Der Zeitpunkt ist auf den Tag genau festzumachen: In der Nationalratssitzung am 8. Juli 1991 eröffnete der amtierende Bundeskanzler in einer Sitzung des österreichischen Nationalrats die Debatte zum Tagesordnungspunkt "Zur aktuellen Lage in Jugoslawien". Die dortigen Zerfallserscheinungen begannen konkret 1991, und es war unumgänglich, dass sich auch Österreichs hohe Politik mit den Ereignissen an seinen Grenzen befasste. Die Parlamentsdebatte verlief unaufgeregt und sachlich. Völlig überraschend wechselte Franz Vranitzky in seiner Rede jedoch das behandelte Thema und belehrte die Abgeordneten über die österreichische Zeitgeschichte. Ein Anlass für diesen dramatischen Schwenk war und ist nicht erkennbar.
Man kann diese Gedankenakrobatik rund ein halbes Jahrhundert (!) nach den deutschen Überfällen auf Polen, Frankreich und die Sowjetunion einen rhetorischen Schachzug nennen – oder einen logischen Salto mortale.
Vranitzky zog in dieser seiner Rede aus durchaus richtigen Feststellungen und Beobachtungen eine obskure Schlussfolgerung. Es drängt sich der Vergleich mit einer mathematischen Addition auf: Die Zwischensummen waren alle richtig; das Endresultat war falsch. Entscheidende Sätze aus dem originalen Redetext:
- "Es ist unbestritten, daß Österreich im März 1938 Opfer einer militärischen Aggression mit furchtbaren Konsequenzen geworden war." Nicht als Staat habe Österreich Leid über andere Menschen und Völker gebracht. Richtig!
- "Die unmittelbar [nach dem Anschluss] einsetzende Verfolgung brachte Hunderttausende Menschen unseres Landes in Gefängnisse und Konzentrationslager, lieferte sie der Tötungsmaschinerie des Nazi-Regimes aus, zwang sie zu Flucht und Emigration. Hunderttausende fielen an den Fronten oder wurden von den Bomben erschlagen. (…) Viele haben Widerstand geleistet und dabei ihr Leben für Österreich gegeben." Richtig!
- "Vieles ist in den vergangenen Jahren geschehen, um, so gut dies möglich war, angerichteten Schaden wiedergutzumachen, angetanes Leid zu mildern." Richtig!
- "Dennoch haben auch viele Österreicher den Anschluß begrüßt, haben das nationalsozialistische Regime gestützt, haben es auf vielen Ebenen der Hierarchie mitgetragen. Viele Österreicher waren an den Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen des Dritten Reichs beteiligt, zum Teil an prominenter Stelle." Leider auch richtig!
Die vorliegende Untersuchung über die Kriegsgeneration untermauert diese vier von Vranitzky vertretenen Thesen. Dass Vorher- und Nachher-Österreicher zum Teil schwere Schuld auf sich geladen haben, wurde nie bestritten, bedurfte allerdings 1991 keiner amtlichen Bestätigung mehr.
Was Vranitzky aber nicht sagte: Dass "Bürger" wie Eichmann und Kaltenbrunner und andere "Parteigenossen" für ihre Verbrechen nicht die geringste Legitimation als Exponenten Österreichs oder der Österreicher hatten und dass sich diese Täter auch nicht als Österreicher, sondern als "Großdeutsche" gefühlt hatten.
Vor allem verschwieg Vranitzky, dass die angesprochenen Täter und Mitläufer in Österreich zahlenmäßig immer nur eine Minderheit waren. Aber das durfte Vranitzky nicht zugeben, sonst hätte er seine fatale Botschaft an die Öffentlichkeit nicht aussenden können: "Über eine moralische Mitverantwortung für Taten unserer Bürger können wir uns auch heute nicht hinwegsetzen."
Er hat "Wir" gesagt und "Mitverantwortung". Als Bundeskanzler der Republik hat er die Kollektivschuld aller Österreicher konstruiert.
Die Motive für die thematische Abweichung des Redners von der parlamentarischen Tagesordnung sind nicht durchschaubar, die Folgen umso offenkundiger:
- Die Demütigung Österreichs durch Staaten, die lange Zeit dem Hitler-Regime keineswegs so ablehnend gegenüberstanden und Österreich in seinem Abwehrkampf nie unterstützt haben.
- Die Ausnutzung von Vranitzkys Worten "Wir" und "Mitverantwortung" als Freibrief für die künftige Verleumdung der österreichischen Kriegsgeneration durch ideologische Irrläufer.
Der Phantasie bleibt ein weiter Spielraum, aber alle vorstellbaren Horrorszenarien, die da herandrängen, möchte man gar nicht weiterdenken.
Man braucht keinen Verschwörungstheorien nachzuhängen, aber man muss die Tatsachen registrieren: In Außen- und Innenpolitik, auf Universitäten, in Schulen und nicht zuletzt in fast allen Medien wurden die Schalter auf die Mitschuld eines imaginären Österreich am Zweiten Weltkrieg und an den Nazi-Verbrechen umgelegt. Man sträubt sich, dahinter eine generalstabsmäßige Planung zu vermuten. Aber was war es dann?
Über die Nachkriegs-Genossen, die sich (damals 43 Jahre nach dem Kriegsende) als Richter und Rächer aufspielen und in der Formel von Österreich als erstem Opfer eine "Lebenslüge" erblicken, ärgerte sich Norbert Leser schon 1988. Die Formel müsse zwar durch die individuelle Schuldfeststellung ergänzt werden, "aber sie ist keine Lüge, denn immerhin ist Österreich 1938 tatsächlich überfallen worden, und auch die Billigung der militärischen Invasion durch einen Teil der Bevölkerung und der Jubel von Massen nach dem Fait accompli ändern an dieser völkerrechtlichen Qualifikation nichts. (…) Weiter ist zu bedenken, dass es nicht nur inopportun, sondern vom österreichischen Standpunkt aus geradezu selbstmörderisch gewesen wäre, die Formel von Österreich als erstem Opfer Hitlers zu relativieren oder die Frage einer Mitschuld aufzuwerfen oder gar eine solche zuzugeben." Soweit der sozialdemokratische Wissenschafter.
Drei Jahre später übernahm der sozialdemokratische Politiker Franz Vranitzky im österreichischen Parlament für das gesamte Staatsvolk "Mitverantwortung" …
Der Vorabdruck ist entnommen dem soeben erschienenen Buch von Willi Sauberer: "Die gescholtene Kriegsgeneration ‒ Eine Rot-Weiß-Rote Faktensuche." Bestellungen: Österreichischer Milizverlag, Schwarzenbergkaserne Objekt 48, 5071 Wals. E-Mail: milizverlag@miliz.at. Fax: 050201-80-17414. Homepage: www.miliz.at
Willi Sauberer, Schüler Hugo Portischs, war ab 1961 Mitarbeiter von Alfons Gorbach, Josef Klaus und Hermann Withalm und von 1971 bis 1994 Chefredakteur einer kleinen Salzburger Tageszeitung. Der konservative Publizist schreibt vorwiegend über gesellschaftspolitische, zeithistorische und lokalgeschichtliche Themen.