Es ist wahr: Mit Krieg und Gewalt droht das Friedensmodell EU-Europa weder einer globalen Macht, wie USA, Russland oder China, noch auch einer benachbarten Regionalmacht, wie Türkei, Iran oder einem arabischen Staat. Einzig gegenüber Israel scheinen manche in Europa gesonnen, die "Apartheid des zionistischen Regimes" "in ihre Schranken" weisen zu wollen. Eine vertraute Rhetorik, die unmittelbar verrät, wes unbelehrbaren Geistes Kinder diese israelfeindlichen Europäer sind. Erklären sie auch noch, es sei unverständlich, weshalb im Nahen Osten nur Israel Atomwaffen besitzen dürfe, wechseln sie von einem politischen Rhetorik- in einen weltpolitischen Denkfehler, der keiner Widerlegung bedarf.
Gravierend und extrem gefährlich ist das Friedensverhalten Europas gegenüber Russland und der Türkei, auch wenn ein Kriegsverhalten gegen diese beiden Mächte, das zuerst und zuletzt die NATO auszutragen hätte, noch gravierender und gefährlicher wäre. Im Fall der Türkei wäre zuerst deren Austritt aus ihrer (zwielichtigen und das Bündnis permanent blamierenden) NATO-Mitgliedschaft zu erledigen. Im Fall Russlands könnte ein russisch-ukrainischer Krieg rasch zu einer Ost-West-Konfrontation führen, der die EU nicht "von außen" (als unbeteiligte Friedensmacht) zusehen könnte.
Gleichwohl fürchtet Russland nicht die in sich vielfach gespaltene EU, sondern einzig die NATO, die angeblich immer weiter nach Osten vorrückt, um Russland (nach dem Kollaps von 1989) einen zweiten und endgültigen Todesstoß zu versetzen. Vor diesem Phantom hat Russland bekanntlich eine gezielte Paranoia entwickelt, an der es gegen alle rationalen Argumente von USA, NATO, EU-Europa und Nicht-EU-Europa krampfhaft festhält.
Je länger der Westen versucht, das russische "Missverständnis" aufzuklären und auszuräumen, umso intensiver verstärkt sich die russische Paranoia. Wir kennen die dazu passende Analogie aus dem Privatleben: Ein Arzt versucht, seinen "Patienten", einem krankhaften Hypochonder, zu überzeugen, dass seine behaupteten Krankheiten samt und sonders nicht existieren: Prompt wird sich dessen Überzeugung, im Schwitzkasten seiner Krankheiten zu schmoren, proportional steigern. (Was weiß ein Arzt über das, was ich von mir weiß?)
Neue Sturzfluten
Zwei Weltkriege mit Millionen Toten waren die Ursache oder doch die Hebamme des heutigen Europas, das sich gern als postheroisches bezeichnet. Historische Erinnerung und Mahnung stehen hinter allen Friedensbeschwörungen Europas bis heute. Sie sind das Ur-Leitbild der EU, und doch haben sie das Europa von heute zu selbstgerechten Verpflichtungen geführt, die Europa neuerlich in einen großen Krieg zu stürzen drohen. Offensichtlich gegen seinen Willen, gegen sein Weltmodell von Rechtstaat und Toleranzkultur, und trotz seines Pazifismus, der vorschnell zum "Friedensmodell" für alle Welt(en) erhoben wurde.
Seit Jahrzehnten wird in Europa beklagt, dass der alte Kontinent keine Bemühungen unternimmt, um eine ernstzunehmende (abschreckende) Sicherheitspolitik auf die Beine zu stellen. Offensichtlich dominieren pazifistische Denkweisen in den höheren Etagen seiner politischen und militärischen Eliten. Friedlich soll das Friedensmodell Europa weltweit missioniert werden. Kein Wunder, dass Russland die "Sicherheitspolitik" Europas bereits seit vielen Jahren wie einen erfolgreich domestizierten Bären am Nasenring durch die Manege der Weltpolitik führt.
Eine geopolitische Lage, die manche Europäer überaus positiv deuten: Europa sei endlich klug und "weise" geworden, offenbar klüger und weiser als alle, die das positive Denken Europas als friedenssüchtig und von Ängsten getrieben, auf jeden Fall als lebensgefährlich kritisieren. Wem nützt die Weisheit von Phantasten, die aus dem Boot der Geschichte aussteigen und nicht bemerken, dass die nächste Sturzflut bereits heranrückt?
Weil sie angesichts einer Vielfalt von Sturzfluten nicht mehr unterscheiden können oder wollen, welche die ärgste unter ihnen sein wird? Massenmigration, Inflation, Seuchen und Pandemien, Kollaps von Industrie und Wirtschaft, Invasionen (Ukraine), Segregationen (Balkan, Spanien, Großbritannien usf.) und vor allem: Armageddon zwischen Israel und Iran sowie zwischen China und seinen Nachbarstaaten im Pazifik.
Dagegen sollen zwei kollektiv eingeredete Pseudosorgen als globale Ablenkungen helfen: ein drohender Weltuntergang durch ein selbsterfundenes "Klima-Klimakterium" und ein endgültiger Kampf und Sieg gegen den deutschen Nationalsozialismus durch politisch Rituale nicht nur in Konzentrationslagern, die 1945 befreit wurden, sondern auch durch ein Dauergedenken an die Verbrechen einer verflossenen Nation, weil schon morgen wiedergeschehen könnte, was vorvorgestern geschehen ist.
Wer sich von zwei Fata Morganas gleichzeitig täuschen lässt, um dessen Sichtvermögen in die Zukunft kann es nicht gut bestellt sein. Er könnte bald zu neuen Verbrechen, doch ganz anderer Art und Herkunft, bereit sein.
Schon heute stellen die friedliebenden Europäer konsterniert fest, dass sich ihre Feinde im Osten und Süden immer weniger durch "Dialog und Toleranz" beindrucken lassen. Der Panslawismus Russlands und das Osmanentum der "modernen" Türkei sind am Beginn des 21. Jahrhunderts unter völlig neuartigen Umgebungen wiedererstanden. Und da sich die Sicherheitsinteressen der USA im beginnenden Zeitalter der leidenschaftlich herbeigewünschten Pax europeana immer intensiver auf den asiatischen und pazifischen Raum konzentrieren, glaubt EU-Europa, auch auf diesen (chinesischen) Zug in die Zukunft aufspringen zu können – bewaffnet mit Dialog und Toleranz. Denn nur mit diesen Prinzipien sei der neu erstandenen "Gelben Gefahr" zu begegnen.
Schon im Nahen Osten und im Irak hätten sich die militärischen Prinzipien der verschwindenden Pax americana als untauglich erwiesen, die hehren Missions-Ziele der universalen Demokratierechte durchzusetzen. Allein der Parzival Europa (unter den modernen Rittern der globalen Weltmächte der berufenste aller Ritter) sei nun auserkoren, die gesamte Menschheit in ein neues Zeitalter zu führen.
Und wodurch? Ganz einfach: durch gutes und vorbildliches Beispiel.
Vielfalt der Kulturen?
Nicht durch ein gesteigertes Interesse für die Vielfalt der Gefahren, die Europa und die Erste Welt bedrohen, sondern durch ein grenzenlos gesteigertes Interesse an der Vielfalt von Freiheiten und Kulturen werde gelingen, wovon Europa immer schon seit der Belle Époque träumte.
Träume, denen allerdings zwei Weltkriege ein tragisches Ende bereiteten. Ob das Träumen diesmal ein glücklicheres Ende finden wird?
Einst entflammten Japanoiserie und Chinoiserie und nicht zuletzt die Begeisterung für den nahöstlichen Orient viele (reisende) Forscher und Künstler, – ein kollektiver Sog, dem sich auch ein Karl May nicht entziehen konnte.
In fast allen Künsten stieg das Fremde und das "Andere" zu einer höchst lukrativen Kulturaktie auf. Teilweise als Nachklang von Rousseaus Rückkehr zur natürlichen Kultur der "Wilden", von der sich die damalige französische Aufklärung eine Erneuerung Europas erhoffte.
Dass der Kult der Vielfalt seine Vollendung in einem Kult an die Vielfalt der Kulturen auch in Europa finden werde, ist heute eine mit neuen Hoffnungen erfüllte Überzeugung vieler Europäer. Eine Vision nimmt Gestalt und Leben an.
Und wer wird ein Europa, das dem ersehnten Ideal einer friedlichen Weltgemeinschaft schon so nahe gekommen ist, bei der Verwirklichung und globalen Missionierung seiner Friedensarbeit, die die ganze Menschheit retten könnte, stören wollen? Wozu braucht Europa nochmals Armeen, die in und für Europa bisher nur Unglück, Verderben und Krieg gebracht haben?
Gewiss, nach dem Ende der Pax americana muss die Missionierung der Menschenrechte völlig neu und anders angegangen werden. Die beginnende Pax europeana wird neue Wege der Befriedung zwischen allen Religionen, allen Kulturen und deren Staaten suchen und finden müssen. Und warum nicht auch zwischen dem oft noch extrem verschiedenartigen Ethos der real existierenden Weltkulturen?
Die Vielfalt verschiedenartigster Moralen in der heutigen Menschheit mag heute eine noch anklagbare Crux sein, aber die neue Friedensfürstin Europa könnte auch diesbezüglich neue Wunder wirken.
Der Rückzug der Biden-Administration aus Afghanistan beweise bereits ein radikales Umdenken in der Ersten Welt. Einer künftigen Pazifizierung des ganzen Planeten, ("Klimarettung" inklusive) stehe fast nichts mehr im Wege. Ein großes Ziel einer großen neuen Utopie, der sich auch das Streben der UNO nach einer kontinentalen Neuverteilung aller auf diesem Planeten lebenden Menschen harmonisch einfügt: Warum sollen nicht Millionen, vielleicht Milliarden Menschen eine "legale" Aufnahme im Westen finden können, um inmitten der Ersten Welt ein neues Zusammenleben einzuüben?
Von nichts anderem träumen die Kirchenoberen der westlichen Welt schon seit Jahr und Tag. Alle Religionen verstehen sich ausdrücklich als Religionen des Friedens. Und aus einem weltweiten Frieden aller Religionen und Kulturen sollte kein universaler Weltfriede hervorgehen können? Wovon Kant mehr träumte als vernünftig dachte, sein universaler Weltfriedensstaat, dem sich auch Küngs minimales Weltethos beigesellen lässt, sei nun zum Greifen nahegerückt.
"Corona-Diktatur"
Wohin das postheroische Europa mittlerweile gelangt ist, demonstriert die aus China eingeschleppte Virus-Pandemie: Dieser sind zwar schon Millionen Menschen weltweit zum Opfer gefallen. Sie unterwirft die Spitäler und Gesundheitssysteme und nicht zuletzt das Wirtschaftsleben aller Staaten, folglich auch der westlichen Demokratien, extremen Belastungen. Dennoch werden die Staaten und Demokratien Europas verdächtigt, eine "Corona-Diktatur" installiert zu haben, um die "Freiheit" ihrer Bürger zu knechten. Die Pandemie sei entweder keine und nichts als ein erfundenes Grippemärchen, oder sie sei zu "politischen" Zwecken von dunklen Hintermännern (doch nicht in China) ermöglicht worden.
Zwei "Erklärungen", die bedrückend demonstrieren, dass in Europa die letzten Reste jenes demokratiebewussten Heldentums abzuschmelzen drohen, das zum Erhalt der Demokratie unverzichtbar ist. Mit Hegel lässt sich formulieren, dass die sittliche Moralität der heutigen Demokratie an innerer Desorientierung und denunzierendem Misstrauen schwer erkrankt ist. Wenn der Gesinnung der Bürger das gemeinsame Gewissen für die gemeinsame Sache abhandengekommen ist, dann ist das Rückgrat der Demokratien (das oft mit einem berühmt-berüchtigten Böckenförde-Zitat abgetan wird), in höchster Gefahr. Dann zerfällt, was zerfallen soll, und die Kismet-Weisheit des Islams muss nur noch warten, um die Scherben dem europäischen Kehricht zuzuführen.
Das neue Unheil kommt demnach weder durch eine Rückkehr linker noch rechter Diktatur, es kommt aus dem fragmentierten Rückgrat der Demokratie, aus der brechenden Mitte der modernen Gesellschaft. Plötzlich sind neue Diktaturen mit noch völlig unbekannter Ausgestaltung möglich, und was sie zunächst vereinigt, ist einzig der "revolutionäre" Kampf gegen die vermaledeite "Corona-Diktatur".
Ein neuer "Kampf" aller "Postheroischen" wurde möglich; deren heillose Tapferkeit würde zu einer Kernspaltung der Demokratie mittels demokratischer Prozeduren führen, gelingt es nicht, den Übermut der soeben noch mutlos und postheroisch Gescholtenen zur Räson zu bringen. Lieber bereitet sich ein überzeugter Impfverweigerer auf seinen "Übermutstod" (Sloterdijk) vor, ehe er seinen Körper der verletzenden Züchtigung durch eine Impfnadel unterzieht. Lieber soll das Ganze um ihn her im Meer der "Fake news" versinken, wenn nur seine unfehlbare Privatinsel bestehen bleibt.
Diese gründet und resultiert in seinem Privatwillen, der seinen Körper nur vorschiebt, dessen Unversehrtheit angeblich Böckenförde gemeint habe, als er zurecht behauptete, dass die moderne Demokratie auf Prinzipien beruhe, die sie der Geschichte Europas, nicht ihrer politisch-rechtlichen Prozedurenvielfalt verdanke.
Allerdings wusste Böckenförde noch nichts von einer digitalen Handykultur als Grundlage einer neuer Demokratie, die bereit sein könnte, seine (vordigitalen) unbedingten Bedingungen der Demokratie über den Haufen zu werfen. Sein Bürger war noch nicht der überinformierte Digitalbürger der technologischen Demokratie. Wenn aber dieser neue Bürger die neue Grundlage einer neuen Demokratie werden sollte – der neue Bürge und Bürger eines für Staaten und Demokratien unersetzlichen volonté générale –, dann wissen wir, woran und wodurch das Rückgrat der hypermodernen Demokratie zu zerbrechen beginnt.
Zwei Revanchisten lauern an den Grenzen der Erste Welt in Europa
Für das heutige Russland und für die heutige Türkei gilt als ausgemacht, dass Europa, seinerzeit noch von der Pax americana geführt, ein zweifaches Verbrechen verübt habe: Atatürk wurde zum Reichsverweser einer durch Jahrhunderte erfolgreich expandierenden Türkei eingesetzt, und das große "vaterländische russische Reich", obwohl immer noch über unübersehbare eurasische Weiten und Tiefen verfügend, wurde minimiert, geteilt und ideologisch unterwandert. In den Zusammenbrüchen beider Imperien wurde das folgende Chaos benützt, um Land und Leute mit dem antiislamischen und antirussischen Demokratie-Bazillus zu infizieren.
Es hilft wenig, wenn die Wahrheit nicht auf diesen beiden großen Meinungsinseln der aktuellen Weltgeschichte liegen sollte, sondern ("für uns") auf der genau gegenüberliegenden Seite liegt, auf der westlich gelegenen Meinungsinsel. Denn die westliche Meinung und Deutung der aktuellen Lage wird in der östlich und südlich gelegen Inselgegend gleichfalls nur als Propaganda und kollektiv inszenierte Lüge wahrgenommen.
Die Weltgeschichte ist kein Kinderspielplatz, auf dem nach festgesetzten Regeln und Prozeduren, Gewinnen und Verlusten gespielt wird. Mit der Freude und Wonne unserer Kinder, die sich noch über eine Niederlage wie über einen bösen Schicksalsstreich des wirklichen Lebens ärgern. Hier sind Unschuldige am Spiel, dort – im stürmischen Wirrgang der Geschichte – sind samt und sonders immer nur gegeneinander Schuldige am Spiel. Und der Philosoph sollte nicht der Versuchung nachgeben, deren Machtspiele mit denen von Zinssoldaten zu vergleichen, nur weil er sich damit eine infantile Freude bereitet. Es gibt kein Spiel mit Modelleisenbahnen an den Bahnhöfen der Weltgeschichte.
Auf unserer Meinungsinsel gilt für bewiesen, dass das Osmanische Imperium durch eine selbstverursachte Fehlentwicklung zugrunde gegangen ist, die im Nahen Osten, in Afrika und auf dem Balkan durch Jahrhunderte zu zahllosen Abwehr- und Rückzugskriegen geführt hat, die am Ende nichts geholfen haben. Heute möchten Erdogan und die Seinen die tödliche Abwärtsspirale ihrer Insel, die neuerlich zu großem imperialen Aufstieg berufen sei, rückgängig machen.
Abwehr- und Rückzugskriege hat es im Fall der Sowjetunion scheinbar nicht gegeben. Der Westen rühmte lange Zeit die friedliche Implosion eines Imperiums, das am eigenen, vor allem wirtschaftlichen Versagen zugrunde gegangen sei. Was unter Gorbatschow auch offen eingestanden wurde, als man Glasnost und Perestrojka auf die Schiene stellte, um die kommunistische Lokomotive wieder (vergeblich) fahrtüchtig zu machen.
Doch hätten der Westen und Europa hellhörig sein sollen, als von russischen Aktionen und Invasionen in Tschetschenien, Moldawien, Kaukasus (Abchasien, Ossetien und Georgien) und von einer Annexion der Krim und Teilannexionen im Osten der Ukraine berichtet wurde.
Nicht weniger, sondern mehr noch, als von russischen "Eingriffen" in Syrien und in Libyen wie über selbstverständliche Normalitäten berichtet wurde, als ob man nach dem Kalten Krieg dem neuen Russland neue Aggressions-Sitten hätte zugestehen müssen. Und auch die inneren Pressionen im putinistischen Russland hätten die entscheidende Frage, ob der Westen mit einem revisionistischen oder revanchistischen Staat konfrontiert sei, einer gründlichen Klärung zuführen müssen. Da dies bis heute nicht geschehen ist, sollte sich Europa nicht wundern, wenn es im Rhythmus weniger Jahre wieder einmal an der Nase herumgeführt wird.
Auch im Problemfall der neoislamischen Türkei hätte Europa hellhörig sein und entschieden und nicht "friedenserfüllt" reagieren müssen. Mit handzahmen Forderungen weist man einen Neo-Sultan nicht hinter notwendige und zielführende Schranken. Einen Staat binnen weniger Jahre zu einem Gefängnis zu verkrüppeln, war bisher eine Domäne kommunistischer Regime. Auch in der Türkei hat die EU große Schande auf sich geladen. Unwahrscheinlich, dass die demokratischen Kräfte am Bosporus nochmals eine Brüsseler Karte auf den politischen Mächtespieltisch setzen.
Die mit Waffen geführten außenpolitischen Machtspiele der neoislamischen Türkei haben zu Invasionen in Syrien und im Irak, zu ungestraften türkischen Aktionen in Libyen, Armenien (Karabach) und Militärstationierungen in einigen arabischen Staaten geführt. Immerhin misslang der Versuch Erdogans, sich mittels der Muslimbrüder in Ägypten als religiöser Nasser für den sunnitischem Gürtel zu profilieren. Ein Missbrauch der "Arabellion", der nicht durch Europa und die Erste Welt, sondern vom säkularen Teil Ägyptens vereitelt wurde.
Ausgerechnet Frau Merkel, die sich lange vor dem Wendejahr von 2015 gegen einen vollständigen EU-Beitritt der Türkei stemmte, als es vielleicht noch möglich gewesen wäre, den säkularen Kurs der Türkei zu retten und zu einem erfolgreichen Ende zu führen, musste den berüchtigten "Flüchtlingsdeal" mit einer neoosmanischen Türkei unterzeichnen, der letztlich nur dazu dient, einer "legalen" Massenmigration nach Europa einen "erfolgreichen Weg" zu eröffnen.
"Krönung" der unheilvollen Entwicklung ist die Tatsache, dass Russland und die Türkei bei ihren Invasionen übers Kreuz geraten können, ohne dass die EU und der Westen den mindesten Einspruch erheben könnten. Beide Invasoren können, trotz der NATO-Mitgliedschaft der Türkei, völlig frei und unabhängig von allen europäischen Sicherheits- und Rechtsvorschriften agieren. Europa zählt die Bomben und die Toten, und redet mittels Hubschraubersätzen von einem "Kampf gegen die Fluchtursachen" der nichtendenden Völkerwanderung nach Europa.
Und wenn die Türkei Drohnen an die Ukraine liefert, um deren Kampf gegen die russischen Separatisten im Donbass zu unterstützen, kann EU-Europa nur abnicken und "Neutralität" heucheln, indem es auf die freie NATO-Mitgliedschaft der Türkei verweist.
Zur praktischen Logik des Revanchismus
Wie der deutsche Revanchismus vor 1939 zeigte, "revanchiert" man sich nicht an und in der Vergangenheit an seinen Feinden. Es wäre ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit, was aber die Anti-Nazi-Kämpfer in Deutschland und Österreich bis heute nicht hindert, Befreiungsveranstaltungen in KZs zu organisieren, und "kämpferische Romane" gegen "Rechnitz" und andere Orte nationalsozialistischer Verbrechen zu schreiben.
Auffällig, dass die pazifistische "Revanche" am Nationalsozialismus mittlerweile kaum noch ein Gegenstück einer gleichgesinnten Revanche an Kommunismus und Stalinismus im heutigen Russland findet, oder in der Türkei: keine "Aufarbeitung" der Verbrechen jener Türkei, die den Völkermord an den Armenieren erbarmungslos vollstreckte.
Auch der aktuelle russische und türkische Revanchismus handelt wie Deutschland vor 1939: durch Okkupationen in der Nachbarschaft, - heute, dank neuer Transportmittel und Waffensysteme, auch in der ferner gelegenen Nachbarschaft, und im Inland durch Gewalt gegen die Oppositionelle und Demonstranten und einen inneren Revanchekrieg gegen einen Brudergenossen im islamischen Geist.
Ist der aktuelle Abscheu Russlands und der Türkei gegen Europa somit ebenso rational erklär- und verstehbar und doch zugleich ebenso verhängnisvoll gegen Europa gerichtet wie seinerzeit der Hass Großdeutschlands gegen den "Westen von Versailles"? Nicht nochmals soll es den Feinden im Westen und Norden gelingen, die Größe der eigenen glorreichen Vergangenheit und Gegenwart zu demütigen? Unvergessen, wie "beleidigt" Russland auf Obamas Fauxpas reagierte, der glaubte, Russland als "Regionalmacht" abqualifizieren zu müssen.
1994, als die Sowjetunion noch nicht zu Ende abgewickelt war, beteiligten sich nur wenige slawophile Russen, darunter auch einige Parlamentarier der Duma, am Belagerungskrieg um Sarajevo. Europa war unfähig gewesen, dem Verbrecherregime von Milosevic, dem zu huldigen auch ein österreichischer Literat nicht widerstehen konnte, rechtzeitig Einhalt zu gebieten.
Im Kampf gegen die nach Westen abdriftende Ukraine wird man nicht so halbherzig bleiben. Hundertprozentige Russen werden die russischen Brüder im Donbass siegreich zu unterstützen wissen. Und für jugoslawien-analoge Bombardierungen im Osten der Ukraine wird die Biden-Administration kaum zu gewinnen sein, worüber das friedliebende Europa hinter vorgehaltener Hand überaus froh sein wird, obwohl "Brüssel" mit einem "Krieg" mittels dröhnender Worte und Sanktionen "zurückschlagen" wird. Mögen diese Szenarien der Ukraine und auch Europa erspart bleiben. Dieser Spruch bleibt zeitlos wahr: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Die gespaltene Großmacht Europa ist seit 1945 kriegsmüde und radikal pazifistisch gesonnen, der Hegemon USA erst seit der Invasion des Iraks, dessen Befreiung Europa gezielt als "Lüge" denunzierte, weil es lediglich um eine Suche nach (nicht auffindbaren) Massenvernichtungswaffen und nach neuem Öl gegangen wäre. ("Kein Blut für Öl"). Aber mittlerweile ist auch die USA gespalten, sie hat das Ende der Pax americana nicht unbeschadet überstanden. Ein Zustand des ehemaligen Weltpolizisten, der, glaubt man der Stimmenmehrheit in Europa, samt und sonders zulasten von Donald Trump geht.
Im Fall Afghanistan lag und liegt die Einschätzung Europas nicht weitab vom Fall Irak: Wieder eine falsche "Invasion" und wieder ein absehbares "Desaster", aus dem sich Europa längst schon hätte zurückziehen sollen. (An die Maxime des damaligen deutschen Verteidigungsministers: "Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt", glaubte wohl nur jeder neunte Deutsche.)
Ratlosigkeit und Angst in Europa, (insgeheime?) Gleichgültigkeit gegen Europa in den USA: Kein erfreulicher Zwischenstand im Ringen der aktuellen Weltgeschichte. Käme es auch noch zu einer Teilung der NATO, wäre das Berechtigungs-Zertifikat ihrer Existenz abgelaufen.
Revisionismus versus Revanchismus
Europa wirft dem putinistischen Russland vor, durch eine geschickte "Salamitaktik" immer noch weitere ehemalige Sowjetprovinzen heim ins neue Reich führen zu wollen. Die bereits genannten zahlreichen Fälle, zu denen demnächst der Osten der Ukraine ein weiteres Salamistück liefern könnte, sind allerdings erdrückende Beweisstücke. Wenn russophile "Putinversteher" dagegen einwenden, es sei doch der Wille der Tranchierten gewesen, sich tranchieren zu lassen, verkünden sie nur dieselbe frohe Botschaft, die auch die Propaganda Moskaus zu verkünden pflegt: Überall, wo Russen "entrechtet" leben, müssen diese von ihren früheren postsowjetischen Staaten, (ehemals "freien" Sowjetrepubliken) abgespalten und vom neuen Russland über Wasser gehalten werden.
Mit diesem neuen Freiheitsköder, den das neue Russland anbietet, erledigt Moskau zwei Fliegen auf einen Schlag: Nicht nur werden die autonomiewilligen Stimmen in den postsowjetischen Staaten mundtot gemacht, es wird auch der europäische Antiamerikanismus neu befeuert: Der alte Hegemon habe kein Recht, dem neuen Hegemon in Osteuropa und ganz Eurasien neue Grenzziehungen zu verbieten, nichts anderes hätten auch "Washington" und "Pentagon" durch Jahrzehnte betrieben.
Russland weiß natürlich über den Antiamerikanismus Europas genau Bescheid, und weiß ihn als nützlichen Idioten zu gebrauchen. Ein Antiamerikanismus, der sich bei den Rechten und Linken und neuerdings auch den Grünen Europas aus verschiedenen Gründen nährt, die als Vorurteile zu entlarven, einem Sakrileg gegen eine heiliggesprochene Überzeugung gleichkäme.
Daher weiß Russland auch, wie mit den europäischen Spielbällen "Revanchismus versus Revisionismus" versiert mitzuspielen ist. Ein Revisionist revanchiert sich nie, er verhandelt und verspricht neue Friedensverträge noch dann, wenn der Tag sich zur Nacht geneigt hat. Insofern sollten sich "Friedensfürsten" à la Gerhard Schröder, und nicht rotgrüne Minister einer frischgeborenen deutschen Regierung in Moskau um Verhinderung eines Überfalls auf die Ukraine bemühen.
Scharfsichtige Beobachter des weltpolitischen Zeitgeschehens haben das historische Zusammentreffen des Berliner Regierungswechsels mit den anhaltenden Täuschungsspielen Moskaus konsterniert, mehr erschrocken als hoffnungserfüllt, registriert. Als glaubten sie wirklich, auf Merkel-Deutschland wäre mehr Verlass gewesen als auf die nunmehrigen Nachfolger auf den Thronen der Berliner Republik.
Während Europa noch darüber rätselt, ob in Moskau "waschechte" Revanchisten oder Revisionisten regieren, haben amerikanische Beobachter herausgefunden, dass das neue Russland vermutlich ein Weder-Noch sei. Da es über keine neue Großideologie verfüge, müsse es trachten, irgendwie zwischen Kapitalismus und Kommunismus hindurchzuwursteln, ebenso zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Prinzipien. Und um dieses Ziel zu erreichen sei ihm, kurzgesagt, jede Art von Mafia und Ablenkung willkommen. Ein postmoderner Nihilismus dominiere das Denken und Entscheiden der russischen Eliten, eine Ideologie der Ideologielosigkeit, die freilich diesseits dieser hehren Worte nur auf ein Ding hinausläuft: Machterhalt, um der Macht willen. Ein Prinzip, das so alt wie Menschheit ist, und das auch dem Freigeist amerikanischer Beobachter nicht unbekannt sein sollte. (Die orthodoxe Kirche Russlands weiß davon mehr als ein Lied zu singen.)
"Selbst ein Volk von Teufeln" müsse sich, wenn an die Macht eines eigenen Staates gelangt, an regierungsfähige Gesetze halten, behauptete seinerzeit der philosophische Erfinder des "Leviathans", - es sei denn (könnte man ergänzen), die Lust am eigenen Untergang überwiege alle Vernunftgründe zwischen Himmel und Erde.
Eine ideologielose Ideologie, deren Prinzip und Ziel ein suizidaler Nihilismus wäre, (was kaum verdeckt der deutsche Nationalsozialismus war) würde Russland in den Orkus der Geschichte versenken. Aber wie gesagt: "Selbst ein Volk von Teufeln" liebt seine Frauen und Kinder, gleichfalls die herrlichen Zwiebeltürme seiner zaristischen Städte und Kirchen und verschmäht auch einen sonnigen Krimurlaub nicht.
Die Merkel’sche Hinterlassenschaft: Verzahnung der russischen und türkischen Machtspiele
Die peinliche Unentschlossenheit EU-Europas gegenüber der Türkei befördert die unberechenbaren Machtspiele des Neo-Sultans im türkeiaffinen Ausland, vom Nahen Osten über Armenien bis nach Libyen und auch in Europa. Kurdische Verbände, die gegen türkische Besatzungen und Bombardierungen ihrer Gebiete in Syrien und Irak kämpfen, werden ungewollt (?) mit den Terrorarmeen von Hamas und Hisbollah auf eine Stufe gestellt.
Schon fordert ein türkischer General die Rekrutierung einer großen Armee aller turkmenischen Staaten und Völker. Das osmanische Imperium hatte bekanntlich viele Länder unterworfen und regiert: von Mazedonien und Albanien über Bosnien und Kosovo bis nach Libyen und Algerien dominierte der Hegemon aus Istanbul. Warum sollte es unmöglich sein, auch für diesen Verlust erfolgreiche Revanche zu nehmen?
Da der neue Sultan seinen "Ausgewanderten" (Goethe) in Europa zu gebieten versucht, jegliche Assimilation an die Europäische Kultur zu verweigern, geraten alle halb schon europäisierten Türken in die Zwickmühle einer zweifelhaften Wahl: An die Rückkehr eines neuen türkischen Imperiums in die Geschichte glaubt vermutlich nur eine Minderheit, und einige der Ihren sind sogar schon zu Ministern in ihren neuen Einwanderungsstaaten aufgestiegen. Minister von Parteien, die bekanntlich mit fröhlichem Appeasement die Errichtung großer Moscheen in den Städten Europas unterstützen, ohne Rücksicht auf die prekäre Zukunft einer Mischkultur, von der nur Visionäre und Kirchenobere glauben, sie könnte ohne schwerwiegende Konflikte davonkommen.
Auch auf dem Balkan geraten viele Menschen zwischen die berühmt-berüchtigten "zwei Stühle". Viele glauben nicht mehr an eine gedeihliche Zukunft des Balkans in den Armen der EU. Die Slawen des chronisch unfriedlichen Südostteils Europas hören zunehmend auf die Anti-EU-Einflüsterungen Moskaus. Andere wollen weder von Moskau noch von Brüssel Anweisungen empfangen, die ihre ökonomische und kulturelle Zukunft sichern sollen. Auch dies eine "Krise", von der EU-Europa am liebsten nicht wissen möchte, ob sie bald zu den ärgsten der Zukunft zählen wird. Unterdessen dampft und qualmt der Balkankessel scheinbar friedlich vor sich hin.
Ist "Dayton" eines Tages Geschichte, weil das Konstrukt eines dreieinigen Bosnien Illusion war, wird die Schuldfrage gewiss einvernehmlich gelöst: Alle, nur nicht EU-Europa werden schuldig gesprochen.
Im großen Inselteich der Ägäis ist die omnipotente Präsenz Griechenlands, mithilfe Europas nach dem Ersten Weltkrieg zustande gekommen, ein ewiger Dorn im Auge der Türkei. Neuerdings versichert sich Griechenland der militärischen Unterstützung von Macrons Frankreich, von Seiten Deutschlands ist keine Hilfe zu erwarten, auch nicht von den rotgrünen Nachfolgern von Merkels verflossener Regierung. Wer seine Wehrmacht wehrlos gemacht und mit dem "Sultan" in Ankara teure Flüchtlingsdeals (auf Kosten der EU) ausgehandelt hat und überdies durch Atomausstieg und Verbannung von Kohle und Verwandten auf neue Energien setzt, zu deren Erhaltung schier unerschöpfliche Stromquellen nötig sind, hat sich von den "neuen Zaren" im Kreml abhängig gemacht.
Das Erbe Merkels ist mehr als verhängnisvoll – für Deutschland und für Europa. Einer doppelten Geiselhaft entkommen nur die Genies unter den Entfesselungskünstlern.
Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.