Wer in seinem Studium lernt oder in der Zeitung liest, dass sich der VfGH nur mit grundsätzlichen Rechtsfragen, wie Sterbehilfe oder Homo-Ehe befasst, der wird von den Erkenntnissen in Asylrechtsfragen sicherlich überrascht sein. Die Liebe zum Detail gepaart mit der Macht der letzten Instanz bewirken, dass Erkenntnisse von Vorinstanzen gänzlich umgekehrt, Beweise und Aussage neu gewürdigt werden, und bewertet wird, ob eine plötzliche Erinnerung an ein Ereignis "um Mitternacht" die Glaubwürdigkeit erhöht oder vermindert.
Der Fall E1223/2020: Im gegenständlichen Fall geht es um einen afghanischen Staatsbürger, der bei der illegalen Einreise nach Österreich im Jahr 2015 noch minderjährig war und der schiitischen Volksgruppe der Hazara angehört. Laut eigenen Angaben versuchten die Taliban ihn für den Jihad zu rekrutieren und nach Pakistan zur Ausbildung zu schicken. Daraufhin – um genauer zu sein: einen Monat später – ergriff sein Vater mit ihm und der gesamten Familie die Flucht, nachdem zuerst noch Haus und Hof verkauft werden mussten. Die Verbindung des Asylwerbers zur Familie riss während der Flucht ab und nur er selbst gelangte nach Österreich.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl schenkte diesen Vorbringungen insgesamt am 20. 11. 2017 keinen Glauben und lehnte die Zuerkennung von Asyl ab, gewährte aber subsidiären Schutz.
Die Berufung wegen Nicht-Erteilung des Asylstatus landete beim BVwG, die diese per Erkenntnis vom 8. 1. 2020 nach einer mündlichen Verhandlung Ende 2019 ebenfalls ablehnte.
Obwohl der BVwG keine Gründe für eine mögliche Revision beim VfGH erkennen konnte, erfolgte diese Berufung dennoch, wurde angenommen und 23. 2. 2021 entschieden.
Die Entscheidung
Der VfGH hebt das Erkenntnis des BVwG wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf. Somit wird ein weiterer Fall der Rassendiskriminierung durch eines der höchsten Gerichte des Landes publik.
Der VfGH begründet seine Entscheidung damit, dass das BVwG gehäuft falsche Feststellungen gemacht hätte:
- So hätte der BVwG moniert, dass der Beschwerdeführer erstmals vom Besuch der Taliban "um Mitternacht" sprach, während davor nur "in der Nacht" angegeben wurde. Dies dem Beschwerdeführer anzukreiden, wäre unzulässig.
- Der BVwG fand es unglaubwürdig, dass die Taliban nicht sofort mit Strafmaßnahmen auf die Weigerung zur Rekrutierung reagiert hätten und die Familie noch einen Monat lang ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten geregelt hätten. Hier findet der VfGH, dass sich in den Länderberichten dazu keine Anhaltspunkte für Strafaktionen bei gescheiterten Rekrutierungen finden und der BVwG somit spekulative Schlüsse zieht.
- Schließlich gab der Asylwerber an, bei einer Auseinandersetzung zwischen den Taliban und der Polizei von einer Granate eine Verbrennung erlitten zu haben. Der BVwG fand eine Verbrennung durch eine Granate für eine unglaubwürdige Verletzung, der VfGH dagegen sieht hier keine ausreichende Begründung für die Ansicht des BVwG.
- Abschließend hätte der BVwG nur unzureichend berücksichtigt, dass der Asylwerber zum Zeitpunkt der Einvernahme minderjährig war.
Diese Fehlverhalten des BVwG summierte sich somit zur Willkür und dem VfGH blieb nichts anderes übrig, als das Erkenntnis aufzuheben.
Ich meine, dieser Fall, sofern die Angaben, denen der VfGH Glauben schenken möchte, stimmen, hat das Potential, das Interesse der CIA und anderer westlicher Geheimdienste auf sich zu ziehen, zeigt er doch eine vollkommen neue Rekrutierungsstrategie der Taliban: Die Taliban sind eine radikale sunnitische Miliz. Die Hazara dagegen sind eine schiitische Volksgruppe und unzählige Asylwerber aus Afghanistan geben genau die Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe und die dadurch entstehende Bedrohung durch die Taliban als Fluchtgrund an.
Wir haben also einen Fall der an das beliebte Kinderbuch "Komm sagte die Katze erinnert", in der eine Katze bei Hochwasser andere Tiere, darunter auch eine Maus, auf ihren Baumstamm einlädt, quasi ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen.
Zu den Punkten im Einzelnen:
- Wenn etwas hier an Willkür erinnert, dann die Auswahl der Punkte, die der VfGH heranzieht, um sein Urteil zu begründen. Von den dutzenden unglaubwürdigen Behauptungen, ist wohl die nach dem genauen Zeitpunkt "um Mitternacht" die unwesentlichste. Der BVwG monierte, dass der Asylwerber, der beim Rekrutierungsgespräch gar nicht dabei war, sich plötzlich erinnern konnte, dass dieses genau um Mitternacht stattfand. Dass wir bei "lebensnaher Betrachtung" einen Fall eines Asylwerbers haben, der während der Flucht aufgeschnappt hat, dass "Hazara" und "Taliban" beim Verfahren Erfolg versprechen und dies in einer wohl einzigartigen Geschichte verwoben hat, ist ein viel schwererwiegender Punkt. Viele weitere unglaubwürdige Punkte aus der Geschichte wurden vom BVwG genannt, so etwa, wie der Asylwerber Nachricht vom Tod seines Vaters erhielt. Wer würde sich nicht merken, ob das bei einem Telefongespräch mit der Mutter oder von jemand anderem über Facebook war? Und wenn es über Facebook war, dann von wem die Nachricht kam? Ohne Chatauswertungen durch die WKStA tappt der VfGH hier natürlich diesmal im Dunklen.
- Beim zweiten Punkt beißt sich die Katze in den Schwanz. Eine Ablehnung einer Rekrutierung durch die Taliban ist entgegen den Annahmen des BvWG demnach nicht so gefährlich, dass eine sofortige Flucht angeraten erscheint.
- Die Geschichte mit der Granate ist wohl der merkwürdigste Punkt von allen. Dient sie doch offenbar nur dazu, die unsichere Sicherheitslage in der Provinz Baghlan zu dokumentieren, denn der Asylwerber wurde nur zufällig Opfer einer Verbrennung durch eine Granate und somit nicht in Folge einer persönlichen politischen Verfolgung. Dass der BVwG nun einen Sprengstoffexperten zur Prüfung einer von unzähligen unglaubwürdigen Behauptungen heranziehen sollte, ist für jeden Menschen außerhalb des VfGH wohl lebensfremd.
- Der BVwG hat sich mit der Minderjährigkeit des Asylwerbers befasst. Wie eine in den Augen des VfGH ausreichende Befassung aussehen sollte, ist leicht zu erraten. Von Interesse sollte hier aber sein, dass der Beschwerdeführer bei seiner mündlichen Verhandlung nach 4-jährigem Behördenverkehr zum ersten Mal bemerkte, dass sein Geburtsdatum nicht stimmte: er wäre nämlich sonst bei der Verhandlung Ende 2019 bereits volljährig gewesen.
Es kann eigentlich keine unglaubwürdige Fluchtgeschichte geben, wenn selbst hanebüchene vom VfGH geglaubt werden. Warum die Arbeiterkammer überhaupt noch ein "Recht, nicht gehen zu müssen" fordert, wo dieses de facto schon existiert, verwundert. Aber wer weiß: vielleicht rekrutiert ja auch die IRA protestantische Minderjährige für Anschläge auf protestantische Kirchen und wir lesen nur nichts davon in der Zeitung.
https://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Vfgh&Dokumentnummer=JFT_20210223_20E01223_00
"Karl Berger" ist ein Pseudonym. Der Autor ist bei einer international aktiven Beratungsfirma tätig und muss daher um Anonymität bitten. Er betreibt unter https://asylwatchinoe.blogspot.com einen Internet-Blog, der sich auf die Analyse der Asylentscheidungen insbesondere des Verfassungsgerichtshofs spezialisiert hat.