Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft

Am 5. Mai 1920 hält Lenin vor dem Bolschoi-Theater in Moskau eine Rede vor zehntausenden Rotarmisten. Er steht auf einem Podest aus Holz, neben ihm auf einer Treppe die Genossen Lew Borissowitsch Kamenew und Leo Trotzki. Als Stalin an die Macht kommt und sowohl Trotzki als auch Kamenew ermorden lässt, werden die beiden Genossen aus dem berühmten Foto wegretuschiert. Sie existieren fortan nicht mehr, sind auf Anweisung von oben aus der Geschichte gelöscht worden. In der Sowjetunion sind nur noch die historisch gesäuberten Bilder vom 5. Mai 1920 in Umlauf.

In sozialistischen Diktaturen wie der UdSSR und der DDR war das gängige Praxis. Man veränderte die Geschichte, manipulierte historische Begebenheiten entsprechend den ideologischen und politischen Wünschen der Gegenwart.

George Orwell beschreibt diese Praxis in seinem Roman 1984. Winston Smith, die Hauptfigur, arbeitet im "Ministerium für Wahrheit" und passt dort Zeitungsberichte und somit das Geschichtsbild an die gerade herrschende Parteilinie an. Er führt heimlich Tagebuch. Beim Versuch etwas über die reale Vergangenheit zu erfahren, die von der sozialistischen Staatspartei durch umfangreiche Geschichtsfälschung verheimlicht wird, gerät er in deren brutale Umerziehungs-Maschinerie.

Was man bisher nur aus Diktaturen und Dystopien kannte, ist auch im postdemokratischen Westen, in der EU und den USA, gängige Praxis geworden. Die Vergangenheit und unsere Geschichte werden laufend an den herrschenden politischen Zeitgeist angepasst. Jeden Tag und auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Das Wahrheitsministerium ist sozusagen dezentral organisiert und hat Tausende freiwillige und nicht selten ehrenamtliche Mitarbeiter.

Ein paar Beispiele: Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ist zu einem der wichtigsten und mächtigsten Instrumente des linken Geschichtsrevisionismus geworden. Hier werden historische Begebenheiten in einem fortwährenden Prozess entsprechend der dominanten sozialistischen Ideologie angepasst. So wird die Geschichte der DDR immer weiter geschönt, Verbrechen der SED verharmlost. In ein paar Jahren wird die DDR auf Wikipedia vermutlich das Arbeiterparadies gewesen sein, das sie nie war.

Bei Persönlichkeiten aus dem konservativen oder liberalen Lager werden systematisch negative Aspekte und Seiten hervorgehoben und deren Leistungen relativiert bzw. geschmälert. Bei Personen oder Institutionen aus dem linken Spektrum ist es umgekehrt. Vergleichen Sie z.B. die Einträge von Politikern der Grünen mit denen der FPÖ. Bei zweiteren finden sich tendenziöse, oftmals auch stark verzerrende und diffamierende Darstellungen, bei ersteren werden selbst Belanglosigkeiten umfangreich und wohlwollend abgehandelt.

Wäre Wikipedia eines von vielen Nachschlagewerken, wäre das Problem nicht dramatisch, doch diese Seite ist die wichtigste und oftmals einzige Informationsquelle für viele Menschen. Was immer man in eine Internetsuchmaschine eingibt, der Wikipedia-Eintrag steht weit oben. Was in dieser Online-Enzyklopädie über eine Person, Partei oder Institution geschrieben wurde, wird zum allgemeingültigen Wissen, zur historischen Wahrheit.

Auch in der Unterhaltungs- und Filmbranche wird fleißig an der Geschichte geschraubt und gebastelt. Ein aktuell diskutiertes Beispiel ist die Netflix-Serie "Bridgerton". Die Handlung spielt in der britischen Aristokratie des frühen 19. Jahrhunderts. Der Protagonist, ein Lord, und viele andere Charaktere werden von schwarzen Schauspielern dargestellt. Man nennt das "farbenblindes Casting". Sprich, die Hautfarbe der Darsteller spielt – ungeachtet der historischen Realitäten – keine Rolle. Das ist natürlich Unsinn. Die Hautfarbe spielt beim "farbenblinden Casting" sogar die Hauptrolle.

Auch in diesem Fall soll das Geschichtsbild dem vorherrschenden Zeitgeist, der von linker Identitätspolitik, Black-Lives-Matter-Parolen und Rassismus gegen Weiße geprägt ist, angepasst werden. Die Geschichte der Europäer, des Westens, der alten weißen Männer, wird Schritt für Schritt so verändert und dargestellt, wie es die dominanten politischen Kräfte für ihre Agenden brauchen, wie sie sie sehen wollen. Die Rolle der Europäer in der Weltgeschichte wird gerade umgeschrieben und umgedeutet.

"Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft", hat es die sozialistische Staatspartei in Orwells 1984 ausgedrückt. Auch der Inhalt von Büchern wird unablässig inhaltlich und sprachlich verändert und adaptiert. Man denke an die "Zehn kleinen Negerlein", die im Buchhandel nur noch als "Zehn kleine Kinderlein" zu bekommen sind. Selbst die linke Wochenzeitung "Die Zeit" schreibt: "Aus Kinderbuch-Klassikern sollen Wörter gestrichen werden, die nicht mehr politisch korrekt sind. Das ist gut gemeint, aber ein Vergehen an der Literatur." In der "Bibel in gerechter Sprache" ist mittlerweile – kein Scherz – von "Jüngerinnen und Jüngern" die Rede.

Immer mehr Klassiker der Literatur werden nach politisch korrekten Vorgaben gesäubert, geglättet und zensiert. Dass die Geschichte von den Siegern geschrieben und den Herrschenden verändert wird, ist kein neues Phänomen. Neu sind allerdings die umfangreichen Möglichkeiten, die Digitalisierung und Vernetzung bieten. So lassen sich die Spuren der Manipulation leicht löschen, Werke können beliebig verändert oder für immer gelöscht werden. Eine weitere Form der Cancel Culture.

Im Zeitalter des Internets, der Clouds, des Streamings und Sharings ist das kein unlösbares Problem, immer weniger Menschen besitzen Bücher, DVDs, Zeitschriften oder Nachschlagewerke physisch. Selbst das Speichern von Filmen oder Musik auf Festplatten ist aus der Mode gekommen.

Vom österreichischen Journalisten Robert Hochner stammt das Zitat: "Die Rache der Journalisten an den Politikern ist das Archiv." Das war einmal. Das Internet, Streamingplattformen, Dienste wie YouTube, Spotify oder Online-Enzyklopädien sind äußerst unzuverlässige Archive, anfällig für Manipulation, Interventionen, Zensur etc.

Verlässliche Speicher von Informationen und Wissen, auf die das politische Establishment und seine Helfershelfer – Medien, IT-Konzerne, NGOs, Institutionen, der linke Wissenschaftsbetrieb etc. – keinen Zugriff haben, wie eben auf das Buch, das zuhause im Regal steht, die alte TV-Doku auf Festplatte oder der Fischer Weltalmanach von 1998, verschwinden zusehends. Wie unzuverlässig Dienste wie YouTube als Archive und Speicher sind, erleben wir Tag für Tag. Videos von politisch unbequemen Personen werden einfach gelöscht. Dazu braucht es mittlerweile nicht einmal mehr den Druck von außen, zumal die linken Aktivisten schon in diesen Konzernen sitzen.

Das ist deshalb problematisch, weil die Linke alle relevanten und meinungsbildenden Bereiche unser Gesellschaft dominiert und im Internet einige wenige Konzerne – die Big Four – eine de facto Monopolstellung haben.

Eine gefährliche Kombination. Filme oder Videoaufnahmen werden von diversen Plattformen wie Netflix, Amazon Prime oder YouTube gestreamt, eBooks sind etwa auf der "digitalen Bibliothek" von Amazon gespeichert und können weder verkauft, kopiert noch vererbt werden. Musik hört man über Dienste wie Spotify. Wir leben in einer On Demand-Gesellschaft, wo man kaum noch etwas besitzt, sondern teilt, streamt, abruft, leiht. Alles ist flüchtig und im Fluss, die Vergangenheit ist – ähnlich wie in schriftlosen, tribalen Gesellschaften – nicht mehr linear, sondern eine Projektion ohne Gewissheiten, historische Daten und Fakten.

Das erleichtert es den Herrschenden ungemein, Inhalte in ihrem Sinn zu verändern, zu zensieren oder löschen. Dazu braucht es keine Diktatur, es reichen postdemokratische Verhältnisse, wo das Establishment und seine Helfershelfer (der tiefe Staat) über die Deutungshoheit verfügen und die meinungsbildenden Bereiche der Gesellschaft beherrschen.

Zwei aktuelle Beispiele. Nach einem Shitstorm von linken Aktivisten hat der Streamingdienst von HBO einen der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, "Vom Winde verweht", ("vorerst", wie man betont) von seiner Plattform gelöscht. Der Filmklassiker würde rassistische Vorurteile transportieren und wäre deshalb den Menschen der Gegenwart nicht mehr zuzumuten. Er soll aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht werden. Immer mehr Filme und Serien werden einfach verschwinden, weil sie eine andere Weltsicht oder Ideologie als die derzeit vorherrschende transportieren.

Ein weiteres Beispiel: Twitter hat alle Tweets von Ex-US-Präsident Donald Trump gelöscht. Damit sind diese historischen Dokumente mit einem Schlag weg. Das erleichtert es den linken Kräften und Trump-Hassern, weiter an ihrem Narrativ vom dummen, gefährlichen und schlechtesten US-Präsidenten aller Zeiten zu arbeiten. Seine politischen Leistungen, die sich mit Daten und Fakten belegen lassen, werden sukzessive ausgelöscht. Ohne allgemein und leicht zugängliche, authentische historische Quellen ist eine seriöse Aufarbeitung der Vergangenheit, eine echte Diskussion nicht mehr möglich.

Die das Internet beherrschenden IT-Giganten sind längst zu politischen Playern geworden und haben damit dem Establishment zu einer Machtfülle mit beinahe unbegrenzten Gestaltungsmöglichkeiten verholfen. Was über Google nicht mehr auffindbar, auf YouTube nicht mehr zu sehen, von Amazon nicht mehr verkauft wird, existiert de facto nicht mehr.

Wer sich etwa über den Autor dieser Zeilen via Google-Suche informiert, erhält nur noch nach politischen Vorgaben gesiebte und veränderte Informationen und ein Zerrbild der Realität. Es ist aber dieses Zerrbild, diese linke Karikatur eines Lebens bzw. Menschen, was bleibt. Ein Korrektiv gibt es praktisch nicht mehr.

Die Digitalisierung, Zentralisierung, Monopolisierung und Vernetzung von Informationen und der Archive des Wissens ermöglichen es jenen, die die Macht, Mittel und den Willen dazu haben, die Vergangenheit und unsere Geschichte beliebig zu verändern bzw. auszulöschen. Deshalb ist es wichtig, wenn es in unserer Gesellschaft möglichst viele private, analoge bzw. gesicherte digitale Archive gibt, auf die die linken Weltverbesserer und Gesellschaftsingenieure keinen Zugriff haben.

Werner Reichel ist Autor und Journalist. Er hat zuletzt das Buch "Europa 2030 – Wie wir in zehn Jahren leben" bei Frank&Frei herausgegeben.

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