Der Katarakt: Wie uns im Gefolge von Putins Invasion ein kleiner Dritter Weltkrieg droht

Am Mittwoch, 16. Februar, hätte nach US-Erkenntnissen der Auftakt für eine russische Invasion der Ukraine sein sollen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyi winkte ab: "Bitte keine Panik", Joe Biden aber brachte es auf den Punkt: "Wir sehen keine Anzeichen für einen Rückzug, vielmehr wird an allen Fronten verstärkt. Die in Russland ausgestrahlten Bilder von einem Rückzug sind der Versuch einer Täuschung!" Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ein Norweger, sekundierte mit Zahlen: "Russland hat die Grenze von Weißrussland nach Süden mit 7000 Mann verstärkt, gegenüber dem Donbass wurden zusätzliche 3000 in Stellung gebracht. Jetzt haben wir bereits 190.000 Mann rund um die Ukraine angriffsbereit. Und wir vermuten, dass Putin einen Anlass finden will, um loszuschlagen."

Der Anlass kam postwendend im Donbass: Artillerie feuerte auf ukrainische Stellungen, ein Auto wurde vor der Separatistenregierung in die Luft gesprengt und eine Granate zerstörte einen Kindergarten. Zugleich wurde gemeldet, dass begonnen wurde, 700.000 Menschen aus den von Russland beanspruchten Ostprovinzen der Ukraine, Lugansk und Donezk, nach Russland zu evakuieren. Und CNN berichtet von der Einrichtung von Blutbanken für die russische Armee in Grenznähe. Putin verkündete wiederum, dass ab 19. Februar nukleare Bestandteile seines Arsenals getestet werden würden – auch in Weißrussland. 

Na bravo, dann kann es ja bald losgehen. Die Zeit drängt, der Frühling kommt heuer früher und der Frostboden wird gatschig. Nicht mehr so ideal für große Panzeroperationen.

Wie könnte das aussehen?

In einer großen Luftlandeoperation versuchen Spezialkräfte Zelensky und die ganze Regierung zu verhaften. Da hat man ja das Beispiel Prag im August 1968 vor Augen, als Parteichef Alexander Dubcek und Präsident Ludvik Swoboda von einer 500.000-Mann-Invasionsarmee nach Moskau entführt wurden, um dort nach Diktat die Bedingungen der sowjetischen Führung zu unterschreiben. Gleichzeitig mit dieser Aktion besetzen die russischen Verbände Lugansk und Donezk, während das russische Parlament – die Duma – per Eilbeschluss diese Provinzen annektiert. Zugleich rücken starke Kräfte der Invasoren bis zu 40 Kilometer auf das gesamte ukrainische Territorium vor, auch im Norden von Weißrussland her. Und, wenn es sein muss, auch von Transnistrien her (Republik Moldowa) nach Odessa.

Putin beschwerte sich wiederholt und lautstark über die Expansion der Nato in den früheren sowjetischen Machtbereich hinein. Das kann er ohnehin nicht rückgängig machen. Was ihn in den Knochen stört, ist der Verlust eines großen Bruderlandes und unmittelbaren Nachbars, der Basis für eine Demokratiebewegung in Russland werden könnte. Immerhin gab es demokratische Revolutionen in der Ukraine 2008 und 2013 – und jedes Mal hatte das eine Auswirkung auch auf Russland. Putin sieht dadurch zu Recht seine Macht bedroht. Er braucht einen Quisling in Kiew, nicht einen Komiker, der die Demokratie formal ausbaut und festigt. Biden hat den Russen zugerufen "Amerika ist nicht euer Feind!". Aber das glauben dort nur wenige. Putin hat einen Feind. Und das ist der Machtverlust durch Demokratie und NGOs.

Keine diplomatische Initiative kann diesen Knoten lösen. Putin sah, wie Biden über Nacht 2500 Truppen aus Afghanistan heimholte samt 46.000 einheimischen Mitarbeitern. Und dann sagte Biden noch in einem Anfall der Umnachtung, man würde über eine kleine Grenzkorrektur in der Ukraine reden können. Das, wovon er schon immer überzeugt war, hat sich bei Putin verfestigt. Boris Nemzow ist tot, hingemordet an der Kremlmauer. Alexei Nawalny im Gefängnis. Es ist Zeit für den großen Schnitt. Biden hat das begriffen. "Alea iacta est".

Die Welt kann nur zusehen, so wie 1968, alles andere könnte zu einem Atomkrieg führen. Die russische Bevölkerung wird durch westliche Sanktionen leiden. Aber Putin wird triumphieren. Er sieht sich seinem großen Ziel nahe – der Wiedererrichtung der Sowjetunion. Und er denkt an Leonid Breschnew, der schon 1969 wieder gern gesehener Gast auf der internationalen Bühne war. US-Präsident Biden allerdings schließt das aus. Seine Rede vom 18. Februar vermittelte kurz und bündig: "Putin hat sich für die Invasion entschieden. Er wird in der Weltpolitik für immer geschnitten werden."

Wird die Ukraine nach dem "Tag X" noch existieren? Sicher nicht in der heutigen Form. Aber von einer Marienerscheinung in dem ukrainischen Dorf Hruschiw hieß es am Höhepunkt der Perestroika: "Die Ukraine wird frei sein." 1987, 25. April: Fast genau ein Jahr nach Tschernobyl erschien die Heilige Maria im Dorf Hruschiw bei Lemberg. Sie zeigte sich über dem Glockenturm einer heruntergekommenen Kirche zuerst dem elfjährigen Mädchen Marina Kisyn, dann täglich bis zu 40.000 Menschen. Die Ukrainer waren das erste Volk, das sich im Jahr 1058 der Gottesmutter geweiht hatte. Maria bat um Gebet und Bekehrung, dann werde der Dritte Weltkrieg nicht ausbrechen. "Bald werdet ihr frei sein", versprach sie. Tschernobyl sei ein Zeichen für die ganze Welt. Sie sei gekommen, um den Ukrainern zu danken, denn sie hätten am meisten für die Kirche Christi gelitten. Das Leiden werde bald ein Ende haben. Die Menschen sollten Buße tun und einander lieben. Die Ukraine werde unabhängig werden. Die Dorfkirche von Hruschiw war seit 40 Jahren geschlossen. Sie war vor mehr als 130 Jahren wegen einer wundertätigen Marienikone und einem Brunnen mit angeblich heilendem Wasser schon einmal ein Wallfahrtsort gewesen. Als sich die Erscheinungen 1987 an den folgenden Tagen wiederholten, kamen trotz aller Sabotagen des damaligen kommunistischen Regimes bis zu 40.000 Pilger täglich. Fast alle wollen ebenfalls die Erscheinung in orangerotem und blauem Licht gesehen haben.     

Hat sich das "Frei sein" nur auf die damalige Situation bezogen? Mit Michail Gorbatschow wurde das Leben in der Sowjetunion freier. Am 1. Jänner 1992 verkündete schließlich Kiew die Selbständigkeit der Ukraine. Die UdSSR war passé, jetzt war man nur noch Mitglied in der lockeren GUS ohne militärischen Verpflichtungen. Gilt das heilige Wort aus Hruschiw auch für die heutige Situation? Es wird spannend sein, das zu sehen. 

Wie die Dominos fallen

Jedenfalls könnte die Invasion eines großen Landes Kollateralschäden zur Folge haben, beziehungsweise einen Domino-Effekt. Es gibt auch Beispiele aus den 30er-Jahren: Zuerst hat die Eroberung der Mandschurei durch Japans Militärregime und sein weiterer Vormarsch nach Nanking, Hongkong und Singapur Hitler seinerseits zu seinen Eroberungen ermutigt. Kaum hatte er Frankreich niedergeworfen, folgte ihm der Duce mit einem Vorstoß vom Aostatal ins alpine Frankreich, gefolgt von Besetzungen Albaniens, Griechenlands und Nordafrikas.

Es gibt aber auch ein modernes Beispiel: 1982 im Mai, England reagiert auf eine illegale Besetzung der Falkland-Inseln durch argentinische Streitkräfte mit einer ausgewachsenen Intervention von den Ascenion-Inseln aus. Beide Seiten versenken Kriegsschiffe. Die argentinische Militärdiktatur stürzt, der bellikose Aufmarsch von Chile, Bolivien, Peru, Ecuador und Venezuela wird zurückgenommen. Alle diese Länder hatten plötzlich Gebietsforderungen aus dem 19. Jahrhundert aus dem Hut gezaubert und sind mit hunderttausenden Truppen gegeneinander aufmarschiert. Zum Beispiel wollte nun Bolivien die Atacama-Wüste zurückhaben, und Peru gierte nach einem ölreichen Stück von Bolivien und Ecuador von Peru. Natürlich wollte Kolumbien Panama zurückhaben, das ihnen Teddy Roosevelt abgeluchst hatte. Und Honduras verlangte die früher britische Kolonie Belize zurück, und Venezuela Guayana. Der ganze Kontinent fand sich in heftiger Hysterie, solange argentinische Truppen auf den Falklands weilten. In dem Augenblick, zu dem die britischen Streitkräfte wieder den Union Jack in Stanley aufzogen und in Buenos Aires das Militärregime stürzte, sackte der kriegerische Aufmarsch in ganz Südamerika in sich zusammen. Schon im Juli 1982 herrschte vom Rio Grande bis Feuerland tiefster Friede – und hält bis heute.

Wie könnte das diesmal aussehen?

1.) Israel hat erst kürzlich verkündet, dass der Iran nur mehr zwei Wochen vor der Fertigstellung einer Atombombe stehe. Für diesen Fall hat Israel eine militärische Ausschaltung der Atomlabors angekündigt, und seit 20 Jahren trainiert die israelische Luftwaffe dafür. Das Drama der Ukraine könnte Jerusalem zu einem Erstschlag verführen. Und Saudi-Arabien würde da mitmachen. Vielleicht haben die IT-Techniker in Tel Aviv bereits einen Weg gefunden, die russischen SS-400-Abfangraketen elektronisch auszuschalten. Und die Israelis könnten versuchen – so wie Putin in Kiew – einen Regimechange in Teheran herbeizuführen. Zwar kommen aus Wien von US-Seite positive Töne, man sei einem Abkommen mit Teheran nahe, aber die Ukraine könnte das nun zunichte machen.

2.) Einer, der eben eine Reihe von Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen getestet hat, ist der nordkoreanische Diktator Kim jong-Il. Er dürfte inzwischen über mehr als zehn Atombomben verfügen. Wenn Kiew und Teheran brennen, könnte er seinerseits versucht sein, Südkorea zu erobern. Nach Computerübungen der US-Armee erreichen die Kohorten der 5-Millionen-Armee Pjöngjangs bei einem vollen Angriff Pusan ganz im Süden – gegenüber von Japan – in nur drei Wochen. Es ist das Mantra der Kim-Familie seit 1949, ganz Korea zu erobern. Mit Atomwaffen im Köcher hätte Kim jong-Il die Gewissheit, dass ihm niemand mehr bei einem Kriegszug in die Wäsche fahren kann.                                                                                                  

3.) Kurz vor Eröffnung der Winterolympiade in Peking erklärte Chinas Staatschef Xi Jinping, dass es nun Zeit sei, die renegate Insel Taiwan und seine 22 Millionen Einwohner heimzuholen. Fein, da können wir uns ja auf etwas gefasst machen. Zum Unterschied zur Ukraine verfügt Nationalchina über ein Sicherheitsbündnis mit den Amerikanern. Jeder Angriff auf die Insel wird die siebente US-Flotte auf den Plan rufen. Und so ein Flottenverband verfügt über eine größere Feuerkraft als alle Kriegsschiffe des Zweiten Weltkriegs zusammen. Aber – wenn russische Truppen die Ukraine stürmen und Israel den Iran enthauptet, und der kleine Nachbar vor Chinas Haustür Südkorea stürmt, worauf soll Peking dann noch warten? Genauso wenig wie Putin wird Xi eine lebendige Demokratie in seinem Vorfeld dulden.

Sollte sich dieser Katarakt im Gefolge von Putins Invasion ereignen, hätten wir eine Art kleinen Dritten Weltkrieg vor uns.                                                 

Paul Fischer ist langjähriger Redakteur, er hat mehrere Bücher geschrieben.

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