Die neue Räterepublik

Herr Schäuble, einer von Merkels innerster Bundestags-Riege, schlägt vor, Bürgerräte in ganz Deutschland einzurichten. Über mehrere Wochenenden hinweg sollten sich diese mit kontroversen Themen auseinandersetzen, um Lösungen für Probleme in ihrem Umfeld zu erarbeiten. Sie wären offenbar auf lokaler Ebene zu installieren, vielleicht in Städten, Bezirken und Gemeinden, vielleicht in ausgewählten Regionen, um die große Politik der bisherigen Parteien-Demokratie zu unterstützen.

Dass dieser Vorschlag "kontrovers" diskutiert werden wird, ist mehr als vermutbar. Die Ablehner werden eine Kapitulationserklärung der Berliner Republik erkennen, die Befürworter einen Aufbruch zu einer revolutionären Erneuerung der deutschen Demokratie, über deren möglichen neuen (übernationalen) Namen die Bürgerräte gleich mitdiskutieren könnten.

Aber einige "schon länger in Deutschland Lebende", werden noch an das Rätewesen nach dem Ersten Weltkrieg denken. Da die anarchische Zeit nach dem Zusammenbruch der deutschen Monarchie mit nachfolgenden Bürgerkriegen ihren Weg in die Schulbücher gefunden hat, ist die Vergangenheitsbewältigung durch gemeinsames Erinnern ohnehin deutscher Kult. Damals wurden in ganz Deutschland Räte ausgerufen, allerdings im Namen arg verfeindeter Parteien, politischer Programme und Ideologien, um in heillos verworrener Zeit dennoch Wege in ein künftiges Heil zu finden.

Sollen die neuen Räte der "Jetztzeit" helfen, die drohenden Vergangenheiten nicht wiederkehren zu lassen? Sollen sie helfen, kommendem Unheil vorzubeugen? Sollen sie die entstehende Gesinnungsdiktatur, die Deutschland nach Ansicht nicht weniger Bürger bedroht, bekämpfen helfen? Oder sollen sie das Prinzip "Haltung", das vom obersten Turm der deutschen Regierungspolitik ausgerufen wurde, um die "bleierne" deutsche Demokratie wieder zum Leben zu erwecken, mit wirklichem Leben "von der Basis her" erfüllen?

Ein Beispiel: in einer extrem multikulturellen Zone Deutschlands könnten die Bürgerräte herauszufinden versuchen, ob und wie weit das "Wir schaffen das" realisiert worden ist. Wenn nicht zur Gänze – wie erwartbar – dann könnten sie herausfinden, wie mit "Problemen" der anhaltenden "Zuwanderung" und "kulturellen Integration" umzugehen ist. Probleme, die im Zusammenprall mit Fremdkulturen unvermeidbar sind und dennoch in den öffentlichen Medien meistens unter den Teppich gekehrt werden.

Der Vorteil wäre immens, denn die Bürgerräte stammen aus ihrer Region, sind dieser verpflichtet, sie sind "vor Ort." Keine bessere Perspektive können sich Bürger wünschen.

Jeweils an konkreten Problemen und diesseits der jeweiligen Phraseologie der hohen Politik orientiert, könnte die neue Institution Bürgerrat diskutieren, befinden, abstimmen lassen, um die Ergebnisse ihrer Beratungen den hohen politischen (Letzt)Entscheidern vorzulegen.

Mit genaueren und radikaleren Worten: die Zeit der humanitären und anderen Beschwichtigungs-Phrasen der Helikopterpolitik von Bundestag und Bundesregierung, von Landesparlamenten und Landesregierungen wäre als haltungslos und inhuman durchschaut und daher am Ende.

In den Bürgergremien würden jedoch, wie zu erwarten, die Mentalitäten und Prinzipien der aktuellen (Groß- und Klein-)Parteien kollidieren, die bunte Vielfalt der deutschen Parteien würde mitentscheiden darüber, was vorgeschlagen werden soll, um mögliche Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen zu verhindern. (Im Gegenfall, um diese vorzubereiten…)

Schäubles Vorschlag ist doppelsinnig, und es fragt sich, ob dem Erfinder seiner Idee das Problematische seines politischen Gedankens bewusst ist, und ob man ihn demnächst darauf aufmerksam machen sollte.

Das obige Beispiel ("multikulturelle Zone") ist nach Belieben auf alle Felder der aktuellen Politik erweiterbar: "Klimanotstand" in ganz Deutschland oder nur in einigen Städten?; Corona-Notstand in Deutschlands Regionen, nach Berufen und Freizeitaktivitäten unter die Lupe genommen; "Migrationskrise", um die Frage zu beraten, ob "Seenotrettung" mit oder ohne "Pull-Faktor", ob Deutschlands Türkeipolitik mit und ohne Geiselhaft möglich ist.

Und warum sollen Bürgerräte nicht auch brennende EU-Fragen wie beispielsweise eine neue Schuldenunion und zentralisierte Staatenfinanzierung als Problemfälle diskutieren dürfen? Ein "Europa der Regionen" wurde schon mehrmals als Heil im drohenden Unheil verkündet, wenn auch vielleicht nur, um die Nationalstaaten Europas früher als geplant zu entsorgen.  

Mit einem Wort, der Räte-Hilferuf aus den Helikoptern der hohen Politik an das staunende Bürgervolk am Land unten vor Ort, ist entweder ein Menetekel kommenden Unheils oder ein erster Hoffnungsschimmer am Horizont der Zukunft. Diese wird uns (un)rechtzeitig belehren und berichten.

Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.

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