Der Anlass dieser Rede des ungarischen Ministerpräsidenten ist an sich unbedeutend (Eröffnung eines christlichen Gemeindehauses). Aber inhaltlich ist sie ein für westeuropäische Ohren ganz erstaunliches Bekenntnis zum Christentum, und vor allem zu seiner zentralen Rolle für die Prägung, die Kultur, die Identität eines Volkes. In der Folge im kompletten Wortlaut:
Bevor ich meinen Festgruß vortrage, möchte ich einen Haussegen sprechen. "Jesus Christus in unserem Fenster, der Herrgott auf unserer Tür, in den vier Ecken unseres Hauses vier schöne Schutzengel, heilige Kreuze, kommt herein, Schutzengel, beschützt mich! Amen.” Segen, Friede, Gott segne die Bewohner dieses Hauses!
Es ist eine große Freude für mich, hier mit Ihnen sein zu dürfen, auf dem Dankgottesdienst einer in der Zahl der Seelen zunehmenden, kleinen (wobei dies bei uns schon als eine mittlere gilt), jedoch in ihrer Entschlossenheit und ihrer Beharrlichkeit umso stärkeren Gemeinde. Nichts zeigt Ihre Stärke besser, als dass Sie im Laufe weniger Jahre zunächst ein Pfarrhaus und ein Gemeindehaus errichtet haben, und dann dazu eine Kirche und auch ein die nationale Zusammengehörigkeit der Ungarn zum Ausdruck bringendes Mahnmal erbauten.
Sie haben eine als modern zu bezeichnende, sich aber trotzdem in die Traditionen des reformierten Kirchenbaus einfügende seelische Heimstatt errichtet, die gleichzeitig Ihre Zugehörigkeit zu Gott und zur ungarischen Nation zum Ausdruck bringt.
All das ist ein weiterer Beweis dafür, dass wir, Ungarn, auch tausend Jahre nach der Annahme des Christentums und 500 Jahre nach dem Beginn der ungarischen Reformation eine Kirchen erbauende Nation sind. Kirchen erbauende Nation: Das ist ein Titel, auf den wir in diesen Zeiten, in denen Kirchen zerstört werden, recht stolz sein können. Die Kirche und die Regierung arbeiten zusammen, damit unsere Kirchen sich überall im Karpatenbecken erneuern, und wo es bisher keine gab, sie aber benötigt werden, wie hier in Csömör, neue errichtet werden sollen. In den 15 Jahren unserer Regierung haben wir die Erneuerung von 3.000 Kirchen und die Errichtung von 130 unterstützt. Von diesen waren 1.124 Renovierungen reformierter Kirchen und die Zahl der neuen reformierten Gebäude beläuft sich auf 47.
Möchte die Regierung im Gegenzug dafür etwas? Ja, die Regierung bittet Sie: Bitte, seien Sie! Es ist die Aufgabe der Regierung, unser erbautes Erbe zu bewahren und zu beschützen, und die aktiven, mutigen Gemeinden zu unterstützen, die eine Kirchenrenovierung oder einen Kirchenbau beginnen.
Das Haus des Sämanns: ein vielsagender Name. Wenn ich es richtig annehme, dann ist das Ihre Botschaft dafür, dass die letzten Handgriffe, die am Gebäude angelegt wurden, für Sie nicht das Ende der Arbeit, nicht die Erfüllung eines Traumes bedeuten, sondern gerade erst den Anfang eines Weges. Das Gros der Arbeit, die Aussaat der Körner folgt erst jetzt. Wir kennen das Gleichnis vom Sämann und dessen Deutungen.
Das ist eine seltsame Geschichte. Jemand wie ich, der vom Dorf stammt, wird auch stutzig, wenn er sie hört. Es gibt nämlich in der ganzen Welt keinen Landwirt, der den Samen auf die Weise sät, wie dies uns diese Geschichte präsentiert. Wer hat schon so etwas gehört, dass jemand auch auf harten Boden, an steinige Stellen oder zwischen Dornen den wertvollen Samen säen würde?
Trotz seiner augenfälligen Merkwürdigkeiten versteht selbst auch der einfachste Mensch dieses Gleichnis sofort. Denn dies drückt das Wesen jener Arbeit am besten aus, aus dem das Christentum hervorspross und immer und immer wieder, von Generation zu Generation hervorsprießt. Es drückt aus, wenn ich es richtig verstehe, dass die Kirche ihre Gotteshäuser, ihre Schulen, ihre karitativen Institutionen nicht nur für die Gläubigen, die Getauften, die Konfirmierten öffnet, sondern auch für jene, die heute noch nicht des Segens des christlichen Glaubens teilhaftig geworden sind.
Dem ist die Stärke der Kirche zu verdanken, dem ist es zu verdanken, dass die Ausstrahlung der christlichen Kultur auch jene erreicht, die heute noch nicht zu ihren Angehörigen gehören. Diese historische Erfahrung deklariert unser Grundgesetz, wenn es formuliert, das Christentum sei eine die Nation erhaltende Kraft. Wir, Ungarn, sind auch der Meinung, dass das Christentum in der Lage ist, ganz Europa, ja sogar die ganze Welt zu erhalten.
Doch das Kapitel Nationales Bekenntnis des Grundgesetzes sagt auch, "dass nach den zur moralischen Erschütterung führenden Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts unsere seelische und geistige Erneuerung unbedingt notwendig ist”. Was auch immer jene sagen sollten, die die Glaubensgemeinschaft der Christen verlassen oder Anhänger der heute modischen Ideologien sind, die wir heute als europäische Kultur kennen, das ist das Ergebnis einer zweitausendjährigen Aussaat. Das ist keine philosophische, keine Partei-, keine ideologische, keine politische Frage, sondern ganz einfach eine Frage von Fakten.
Aus dieser Aussaat erwuchs auch im Karpatenbecken vor tausend Jahren der christliche ungarische Staat. Und in der Zeit der anderthalb Jahrhunderte der muslimischen, der osmanischen Besatzung bewahrte, vollbrachte das durch die Prediger ausgesäte Wort jene Rettung der Seelen, die Ungarn als ungarisches Land bewahrte. Wenn es keinen Gáspár Károli, keine erste vollständige Bibel in ungarischer Sprache gegeben hätte, würden wir uns heute nicht auf Ungarisch, sondern auf Türkisch oder auf Deutsch unterhalten.
Jene Körner, die die Apostel, die Missionare, die Reformatoren ausgesät haben, brachten im Leben vieler Menschen mindestens hundertmal soviel. Und diese Ernte sehen wir in unserer Architektur, in unserer Sprache, in unserer Literatur, in unserem Rechtssystem, in zahlreichen Schöpfungen der bildenden Kunst und vor allem im Leben vieler vieler Familien.
Aber, liebe Brüder und Schwestern, wir sehen von Zeit zu Zeit auch, dass in die Saat auch Unkraut hineingelangt. Und wir müssen uns auch mit der Erscheinung auseinandersetzen, dass das lärmende Vogelheer der modischen Ideologien auch zur Zeit der Aussaat erscheint, und diese versuchen dann die Lehre aus den Herzen der Menschen herauszupicken, wenn diese nicht tief genug angekommen ist. Deshalb ist es zugleich Liebe und Kampf, wenn man ein ungarischer Christ ist. Und auf Grund der Erfahrung von dreißig Jahren kann ich Ihnen sagen, dies ist auch das Credo der christdemokratischen Politik des 21. Jahrhunderts. Liebe und Kampf.
Jedes Fest ist eine Anhöhe, von der aus wir zurück auf den zurückgelegten Weg und nach vorne auf den nächsten Abschnitt blicken können. Das Fest der Reformation ist so eine Anhöhe. Entsprechend der zweitausend Jahre alten Lehre des Christentums weist uns heute dieses Fest darauf hin, dass es ohne die Aussaat auch keine Ernte gibt. So, wie es uns auch daran erinnert, was alles wir, Ungarn, schon vom Christentum erhalten haben.
Wie viele gute Dinge sind aus der in den ungarischen Boden ausgesäten christlichen Saat hervorgesprossen. Wir betrachten dieses viele Gute nicht als liebgewonnene, hochgeschätzte Stücke der Vergangenheit, sondern als Bausteine der ungarischen Zukunft. Und wir sind bereit, so wie auch bisher, an der Seite der ungarischen reformierten Kirche zu stehen, wenn sie nach der landesweiten Neubesetzung der Ämter mit neuem Schwung an die Aussaat, die Pflege der Saat und die Ernte gehen werden. Doch wir bieten auch für jene Fälle ein Bündnis, in denen sie mit der Kultivierung von Neuland beginnen werden. Es ist eine der edlen Traditionen und Vermächtnisse des ungarischen öffentlichen Lebens, dass die Kalvinisten, die Reformierten immer in einem über ihre Anzahl hinausgehenden Maß ihren Teil zum Dienst an den gemeinsamen öffentlichen Angelegenheiten beitrugen.
Die katholischen Brüder und Schwestern pflegen darüber auch Witze zu machen, doch bleibt die Tatsache eine Tatsache: Dies ist eine alte Tradition der ungarischen Politik. Und wir kennen auch viele Politiker, die während ihrer Arbeit auch innerhalb ihrer Kirche eine einem Presbyter entsprechende leitende Arbeit an der Seite von Seelsorgern, Superintendenten oder eben Bischöfen übernommen haben. So denken wir heute, am Fest der Reformation, an jene Ergebnisse, jene Errungenschaften, die wir der ungarischen Reformation zu verdanken haben: an die Schulen, an die karitativen Institutionen, an die Bewahrung der schönen ungarischen Sprache, an die Pflege der leidenden Menschen und an den Dienst der reformierten Staatsmänner im öffentlichen Leben von Gábor Bethlen bis István Tisza. Und so sollten wir jetzt auch für diese Kirche danken, für das Haus des Sämanns, mit dem die Reformierten von Csömör uns an das Wunder der Aussaat erinnern.
Soli Deo gloria!