Trotz ihres im Neuen Testament enthaltenen Auftrags zur Trennung von Thron und Altar war und ist die christliche Kirche seit ihren Anfängen nicht unpolitisch. Allerdings hatten ihre politischen Ambitionen in fernerer Vergangenheit stets – das gilt selbst für den Aufruf zum ersten Kreuzzug durch Papst Urban II. im Jahr 1095 – eine stark religiöse Komponente. Das Seelenheil der Gläubigen wurde nie vernachlässigt.
Seit der ersten, 1891 durch Papst Leo XIII. verfassten Sozialenzyklika Rerum novarum, nimmt die Kirche allerdings einen immer stärker werdenden Bezug auf politische Entwicklungen. Mit der Enzyklika Quadragesimo anno im Jahr 1931 (Papst Pius XI.) und Populorum progressio 1967 (Papst Paul VI.) intensivierten sich ihre weltlichen Forderungen in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen. Das von Papst Franziskus 2013 verfasste apostolische Lehrschreiben Evangelii gaudium schließlich liest sich über weite Strecken wie ein von Marx’schem Ungeist inspiriertes Klassenkampfpamphlet.
Die Tendenz ist unübersehbar: Rerum Novarum geht auf die damals aktuelle Herausforderung durch den Sozialismus ein und beschwört in einer vorsichtig abwägenden Weise einen "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Planwirtschaft. Durch das gesamte Papier zieht sich die Sorge vor einem Abgleiten der Arbeiterschaft in Materialismus und Atheismus.
Quadragesimo anno ist eine Hommage an den Verfasser von Rerum novarum, und aus zeitgeschichtlicher Perspektive zu beurteilen: In Italien sind die Faschisten seit 1922 an der Macht und in Deutschland erstarkt soeben der Nationalsozialismus. Befürwortet wird die Selbstorganisation der Arbeiterschaft, um der Macht des Kapitals wirksam begegnen zu können. Die Herstellung "sozialer Gerechtigkeit" wird zum Ziel erklärt. Doch immer noch geht es um eine "Erneuerung der Wirtschaft im christlichen Geiste".
Papst Paul VI. geht in Populorum progressio einen großen Schritt weiter und schwadroniert über die "soziale Gerechtigkeit zwischen den Nationen". Ganz Konstruktivist will er diese mittels einer Weltregierung herbeiführen. Er kritisiert freie Vertragsvereinbarungen, redet der Enteignung von Großgrundbesitzern das Wort und möchte "gierige" Kapitalisten daran hindern, die Früchte ihrer Investitionen nach eigenem Gutdünken von A nach B zu transferieren. Immerhin lassen Leo XIII., Pius XI. und Paul VI. keinerlei Zweifel an der Unvereinbarkeit einer rein materialistischen, atheistischen Philosophie mit dem christlichen Glauben aufkommen.
Das ändert sich mit Franziskus’ Lehrschreiben Evangelii gaudium 2013 dramatisch. Er geht in seiner befreiungstheologisch inspirierten Kapitalismuskritik sogar über Karl Marx hinaus, der immerhin die Effizienz der Marktwirtschaft nie bestritt. Franziskus spricht wörtlich von einer "Wirtschaft die tötet", übersieht dabei völlig die Funktion des marktwirtschaftlichen Systems als Wohlstandsgenerator, träumt von einem "neuen Menschen" und fordert die staatliche Planung und Lenkung der Ökonomie.
Wo es keine Marktwirtschaft gibt, sind alle gesetzlichen Garantien der Freiheitsrechte wertlos. Was soll Pressefreiheit in einem Lande, in dem alle Druckereien von der Regierung verwaltet werden? Oder Versammlungsfreiheit, wenn alle Versammlungshallen Regierungseigentum sind?
Ludwig von Mises
Offensichtlich hat die katholische Kirche ein gestörtes Verhältnis zur Marktwirtschaft. Doch wer seine Urteile vom Elfenbeinturm aus und unbeirrt von ökonomischen Sachkenntnissen trifft, läuft Gefahr, den verlockenden Sirenengesängen sozialistischer Gleichheits- und Umverteilungsapologeten zu erliegen.
Selbstverständlich kann von einer Organisation wie der katholischen Kirche nicht erwartet werden, sich jeden Kommentars zu vermeintlichen Fehlentwicklungen im irdischen Jammertal zu enthalten. Das muss sie auch nicht. Beispielsweise war der aus Polen stammende Papst Johannes Paul II. eine überaus politische Figur, dem – ausgestattet mit jahrzehntelangen Erfahrungen, wie man in einem totalitären System (über)lebt – ein maßgeblicher Anteil am Sturz der sozialistischen Systeme des Ostblocks zukam. Wenn es um den Kampf gegen gewalttätige Despotien geht, ist ein politisches Engagement der Kirche zweifellos angebracht.
Mit dem am 13. März 2013 begonnenen Pontifikat des aus Argentinien stammenden Papstes Franziskus (Jorge Mario Bergoglio) trat der bis dato am stärksten weltlich orientierte Mann die Nachfolge Petri an. Wie oben erwähnt, ging er in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) mit dem Kapitalismus scharf ins Gericht. In seiner im Mai 2015 präsentierten "Umweltenzyklika" Laudato si´ präsentierte Franziskus sich zur nicht geringen Überraschung der Gläubigen auch noch als Klimawandelexperte.
Dass es aber noch um einiges weltlicher geht, beweist er mit seinem rezenten Papier: Die kürzlich präsentierte Enzyklika Fratelli tutti, die "Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft" gewidmet ist, entbehrt jeglichen Transzendenzbezugs und jeden Gedankens zur Spiritualität. Weite Strecken des langen und redundanten Schreibens vermitteln vielmehr den Eindruck, dass es der Feder eines Aktivisten von "Attac" entstammt.
Doch auch etwas anderes fällt ins Auge: An gleich mehreren Stellen seines Schreibens zitiert und lobt Franziskus den Großimam Ahmad Al-Tayyeb von der Al-Azhar-Universität in Kairo, etwa, wenn er schreibt "…haben wir daran erinnert, dass Gott »alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen und sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben«".
Wer es jemals über sich gebracht hat, die "heiligen Schriften" des Islam zu studieren und somit um die darin postulierte, unüberwindliche Zweiteilung der Menschheit in Rechtgläubige und Kuffar (pejorative Bezeichnung für Ungläubige) weiß, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Offensichtlich bemüht Franziskus sich um eine totale Relativierung sämtlicher – auch religiöser – Werte, um seinem zwar sympathischen, aber ganz und gar unrealistischen Anliegen, alle Menschen zu Brüdern zu erklären, Vorschub zu leisten.
Eine an die Adresse Ahamd Al-Tayyebs oder an andere islamische Autoritäten gerichtete Forderung nach glaubwürdigen Bemühungen um eine Bekämpfung der Christenverfolgungen in islamischen Ländern sucht man in Fratelli tutti jedenfalls vergebens.
In weiterer Folge diagnostiziert Franziskus eine durch die Selbstherrlichkeit der Stärksten verursachte Verarmung der Gesellschaft: "…der harte und schleppende Weg zu einer geeinten und gerechteren Welt erleidet einen neuen und drastischen Rückschlag." Leider werden hier weder Ross noch Reiter benannt. Wer ist gemeint? Die abgehobene Politikerkaste scheint es nicht zu sein – wer aber dann? Natürlich darf auch die in jeder Gewerkschaftspostille enthaltene Kritik an der ungleichen Verteilung des Wohlstands nicht fehlen, wodurch angeblich die Verbreitung von Armut gefördert wird. Es folgt eine bereits in Laudato si formulierte Suada über das kapitalistische Wirtschaftsmodell, das seiner Meinung nach Menschen "ausbeutet, wegwirft und sogar tötet". Nun, wahr ist vielmehr, dass in den zurückliegenden Jahrzehnten der Kapitalismus dafür verantwortlich war, dass weltweit nur noch weniger als zehn Prozent der Menschen in absoluter Armut leben müssen. Angesichts dessen fragt sich, welchen erdfernen Planeten der Mond umkreist, auf dem Franziskus lebt.
Auch an einem Lamento über die fehlende "gerechte Verteilung natürlicher Ressourcen" lässt es der Papst nicht fehlen. Indes bleibt offen, wie dieser "Ungerechtigkeit" zu begegnen wäre. Ob damit etwa gemeint ist, Ölquellen im Mittleren Osten auszugraben und in die rohstoffarme Schweiz zu transferieren, und im Gegenzug dafür das Wiener Hochquellwasser nach Saudi-Arabien zu verfrachten?
Grundsätzlich zuzustimmen ist dem Papst, wenn er meint "Das Selbstwertgefühl einer Person zu zerstören ist ein einfacher Weg, um sie zu beherrschen." Leider bleibt auch an dieser Stelle erneut unklar, wer adressiert wird. Die von Franziskus mehrfach wohlwollend genannten politischen Eliten scheinen es wieder nicht zu sein. Wer aber dann?
Wer verfügt über Möglichkeiten – vor allem aber über die Macht –, das Selbstwertgefühl einer Person zu zerstören? Private Akteure können es nicht sein. Wohl eher ist es einmal mehr der Staat, der seine Bürger immer mehr in die Abhängigkeit treibt. Staatsquoten von nahe 50 Prozent können das bezeugen. So wird das Selbstwertgefühl der Menschen zerstört.
Durch das ganze zweite Kapitel zieht sich der in ermüdender Weise wiederkehrende Bezug auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37). Franziskus ist, gestützt auf diese rührende Geschichte, bemüht, um jeden Preis die Bedeutung des Begriffs des "Nächsten" umzudeuten und aufzulösen. Schließlich wäre das unter die Räuber gefallen Opfer ein Jude und der vorbeikommende und letztlich selbstlos hilfreiche Samariter ein Angehöriger eines ganz anderen – ja sogar feindlichen – Stammes. Und schon hat Franziskus das Problem aus der Welt geschafft, aus dem jedem Christen auferlegten biblischen Gebot zur Nächstenliebe eine Verpflichtung zur Rettung aller Bewohner des Planeten zu machen.
Wie bereits weiter oben geschrieben: Der Papst hat – und er steht damit in bester Tradition der 68er Revolutionäre – die Relativierung aller Werte auf seine Fahne geschrieben und er bleibt diesem Motto treu. Etwa wenn er schreibt: "Das Recht auf Privateigentum kann nur als ein sekundäres Naturrecht betrachtet werden, das sich aus dem Prinzip der universalen Bestimmung der geschaffenen Güter ableitet…"
Hier geht es richtig ans Eingemachte, denn, wie die Theoretiker der Österreichischen Schule nicht müde werden zu betonen, ist das Privateigentum eine wichtige, ja unabdingbare Voraussetzung für ein konfliktfreies Zusammenleben der Menschen. Nur die klare Unterscheidung von Mein und Dein kann das leisten.
Wer das Privateigentum relativiert, beschwört ein Hobbes’sches Szenario herauf, in dem jeder gegen jeden kämpft und der Mensch tatsächlich zu des Menschen Wolf wird.
Das Sondereigentum schafft eine staatsfreie Sphäre des Individuums, es setzt dem Auswirken des obrigkeitlichen Willens Schranken, es lässt neben und gegen die politische Macht andere Mächte aufkommen. Das Sondereigentum wird damit zur Grundlage aller staats- und gewaltfreien Lebensbetätigung, zum Pflanz- und Nährboden der Freiheit, der Autonomie des Individuums und in weiterer Folge aller fortschreitenden Entwicklung des Geistigen und des Materiellen.
Ludwig von Mises
Nachdem Franziskus ausgiebig die Globalisierung und deren angebliche Auswüchse geißelt, postuliert er das Recht jedes Menschen, ungeachtet seiner Herkunft, Kultur und Fähigkeiten, an jedem beliebigen Ort dieser Welt zu leben, ohne auf die Interessen Dritter Rücksicht nehmen zu müssen. Der Frage, ob und wer zuerst da war und ob sich daraus gewisse Schlussfolgerungen ergeben, widmet er kein Wort: "…wenn die Welt wirklich allen gehört, ist es egal, ob jemand hier geboren wurde oder außerhalb der Grenzen seines eigenen Landes lebt."
Überflüssig ist es, hervorzuheben, dass sich das Wort "wir" durch den gesamten Text zieht. Individuelle Ansprüche und Bedürfnisse, der Einzelne und seine Interessen, haben in der Gedankenwelt Franziskus’ keinen Platz. Entsprechend rabiat fällt seine an mehreren Stellen der Enzyklika formulierte Kritik an jeder Form des Individualismus aus. Gemeinnutz geht vor Eigennutz! Geschichtskundige Leser wissen um die Herkunft dieser Forderung...
Dass der Papst Bertolt Brecht gelesen hat, beweist dieser Satz: "Wenn jemand nicht das Notwendige zu einem Leben in Würde hat, liegt das daran, dass ein anderer sich dessen bemächtigt hat." Im Brecht’schen Original heißt es: Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.
Da ist sie wieder, die nicht umzubringende marxistische Latrinenparole, wonach der Reichtum des einen aus dem Elend das anderen resultiert: Wirtschaft als Nullsummenspiel. Deprimierend, in einem päpstlichen Dokument mit einem derartigen Ausmaß von ökonomischer Ignoranz konfrontiert zu werden.
Es folgt ein Bekenntnis gegen den Nationalstaat und die Forderung nach einer Weltregierung (unter der Fuchtel der UNO, wie sich an anderer Stelle erhellt): "Wir brauchen eine rechtliche, politische und wirtschaftliche Weltordnung…" Die Erkenntnis, dass politische Macht mit der Größe der jeweiligen Entität zunimmt und mit ihrer Zunahme deren Inhaber immer stärker korrumpiert, ist bis zu Franziskus nicht durchgedrungen. Anders ist die Forderung nach einer von einer einzigen Zentralbürokratie beherrschten Welt nicht zu erklären.
Im Lichte der oben zitierten Einlassungen mutet die folgende Passage seltsam widersprüchlich an: "Das Universale darf nicht zu einer homogenen, einheitlichen und standardisierten Domäne einer einzigen vorherrschenden Kulturform werden…" Dem ist auch aus libertärer Sicht zuzustimmen.
Auch diese, aus Laudato si´ übernommene Passage verdient Zustimmung: "Die Finanzkrise von 2007-2008 war eine Gelegenheit für die Entwicklung einer neuen, gegenüber den ethischen Grundsätzen aufmerksameren Wirtschaft und für eine Regelung der spekulativen Finanzaktivität und des fiktiven Reichtums. Doch es gab keine Reaktion, die dazu führte, die veralteten Kriterien zu überdenken, die weiterhin die Welt regieren". Allerdings kann unterstellt werden, dass mit der "fehlenden Reaktion" nicht etwa an einen Rückzug der Politik aus der Wirtschaft, sondern ans gerade Gegenteil – an eine staatlich gelenkte Planwirtschaft – gedacht ist.
Gegen Ende des Schreibens beschwört Franziskus – einmal mehr – in erschreckend naiv anmutender Weise die interreligiöse Brüderlichkeit: "Zwischen den Religionen ist ein Weg des Friedens möglich." Schon ein flüchtiger Blick in den Koran beweist die Weltfremdheit dieser Behauptung.
Doch es kommt noch schlimmer: "Die Wahrheit ist, dass Gewalt keinerlei Grundlage in den fundamentalen religiösen Überzeugungen findet, sondern nur in deren Verformungen." Und weiter: "Deshalb ist der verdammenswerte Terrorismus, […] nicht der Religion geschuldet – auch wenn die Terroristen sie instrumentalisieren –, sondern den angehäuften falschen Interpretationen der religiösen Texte…"
Dass das nachweislich falsch ist, weil jedes einzelne Verbrechen "islamistischer Extremisten" durch im Koran und in den Hadithen enthaltene Gebote begründet werden kann (weil sie – ob tatsächlich oder vermeintlich spielt keine Rolle – der Ausbreitung des Islams über den Erdkreis dienen), muss das Oberhaupt der katholischen Kirche wissen. Dass die fanatischen Fundamentalisten des IS oder der Boko Haram sich auf exakt dieselben Schriften stützen, wie ihre moderaten Glaubensbrüder rund um den Globus, ebenso.
Die Vorstellung einer friedlichen Koexistenz des Islams mit irgendeiner anderen Weltreligion wäre, wie die blutige Geschichte der zurückliegenden 1300 Jahre lehrt, nur unter der unabdingbaren Voraussetzung denkbar, dass es in der unter dem Zeichen des Halbmonds lebenden Welt ernstzunehmende Reformbemühungen gäbe, die nicht auf ein Zurück zum Jihad nach dem Vorbild Mohammeds hinauslaufen, sondern ein gleichberechtigtes und auf Augenhöhe erfolgendes Zusammenleben mit den "Ungläubigen" anstreben. Das zu erwarten, erscheint aus heutiger Sicht allerdings unrealistisch.
Dass Franziskus sein an die katholische Christenheit gerichtetes Schreiben mit einem gemeinsamen Aufruf des eingangs zitierten Großimams Ahmad Al-Tayyib von der Al-Azhar-Universität in Kairo beschließt, in dem die Brüderlichkeit beider Religionen betont wird, mag zwar von seinen schönsten Hoffnungen getragen sein, klingt angesichts der in der gesamten Welt des Halbmonds unentwegt stattfindenden Christenverfolgungen allerdings wie Hohn.
Es kann nicht verwundern, dass dem Papst ausgerechnet aus der Welt des Islams frenetischer Applaus für seine Enzyklika entgegenschlägt. Das lässt tief blicken. Was jetzt noch fehlt, sind Glückwünsche seitens "Attac", "Occupy Wallstreet", Antifa und sozialistischer Gewerkschaftsjugend.
Mein Reich ist nicht von dieser Welt. (Joh 18,36) So gebt dem Kaiser was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist! (Mt 22,21)
Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.