In John Grishams erstem Buch "A Time to kill” wird ein zehnjähriges schwarzes Mädchen von zwei weißen Männern brutal vergewaltigt. Daraufhin tötet der Vater des Mädchens die beiden Männer. Ihm wird der Prozess gemacht, der mit einem Freispruch endet. Auf die Idee zu diesem Buch kam Grisham, als er einem Vergewaltigungsprozess beiwohnte. Er fragte sich, was er wohl täte, wenn so etwas seiner Tochter passiert. "Als ich sie bei Gericht leiden sah, wollte ich selbst den Vergewaltiger erschießen. Für einen kurzen und doch endlosen Moment wollte ich ihr Vater sein. Ich wollte Gerechtigkeit."
Heute wollen viele Österreicher Gerechtigkeit für die 13-jährige Leonie – in Form von nachhaltigen Gefängnisstrafen. Nicht auszudenken, was los wäre, wenn Leonies Vater so handeln würde, wie es John Grisham wollte. Jedenfalls würden nicht einmal die Grünen mehr von einem Einzelfall sprechen, den man politisch nicht instrumentalisieren soll.
Dabei könnte sich eine Verurteilung als schwierig herausstellen, weil die einzige Zeugin tot ist. Die Verhafteten werden vermutlich ihre Unschuld beteuern. In der Erwartung, dass Zweifelsregeln und Menschenrechte auch für sie gelten, werden sie möglicherweise alle Schuld auf den flüchtigen Vierten schieben.
Wie immer bei einem schweren Verbrechen beginnt die mediale Suche nach den Ersatzschuldigen, die, wie üblich, ein Behördenversagen entdeckt. Wenn die Verantwortung des Einzelnen traditionell klein und jene des Staates großgeschrieben wird, werden die unmittelbaren Täter rasch entschuldet und eine oder mehrere Behörden an den Pranger gestellt. Diese zeigen in der Folge wechselseitig mit dem Finger aufeinander – und schließlich auf die Politik. Erstens seien die Gesetze unzureichend und zweitens gäbe es nicht genügend Personal. Dass irgendeine Behörde genügend Personal hätte, hören wir höchst selten.
Bezeichnend war die Frage eines Journalisten in der Pressekonferenz des Innenministers, ob Österreich die Afghanen genügend betreut hätte. Sohin hat der Journalist eine Mitschuld der Allgemeinheit an diesem Verbrechen impliziert. Nach der treffenden Antwort des Ministers und viel öffentlichem Protest entschuldigte sich der ORF-Journalist, der in seinen Kreisen mit einem solchen Denken vermutlich nicht allein dasteht. Dort sind immer dann die Gesellschaft und das System schuld, wenn der Linken bestimmte Entwicklungen oder Ereignisse nicht in den Kram passen. Dass traurige Lebensgeschichten niemals ein Verbrechen rechtfertigen, ist allerdings eine Grundvoraussetzung für ein Strafrecht, das sich selbst ernst nehmen will.
Hinsichtlich der Fremden- und Asylrechtslage gibt es allerdings tatsächlich Unzulänglichkeiten. Um dies zu ändern bräuchte die ÖVP aber einen anderen Koalitionspartner.
So wie die Grünen knapp vor dem Terroranschlag vom 2. November 2020 die Entwaffnung der Polizei gefordert haben, hat sich die grüne Justizministerin erst ein paar Tage vor Leonies Tötung kritisch zu Abschiebungen nach Afghanistan geäußert. Wenn es um Österreichs Sicherheitspolitik geht, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Grünen auf der falschen Seite stehen.
Wenn man zahlreiche – auch traumatisierte – Minderjährige aus weit entfernten Kultur- und Krisengebieten nach Österreich lässt, darf man sich nicht wundern, dass überproportional viele sich nicht zurechtfinden und nächtens Drogen wie Menschen missbrauchen. Gruselig aktuell erscheint in diesem Zusammenhang Liessmanns neuestes Buch "Alle Lust will Ewigkeit – Mitternächtliche Versuchungen", in dem er in zwölf Kapiteln Friedrich Nietzsches Gedicht "Oh Mensch! Gieb Acht!" seziert. Er nähert sich darin in nachtschwarzen Gedanken den Abgründen des Menschseins bis zum Spannungsfeld von Schmerz und Lust, von Leben und Tod.
Die Überschrift des Gedichtes sollte sich aber nicht bloß an Politiker wenden, die viel zu viele Fremde ins Land ließen und zu wenig für schnelle und dauerhafte Abschiebungen getan haben. Der Schutz der eigenen Bevölkerung sollte für sie oberste Priorität haben – dafür haben wir nämlich den Staat.
Testosterongesteuerte junge Fremde in einem Wiener Gemeindebau unterzubringen ist offensichtlich keine Heilmittel gegen krumme Pfade. Vielmehr muss man jenen jungen AMIGA-Mädchen ("Aber Meiner Ist Ganz Anders"), die diesen Männern helfend zur Seite springen wollen, mit Nietzsche zurufen: "Oh Mensch! Gieb Acht".
Es gibt eben Lektionen, die man immer wieder lernen muss. Nicht jeder Jugendliche, der aus einem wenig entwickelten Kriegsgebiet nach Europa kommt, hat zwangsläufig das Böse hinter sich gelassen. Wie wir seit Jack Unterweger wissen, hat auch nicht jeder Häftling, der Gedichte schreibt, das Böse in sich besiegt.
Bei allem Verständnis, dass manche Idealisten immer von einer eigenen Welt träumen, ist es die Aufgabe der Regierenden, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren und den Unterweger-Verstehern dieser Welt nicht auf den Leim zu gehen. Auch daran sollte man denken, wenn wieder die Forderung auf die politische Tagesordnung gesetzt wird, hundert unbegleitete Minderjährige aus fernen Landen aufzunehmen – ist Österreich doch offensichtlich bereits jetzt mit den hier lebenden Minderjährigen ziemlich überfordert.
Georg Vetter ist Rechtsanwalt, Vorstandsmitglied des Hayek-Instituts und Präsident des Clubs Unabhängiger Liberaler. Bis November 2017 ist er in der ÖVP-Fraktion Abgeordneter im Nationalrat gewesen.