Die Sterbehilfe, die Selbstbestimmung und die Menschenwürde

Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) wird vermutlich in Kürze über vier Beschwerden entscheiden, die auf die Legalisierung der Sterbehilfe in Österreich abzielen. Da der genaue Inhalt dieser Beschwerden der Öffentlichkeit bisher nicht mitgeteilt wurde, ist man hinsichtlich der rechtlichen Argumente, die gegen das Verbot der Sterbehilfe ins Treffen geführt werden, auf Mutmaßungen angewiesen; der Pressemitteilung des Höchstgerichts ist nur zu entnehmen, dass die Antragsteller die bestehende Rechtslage "aus mehreren Gründen" für verfassungswidrig halten, weil durch sie "leidende Menschen gezwungen (würden), entweder entwürdigende Verhältnisse zu erdulden oder – unter Strafandrohung für Helfer – Sterbehilfe im Ausland in Anspruch zu nehmen."

Es geht also wieder einmal um die Menschenwürde, jenen hehren Begriff, der heute für alles Mögliche zur Begründung herhalten soll, obwohl man mit ihm auch das genaue Gegenteil begründen könnte. Für die einen ist es "entwürdigend", Leiden ertragen zu müssen und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein; andere leiten aus der Menschenwürde ab, dass die Rechtsordnung gerade die schwächsten und gebrechlichsten Mitglieder der Gesellschaft unter besonderen Schutz stellen müsste, damit diese nicht unter Druck gesetzt werden können, vermeintlich "freiwillig", in Wahrheit aber vielleicht doch eher fremdbestimmt den Tod zu wählen.

In Österreich ist – im Gegensatz zu Deutschland, wo Artikel 3 des Grundgesetzes die Menschenwürde für "unantastbar" erklärt – der Menschenwürdebegriff nicht im eigentlichen Verfassungstext, dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) von 1921, anzutreffen, sondern findet seine verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die 1958 von Österreich nicht nur ratifiziert, sondern, da das B-VG selbst keinen Menschenrechtskatalog enthält, gleich auch in den Rang eines Verfassungsgesetzes erhoben worden ist.

Was damals als dringend erforderliche Schliessung einer Lücke gesehen wurde, führt heute zu einer merkwürdigen Zweigleisigkeit des Rechtsschutzes: der VfGH kann und soll die EMRK direkt und unmittelbar anwenden, ist aber bei ihrer Auslegung an die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden. Dies ist hier insofern von Bedeutung, als der Strassburger Gerichtshof in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Urteilen gefällt hat, die die Praxis der Euthanasie billigen und auf ihre Legtimierung abzielen. Dabei ist er bisher zwar noch nie so weit gegangen, Euthanasie als ein durch die Konvention gewährleistetes Menschenrecht zu qualifizieren; andererseits aber steht die Konvention diesen Urteilen zufolge der Praxis auch nicht entgegen.

In mehreren europäischen Ländern wie den Niederlanden, Belgien und Luxemburg ist Euthanasie ausdrücklich legal; Urteile des EGMR, die diese Rechtslage als Konventionsverstoss verurteilen, gibt es nicht.

Hingegen hat der Gerichtshof in der Rechtssache Haas gegen die Schweiz in einem obiter dictum mitgeteilt, dass das Recht, über Art und Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen, ein wichtiger Aspekt des Rechts auf Achtung des Privatlebens sei.

In der Entscheidung Koch gegen Deutschland nahm der er zwar davon Abstand, die Euthanasie ausdrücklich zu einem Menschenrecht zu erklären, rügte aber Deutschland dafür, dass dem Beschwerdeführer für sein Ansinnen, bei einer Apotheke ein Gift zur Tötung seiner querschnittsgelähmten und sterbewilligen Ehefrau erwerben zu dürfen, kein ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden sei. Solche "verfahrenstechnischen" Rügen sind ein beliebtes Mittel des Gerichtshofs, wenn es ihm darum zu tun ist, bestimmte Praktiken de facto zu einem Menschenrecht zu machen, ohne sie ausdrücklich so bezeichnen.

In frischer Erinnerung ist auch die Entscheidung Vincent Lambert gegen Frankreich, die den Fall eines Mannes betraf, der nach einem Motorradunfall im Koma lag, und dessen Versorgung mit Nahrung und Wasser auf Geheiss eines Gerichts eingestellt wurde, nachdem sich jemand daran erinnert hatte, dass Lambert vor Jahren einmal ganz beiläufig gesagt hatte, er wolle im Fall der Pflegebedürftigkeit nicht jahrelang hilflos dahinvegetieren. Aber wer von uns könnte sich sicher sein, dergleichen nicht schon einmal unbedacht geäussert zu heben? Und welche Garantie gibt es, dass sich nicht irgendein Zuhörer falsch an ein solches Gespräch erinnert?

Der Entzug von Wasser und Nahrung wurde spitzfindig nicht als Euthanasie gewertet, sondern als Abbruch einer aussichtslosen Therapie. Mit anderen Worten: Man liess den Mann vorsätzlich verhungern und verdursten, doch der EGMR sah darin keine Unvereinbarkeit mit der EMRK.

Ebensowenig nahm er im Fall Charlie Gard gegen das Vereinigte Königreich daran Anstoss, dass ein an einer als unheilbar geltenden Krankheit leidendes Kleinkind auf Anordnung eines Verwaltungsbeamten dem Hungertod überlassen wurde, da dies "in seinem besten Interesse" sei. Den verzweifelten Eltern hatte man nicht zugetraut, eine Entscheidung im Interesse ihres Kindes zu treffen – stattdessen setzte man besagten Beamten gegen den Willen der Eltern zum Sachwalter des Kindes ein, der dann die Euthanasie des Kindes verfügte. Den Eltern wurde untersagt, das Kind ausser Landes zu bringen, um sich dort nach einer Therapie umzusehen. Wie es scheint ging es zumindest in diesem letzteren Fall gar nicht wirklich um Selbstbestimmung, sondern um das genaue Gegenteil davon: um die Substitution des Willens des Kindes durch den Willen eines zur Entscheidung ermächtigten Bürokraten, bzw. um die Verwirklichung dessen, was nach Ansicht dieses Bürokraten in einem vermeintlich objektiven Sinn "das Beste" war.

Diese Judikatur des EGMR wird zweifellos Auswirkungen darauf haben, wie der österreichische VfGH zwischen dem Rechtsgut des menschlichen Lebens und jenem der Selbstbestimmung abwägen wird. Der VfGH hat zudem in letzter Zeit mehrfach erkennen lassen, dass eine gewisse Neigung zu gesellschaftspolitischem Aktivismus auch ihm nicht fremd ist.

Sein Handlungsspielraum ist freilich dadurch ein wenig eingeschränkt, dass er Gesetze, die er als verfassungswidrig beurteilt, zwar ganz oder teilweise aufheben, ihnen aber nichts hinzufügen darf. Im Extremfall kann die vom VfGH verfügte Korrektur nicht nur in der Streichung eines Satzes, eines Satzteiles, oder einzelner Worte bestehen, sondern sich sogar auf die Entfernung einzelner Buchstaben oder Satzzeichen beschränken, wenn nur der verbleibende Text einen grammatikalisch richtigen Sinn ergibt. Hinzufügen darf er aber nichts, denn das wäre ein Akt der formellen Gesetzgebung, der dem Gerichtshof verwehrt ist; er darf nur Gesetze aufheben, nicht welche schaffen. Dies ist im vorliegenden Fall wichtig, wenn man sich den Wortlaut jener beiden Bestimmungen näherhin ansieht, die den Gegenstand der beim VfGH anhängigen Beschwerden bilden.

Da ist zunächst einmal §77 des österreichischen Strafgesetzbuches, der die "Tötung auf Verlangen" unter Strafe stellt und somit den eigentlichen Kern des Sterbehilfeverbots darstellt. Er lautet: "Wer einen anderen auf dessen ernstliches und eindringliches Verlangen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen." Diese Bestimmung ist im Kontext des österreichischen Strafrechts eine "privilegierende" Bestimmung: vom Grundtatbestand des Mordes (§ 75 StGB) unterscheidet sie sich dadurch, dass an ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal, das "ernstliche und eindringliche Verlangen" des Opfers, eine wesentlich geringere als die ansonsten vorgesehene Strafdrohung knüpft: statt lebenslanger droht dem Täter eine höchstens fünfjährige Haftstrafe.

Würde man nun diese Bestimmung als Ganze aufheben, so entfiele damit nicht die Strafbarkeit der Sterbehilfe, sondern nur ihre Privilegierung: sie wäre dann wie ein "gewöhnlicher" Mord zu betrachten und stünde unter einer dementsprechend höheren Strafdrohung. Die teilweise Aufhebung der Bestimmung könnte hingegen nur darin bestehen, dass die Wortfolge "auf dessen ernstliches und eindringliches Verlangen" gestrichen wird. Dies hätte ebenfalls nicht den von den Beschwerdeführern angestrebten Effekt: es würde nur allgemein die Strafdrohung für Mord herabgesetzt, aber nicht die Straffreiheit der Sterbehilfe bewirkt.

Auch diese Möglichkeit steht dem VfGH also nicht offen. Andere Möglichkeiten, durch die Streichung einzelner Worte oder Textbestandteile zu einem grammatikalisch korrekten Satz zu gelangen, der die Tötung auf Verlangen straffrei stellt, bestehen ersichtlich nicht. Dem Gerichtshof bleibt also nur eine Möglichkeit: er kann verfügen, dass die gesamte Norm nach Ablauf einer bestimmten Frist ausser Kraft tritt, und dem Gesetzgeber nahelegen, innerhalb dieser Frist eine neue Regelung der Sterbehilfe zu beschliessen. Der Haken dabei: kommt der Gesetzgeber dieser Aufforderung nicht nach, so ist nach Ablauf der Frist die Sterbehilfe nicht straffrei, sondern mit strengerer Strafe bedroht als zuvor.

Die Situation entscheidet sich also ganz grundlegend von jener, die es dem VfGH vor drei Jahren erlaubt hat, handstreichartig die Homo-Ehe durchzusetzen. Die dummdreiste Entscheidung war letztlich nur deswegen möglich, weil die Definition der Ehe in §44 ABGB im Jahr 1810 zufällig so formuliert worden war, dass auch nach Streichung der zwei Worte "verschiedenen Geschlechts" ein grammatikalisch korrekter (wenn auch inhaltlich grotesk sinnwidriger) Satz verblieb: so können nunmehr zwei Personen desselben Geschlechts eine Ehe schliessen, indem sie ihren Willen erklären, gemeinsam Kinder zu zeugen und zu erziehen. Solange nur die Grammatik stimmt, braucht der Inhalt keinen Sinn zu ergeben. Bei § 77 StGB kommt ein solches Vorgehen des VfGH freilich nicht in Betracht.

Anders verhält es sich freilich mit der zweiten Rechtsvorschrift, deren Aufhebung von den Befürwortern der Euthanasie erhofft wird. § 78 StGB, der u.a. die Mitwirkung am Selbstmord eines anderen verbietet, hat den folgenden Wortlaut: "Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen." Auf der Tatbestandsebene unterscheidet sich das hier unter Strafdrohung gestellte Tatbild von jenem in § 77 StGB dadurch, dass bei § 78 der Täter dem Opfer z.B. einen Becher mit Gift oder eine geladene Pistole reicht, wobei aber das Opfer die finale Tötungshandlung selbst setzt. Der vom Gesetz vorgesehene Strafrahmen ist derselbe. Ein spezielles Verbot der Beihilfe zum Selbstmord ist freilich nur deswegen notwendig, weil der Selbstmord an sich nicht strafbar ist; ist nämlich eine Tat bei vorsätzlicher Begehung strafbar, so gilt für die Beihilfe oder Bestimmung zu ihr automatisch dasselbe. § 78 StGB ist demnach keine privilegierende Sondervorschrift, sondern eine ganz eigenständige Strafbestimmung; würde sie vom VfGH aufgehoben, so wäre die Beihilfe zum Selbstmord fortan straffrei.

Der bedauerliche Präzedenzfall des – in fachjuristischer Hinsicht blamabel schlecht begründeten, aber vor keiner höheren Instanz anfechtbaren – Erkenntnisses zur Homo-"Ehe" lässt befürchten, dass der VfGH auch im Fall der Euthanasie der Versuchung nachgeben wird, in einer hochsensiblen gesellschaftspolitischen Frage unter Missbrauch seiner institutionellen Befugnisse als Gesetzgeber tätig zu werden. Wenn ich eine Prognose abgeben darf, so ist es diese: der VfGH wird § 77 StGB (das Verbot der Tötung auf Verlangen) unangetastet belassen, § 78 StGB (das Verbot der Beihilfe zum Selbstmord) hingegen aufheben.

Zur Begründung werden wir ein reichlich verworrenes, in hochtrabendem aber grammatikalisch fehlerhaftem Juristendeutsch formuliertes Raisonnement zu lesen bekommen, in dem viel von "Selbstbestimmung", "Autonomie" und "Privatleben" die Rede sein wird, und das vor allem dazu dienen soll, mit irgendwelchen differenzierenden Kriterien die ungleiche Behandlung der beiden Strafvorschriften, von denen die eine bestehen bleiben darf, die andere hingegen nicht, in einem möglichst plausiblen Licht erscheinen zu lassen. Über den eigentlichen Grund für die Differenzierung – nämlich dass sich im einen Fall, wie oben dargelegt, mit der Beseitigung der Strafvorschrift die Straflosigkeit des bisher verpönten Handelns erreichen lässt, im anderen jedoch nicht – wird man vermutlich den Mantel des Schweigens breiten.

Diese Entscheidung wird sich freilich bei kritischer Betrachtung als nicht stichhaltig erweisen, weil sich eine derart ungleiche Behandlung zweier fast völlig gleichgelagerter Tatbestände im Grunde nicht begründen lässt. Es ist kein Zufall, dass nach bisheriger Rechtslage für beide Delikte derselbe Strafrahmen gilt. In beiden Fällen geht es ja darum, jemandem, der – dies wird ja vorausgesetzt – sterben will, möglichst verlässlich und dabei schmerzfrei zum Tod zu verhelfen. Ob es für die moralische Bewertung überhaupt irgendeinen Unterschied macht, dass im einen Fall nur Beihilfe geleistet, im anderen hingegen selbst eine finale Tötungshandlung gesetzt wird, kann dahingestellt bleiben: der Unterschied ist jedenfalls nicht so gross, dass man in einem Fall eine bis zu fünfjährige Freiheitsstrafe verhängen kann, während im anderen Fall der Täter straffrei bleibt.

Das Schlüsselargument wird zweifellos die "Selbstbestimmung" sein, der neue Fetisch unserer Rechts- und Moralordnung. Das Argument geht aber in mehrfacher Hinsicht fehl.

Zuerst und zuvorderst ist festzuhalten, dass es hier weniger um die Selbstbestimmung des Sterbewilligen geht – dieser hat ja, soweit er dazu noch in der Lage ist, immer die Möglichkeit, ohne Hilfe eines anderen Selbstmord zu begehen, sondern eher um die Selbstbestimmung desjenigen, der den Sterbewilligen direkt töten oder ihm Beihilfe zum Selbstmord leisten will. Aus der Sicht des Sterbewilligen geht es allenfalls um das Recht, andere fremdbestimmen, d.h. sie zur Euthanasie oder zur Beihife zum Selbstmord bestimmen zu dürfen. Diese Unterscheidung scheint nicht unwichtig, da in der Diskussion immer wieder auf den Begriff der "Selbstbestimmung" rekurriert wird.

Zweitens ist zu bedenken, dass die beiden Strafbestimmungen der §§ 77 und 78 StGB überhaupt nicht darauf abzielen, jemandem das Recht auf Selbstbestimmung zu entziehen oder ihn "zum Leben zu zwingen". Ganz im Gegenteil: Diese beiden fast inhaltsgleichen Bestimmungen dienen dazu, die schwächsten und hilfsbedürftigsten Mitglieder der Gesellschaft vor einer wahrhaft todbringenden Fremdbestimmung zu schützen.

Einem kranken, hilflosen, auf die Hilfe anderer angewiesenen Menschen kann nämlich sehr leicht suggeriert werden, seine Existenz stelle für seine Umgebung eine unzumutbare Belastung dar, weshalb es für ihn letztlich eine Frage des Anstands sei, nicht auf das vielleicht noch in weiter Ferne liegende "natürliche" Ende zu warten, sondern beizeiten durch Euthanasie oder Selbstmord aus dem Leben zu scheiden. Man kann eine solche Entscheidung auch sehr leicht als besonders "würdig" und "selbstbestimmt" verbrämen – in Wirklichkeit wird sie doch oft fremdbestimmt, oder es wird zumindest schwer auszumachen sein, in welchem Ausmass eine solche Entscheidung auf den eigenen Wunsch und in welchem Ausmass sie auf (mehr oder weniger subtilen) Druck anderer Personen zurückzuführen ist. Eine eindeutige Unterscheidung dürfte in den meisten Fällen schwer zu treffen sein.

So scheint es denn selbst dann, wenn im Einzelfall jemand tatsächlich vollkommen selbstbestimmt zu der Entscheidung gelangt, sterben zu wollen, zumutbar, ihm die Mithilfe bei der Verwirklichung vorzuenthalten: wenn er sich selbst die Mittel zur Tat beschafft und diese ohne Wissen und Beihilfe anderer ausführt, dann kann zumindest mit einer gewissen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sein Sterbewunsch wirklich selbstbestimmt war.

Übrig bleiben diejenigen, die aufgrund ihrer Situation – man denke etwa an einen Querschnittsgelähmten – tatsächlich nicht in der Lage sind, ohne Mithilfe Selbstmord zu begehen; doch ist gewiss eine Rechtslage besser, die diesen Menschen die Verwirklichung ihres Ansinnens vorenthält, als eine, die zwar ihnen hilft, zugleich aber viele andere, die es gar nicht wollen, unter Druck setzt, den Tod zu wählen. Diese Abwägung muss der Gesetzgeber treffen, und er muss sie gerechterweise letztlich so treffen, wie es in der bisherigen Rechtslage reflektert ist. Die Selbstbestimmung der Sterbewilligen hat keine höhere Wertigkeit als jene der Lebenswilligen.

Drittens muss man sich fragen, ob die "Selbstbestimmung" wirklich ein so hohes Gut ist, dass es alle anderen Erwägungen übertrumpfen und ausser Kraft setzen kann. Aus dem Gesamtbestand unserer Rechtsordnung ist dies nicht herleitbar; diese setzt vielmehr der Selbstbestimmung des Einzelnen in dessen eigenem Interesse und zu dessen eigenem Schutz enge Grenzen. Wir verfügen tagtäglich über uns selbst: die Wahl einer Ausbildung, die Berufswahl, die Wahl eines Lebenspartners, ja, letztlich jede Entscheidung, dieses oder jenes Produkt zu kaufen, die Freizeit mit dieser oder jener Tätigkeit zu verbringen, sind letzten Endes solche Selbstverfügungen.

Manche dieser Entscheidungen können korrigiert werden, bei anderen ist es eher schwierig. Die Selbsttötung bzw. das Verlangen, getötet zu werden, ist aber die radikalste und endgültigste Form der Selbstverfügung, über die hinaus keine radikalere und endgültige Verfügung gedacht werden kann. Nun bemüht sich unsere Rechtsordnung aber darum, das Rechtssubjekt vor allzu weitgehenden und unüberlegten Selbstverfügungen zu schützen: ganze Rechtsgebiete, wie etwa das Arbeitsrecht, das Mietrecht, oder der Konsumentenschutz basieren auf genau diesem Gedanken. Wenn es ein heiliges "Menschenrecht" sein soll, selbstbestimmt zu sterben, dann ist es absurd, jemanden daran zu hindern, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen. Dann gibt es auch keinen Grund, die Prostitution zu verbieten, und man könnte es auch niemandem verwehren, wie Fantine in Victor Hugos Roman Les Misérables ihre Zähne oder andere Körperteile zu verkaufen. Selbstverständlich bestünde dann auch kein Grund, Verträge für unzulässig oder nichtig zu erklären, mit denen jemand sich zur Zahlung eines überhöhten Mietzinses oder dergleichen verpflichtet.

Die Behauptung, dass unbeschränkte Selbstbestimmung in unserer Rechtsordnung das höchste aller Rechtsgüter darstelle, ist eine ideologische Phantasterei. Selbstbestimmung ist gewiss wünschenswert, doch stösst sie nicht nur dort an ihre Grenzen, wo die legitimen Interessen anderer Menschen, sondern auch dort, wo der Mensch vor sich selbst geschützt werden muss.

Mit der Legalisierung der Sterbehilfe oder der Beihilfe zum Selbstmord würde die österreichische Rechtsordnung an innerer Konsistenz verlieren; sie würde zu sich selbst in Widerspruch geraten, weil sie dann das Selbstverfügungsrecht des Einzelnen zugunsten geringerwertiger Güter einschränken, ihm zugleich in Bezug auf sein Leben ein schrankenloses Selbstverfügungsrecht einräumen, und ihm mithin den (gerade im gegebenen Zusammenhang besonders notwendigen) Schutz vor einer unüberlegten Selbstverfügung entziehen würde.

Dr. Jakob Cornides ist Beamter der Europäischen Kommission, Generaldirektion für Aussenhandel. Dieser Beitrag gibt die Privatmeinung des Autors wieder und ist der Institution, für die er arbeitet, in keiner Weise zurechenbar.

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