Von der Öffentlichkeit unbemerkt gibt es einen heftigen Konflikt zwischen den in Asylfragen hohen und höchsten Gerichten: Im vorliegenden Fall wirft der Verfassungsgerichtshof (VfGH) dem Bundesverwaltungsgerichtshof (BVwG) "Willkür" und Rassendiskriminierung im Sinne von Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander vor.
Der zugrundeliegende Fall (E2912/2020) betrifft eine siebenköpfige irakische Familie mit drei erwachsenen und zwei minderjährigen Kindern. Der Asylantrag datiert vom August 2015. Seit diesem Tag hat noch keine Behörde und kein Gericht (auch nicht der VfGH) den Asylgründen – eine angebliche Entführung einer apolitischen und durch und durch sunnitisch-muslimischen Familie durch den IS – Glauben geschenkt: "Festgestellt werden kann, dass die beschwerdeführenden Parteien den Herkunftsstaat ausschließlich in Erwartung besserer Lebensbedingungen im Ausland verlassen haben." Die Verfahren laufen also jahrelang lediglich aufgrund von Nebenfragen und einem unglaublichen Ping-Pong-Spiel zwischen den Gerichtshöfen.
Im März 2018 wurden die Asylanträge und subsidiärer Schutz per Bescheid abgelehnt und die Rückreise angeordnet. Die Berufung landete erstmalig beim BVwG, der nach Ermittlungen, die sich bis ins Jahr 2020 zogen, alle Anträge am 13. 2. 2020 ebenfalls ablehnte. Das Verfahren landete dann beim VfGH, der am 8. 6. 2020 erkannte, dass das BVwG Willkür und rassische Diskriminierung übt, weil das Gericht folgendes nicht ausreichend geprüft hätte:
- Es würden keine Feststellungen zur Situation von Minderjährigen in der irakischen Provinz Diyala erhoben;
- Es gäbe in der Provinz Diyala eine unsichere Sicherheitslage und die individuelle Situation der Beschwerdeführer wurde ungenügend betrachtet.
Somit musste sich das BVwG noch einmal mit diesem Fall befassen und dies geschah am 14. 7. 2020 auf eine für den VfGH wohl sehr überraschende Weise. Die Bescheide wurden zwar dem Erkenntnis des VfGH entsprechend "im aufgezeigten Umfang" aufgehoben, aber in der Begründung deutliche Kritik am höchsten Gericht geübt: "Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen hat der Verfassungsgerichtshof in seinem vom Bundesverwaltungsgericht nunmehr umzusetzenden Erkenntnis erkennbar nicht angestellt."
Die Vorgehensweise des VfGH ist bereits bekannt: Richter in Unterinstanzen werden angehalten, Arbeitschancen in Mazar-i-Sharif, Clan-Anbindungen in Bula-Hawa und in diesem Fall die Situation von Minderjährigen in der irakischen Provinz Diyala zu prüfen. In Gegenden, in denen diese Menschen ohne vorgeschobene Fluchtgründe und Reisen im Instanzenzug ohnehin leben würden.
Zu dieser Vorgehensweise meint das BVwG: "eine Begründung, worin nun der Verstoß gegen das zitierte Bundesverfassungsgesetz besteht bzw. wie und worin die (fremden) Beschwerdeführer durch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts im Vergleich mit anderen Fremden verletzt worden sein sollen, bleibt er allerdings schuldig."
Einen noch härteren Schlag ins Gesicht bereitet der nächste Satz: "Ungeachtet dieser dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs anhaftenden Fehler wird nicht verkannt, dass selbst Erkenntnisse dieser Art vom Verwaltungsgericht umzusetzen sind".
Im Spruchteil B widmet sich der BVwG nun einer weiteren möglichen Revision vor dem VfGH. Um im Bild einer bekannten Science-Fiction Filmserie zu sprechen: Nachdem der Angriff des Imperiums abgewehrt wurde, widmet sich die Rebellenarmee nun dem Todesstern. Das BVwG erklärt, dass eine (weitere) Revision an den VfGH nicht möglich ist, da dadurch keinerlei wesentliche Rechtsfrage geklärt werden könnte und (im klaren Gegensatz zur Behauptung des VfGH) die Sprüche nicht von der bisherigen Rechtsprechung abweichen und diese daher nicht uneinheitlich ist: Also von welcher Diskriminierung redet der VfGH hier? Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung lägen jedenfalls bei einer weiteren Beschäftigung mit der Provinz Diyala keine vor.
Soweit nur einmal die Vorgeschichte. Gegen dieses Erkenntnis des BVwG wird im gegenständlichen Fall berufen – der VfGH hat somit eine Revision dennoch zugelassen und am 11. Dezember 2020 entschieden: Das Imperium schlägt zurück.
Die Entscheidung
Der VfGH hebt das Erkenntnis des BVwG auf. Mit der lediglichen Aufhebung der vom VfGH monierten Teile der Bescheide hat es das BVwG verabsäumt, in dieser Sache nochmals zu erkennen. Somit schloss sich sogar die Unterinstanz BFA dem gegenständlichen Verfahren vor dem VfGH an, nachdem das Verfahren der siebenköpfigen Familie nach der Teilaufhebung der Bescheide durch den BVwG dort wieder gelandet war. Es sei dem BFA nämlich nicht klar, ob es nun brav "Karten" für subsidiär Schutzberechtigte ausstellen oder abschieben soll. Ping – Pong – Ping – Pong.
Der VfGH spart nicht mit ebenfalls harten Worten: "Derartige, in die Verfassungssphäre reichende Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht gehäuft unterlaufen". Und: "Das angefochtene Erkenntnis ist willkürlich, weil begründungslos ergangen."
Der VfGH wiederholt die Feststellung, dass Diskriminierung unter Fremden vorliege. Das Verfahren wandert daher – zum 3. Mal – zurück an dem BVwG.
Ich meine dazu: Es liegt ein weiterer Asyl-Fall vor, in dem kein einziges Gericht bisher einen Asylgrund finden konnte.
Was der VfGH immer moniert, macht er selber: Formelhaft wird immer das gleiche festgestellt. Passend zur individuellen Situation des Asylwerbers nehme man ein "Arbeitsmarkt in Mazar-i-Sharif", "Clananbindung in Bula-Hawa" oder "Situation Minderjähriger in Diyala", füge ein "ungenügend geprüft" dazu und lande dann beim Urteil "Diskriminierung unter Fremden".
Zunächst stellt sich die Frage, welche genauere Prüfung den VfGH zufriedenstellen könnte. Er gibt diesbezüglich keinerlei Hinweise. Handelt es sich um ein Gutachten auf Basis eines Literatur- und Zeitungsstudiums, oder muss eine fünfköpfige Kommission (Jurist, Sozialarbeiter, Psychologe, Kinderbetreuer, Sicherheitsberater) vor Ort drei Monate lang die mögliche Reintegration prüfen?
Als nächstes stellt sich die Frage nach dem Maßstab: Sollte es jemandem, der aus einer irakischen Provinz geflohen ist, nicht zumutbar sein, ebendort hin wieder zurückzukehren? Beschwerdeführer 1 und 2 haben wohl 30 bis 40 Jahre im Irak gelebt. Bis zum ersten Bescheid lebten sie lediglich 3 Jahre im Ausland (nun sind es bald 6). Der mehrjährige Aufenthalt im Ausland basiert lediglich auf einer Lüge und der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist die nicht einzusehende Belohnung dafür. Natürlich ist eine Abschiebung ein radikaler Einschnitt in den Lebensstandard. Aber dieser nun höhere Lebensstandard wird zu 100 Prozent vom österreichischen Steuerzahler finanziert und dies nur, weil zu Unrecht eine individuelle Verfolgung geltend gemacht wurde.
Sollten die so drängenden Rechtsfragen des VfGH nicht schon dadurch geklärt sein, dass ein Leben in der Provinz Diyala offenbar möglich ist und man daher davon ausgehen kann, dass dies bei den Beschwerdeführern wieder der Fall sein wird? Es leben nämlich 1,6 Millionen Menschen in Diyala, davon vielleicht um die 400.000 Minderjährige. Eine Schwester der Beschwerdeführer lebt ebenfalls vor Ort und hat sogar Kinder, die in die Schule gehen. Nachdem keine individuellen Fluchtgründe vorliegen, ist auch die Sicherheitssituation der Familie bei einer Rückkehr in nichts schlechter als die der anderen 1,6 Millionen Menschen.
In einem Rechtsstaat sollte gerade der VfGH genauestens argumentieren, worin die Rechtswidrigkeit aufgehobener Bescheide besteht. Die Argumentation, die verwendet wird, lautet, dass durch eine "ungenügende" Prüfung die Beschwerdeführer im Vergleich zu anderen Fremden, deren Situation bei der Rückkehr genauer geprüft wurde, diskriminiert werden. Wer diese anderen sind, wie genau die Prüfung dort ausgesehen hat, oder wie sie im vorliegenden Fall aussehen sollte, bleibt offen.
Zudem werden vom VfGH reihenweise Erkenntnisse wegen Diskriminierung unter Fremden und ungenügender Prüfung aufgehoben, was die eigene Behauptung, dass es Fremde gibt, die besser behandelt werden, schon allein dadurch ad absurdum führt.
Es könnte einem somit insgesamt der leise Verdacht beschleichen, dass gar keine Prüfung ausführlich genug sein kann, um den VfGH zufrieden zu stellen.
Beim BVwG ist schon ein hoher Grad an Entnervtheit spürbar. Ohne es direkt zu sagen, werden vom VfGH nur positive Erkenntnisse – also Asylanerkennungen, Einräumung subsidiären Schutzes – akzeptiert. Bei negativen Erkenntnissen werden lebensfremde Prüfungen eingefordert. Noch wehren sich die unteren Instanzen, zumindest Teile davon. Allerdings mit untauglichen Mitteln, wie der vorliegende Fall zeigt, bzw. liegt hier vielleicht das Motiv vor, eine breitere Öffentlichkeit auf die Entscheidungspraxis des VfGH hinzuweisen.
Erkenntnisse
Die Doppelmühle: Mit der Forderung nach einer "individuellen" Prüfung und der anschließenden Behauptung der "Diskriminierung unter Fremden" hat der VfGH ein Instrument in der Hand, mit dem er ohne jede konkrete inhaltliche Argumentation jeden einfachen Asylbescheid aufheben kann, obwohl es bei diesem in keinster Weise um grundsätzliche Rechtsfragen geht.
Das SETI-Projekt
Das Vorgehen des BVwG, der natürlich wissen musste, dass sein Erkenntnis postwendend in einem neuerlichen gleichlautenden Erkenntnis des VfGH münden würde, deutet auf ein SETI-Projekt hin, ob es außerhalb der Justiz jemanden gibt, der die abgesendeten Signale empfängt – also sozusagen eine Search for Extra-Judicial Intelligence: Botschaft empfangen!
Richter
DDr. Christoph Grabenwarter (Vorsitz) Dr. Verena Madner, Dr. Michael Holoubek, Dr. Helmut Hörtenhuber, Dr. Claudia Kahr, Dr. Georg Lienbacher
Verweise
Links:
Episode V - Das Imperium schlägt zurück:
https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Vfgh/JFT_20201211_20E02912_00/JFT_20201211_20E02912_00.pdf
Episode IV – Eine neue Hoffnung
https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bvwg/BVWGT_20200714_G305_2192706_1_00/BVWGT_20200714_G305_2192706_1_00.pdf
"Karl Berger" ist ein Pseudonym. Der Autor ist bei einer international aktiven Beratungsfirma tätig und muss daher um Anonymität bitten. Er betreibt unter https://asylwatchinoe.blogspot.com einen Internet-Blog, der sich auf die Analyse der Asylentscheidungen insbesondere des Verfassungsgerichtshofs spezialisiert hat.