitig erwarten, dass er sich wie ein Gentleman benimmt. Und überdies könnte man sich noch an ein Goethe-Zitat erinnern: Wer die Menschen behandelt, wie sie sind, macht sie schlechter. Wer sie hingegen behandelt, wie sie sein könnten, macht sie besser.
Wie man es also dreht und wendet: Deeskalation, Deeskalation, Deeskalation, lautet das Motto der Stunde. Nicht um Schuld und Moral sollte es gehen; nicht um Sühne für all das bereits unwiderruflich Geschehene; sondern ausschließlich um Schadensbegrenzung für die Zukunft! Es geht hier nicht um eine einzelne Person, eine bestimmte Ideologie, auch nicht um Rache, sondern darum, eine immer weniger unwahrscheinlich werdende Katastrophe zu verhindern.
Als mehr oder weniger machtloser Beobachter kann man nicht viel mehr tun als zu hoffen, dass jetzt sehr schnell einige der Akteure den Ernst der Lage erkennen – und dabei auch bereit sind, über ihren eigenen Schatten zu springen.
Christoph Bösch ist freier Publizist in Wien