Zeus trifft Allah

Kundige Beobachter der angespannten Lage in der Ägäis (Türkei versus Griechenland bzw. Zypern) sind irritiert und bemühen die ehrenwerte Vokabel "überzogen", um zur Zurückhaltung aufzurufen. Zwar seien die wirtschaftlichen (Insel-)Ansprüche Griechenlands "überzogen", doch ebenso wenig seien die militärischen Drohungen der Türkei hinnehmbar. Eine Verstrickung des Politischen mit dem Wirtschaftlichen, das die Experten nötigt, Zwiebel mit Äpfel zu vergleichen und einen Basarhandel nach dem Motto vorzubereiten: Machst Du weniger Krieg, kriegst Du bessere (Wirtschafts-)Verträge und umgekehrt.

Um der Binsenweisheit, dass das Politische mit dem Wirtschaftlichen in jeder Station der Weltgeschichte untrennbar verstrickt ist, ein Schnippchen zu schlagen, könnte man daher versuchen, das Wirtschaftliche und das Politische – zunächst einmal – zu trennen: Das Wirtschaftliche zuerst, das Politische danach klären und befrieden. (Die regierenden Politiker schicken ihre dienenden ökonomischen Delegationen und Kohorten voraus, um durch "Unterverhandlungen" die heiße Luft in den folgenden und entscheidenden "Oberverhandlungen" herauszunehmen.)

Im aktuellen Fall (Ägäis) wird nun der EU vorgeworfen, sie habe sich aus Angst vor der Türkei erpressen lassen und vorschnell alle Forderungen Griechenlands zur eigenen Position gemacht. Ob sie sich dabei durch das aggressive und expansive Verhalten der Türkei verschrecken ließ, oder durch erwartbare Drohungen Ankaras mit weiteren Flüchtlingsmassen für Europa, oder "nur" durch Beistandsforderungen Griechenlands, das durch das Versagen der EU in der "Flüchtlingskrise" noch einige Gutscheine (im Tausch für Schaden und Kosten) offen zu haben scheint, ist angesichts eines lodernden Vorkriegszustandes beinahe gleichgültig (win Thema für schachspielende Historiker auf der Suche nach neuen "Schläfern").

Ausgerechnet die EU, die sonst in jeder kreativen Nebenfrage die Armada ihrer Justizgremien bemüht, was ihr schon den Ruf einer entstehenden europäischen Richterdemokratie eingetragen hat, sollte sich davor drücken (wollen), in den Fragen des globalen See- und Landrechts zwischen zwei NATO-Staaten im Südosten Europas klare Sicht zu gewinnen?

Man muss nicht Freund der heutigen Türkei sein, (und welcher besonnene Beobachter könnte einem Staat, der sich anschickt, eine islamistische Diktatur oder Ärgeres vorzubereiten, das Goderl kratzen?), um die für Griechenland ungünstigen Faktoren, die tief in die neuere Geschichte Europas zurückreichen, zu erkennen. 

Wird in der Frage der ägäischen "Wirtschaftszonen" klarer Tisch gemacht, müssen alle Verträge der Väter und Vorväter auf den Tisch, auch wenn dies der aktuellen EU unangenehm sein sollte, weil sie sich bereits im Land des ewigen Weltfriedens angekommen glaubt(e).

In deren (pazifistischer) Perspektive liegen die modernen Kriege zwischen der Türkei und Griechenland ungreifbar weit zurück, sie scheinen einer anderen Zeit anzugehören, unmöglich, dass sie jemals wieder aus dem Orkus der Geschichte in die Gegenwart "zurückkehren". Doch die in Europa halbvergessenen Kriege waren just jene, die besagte Verträge nach sich zogen, um die Ägäis mit ihren zahllosen Inseln (Ferienparadies für alle Nordeuropäer) zwischen den beiden Kontrahenten aufzuteilen.

Griechisch-Türkischer Krieg 1919-1922, Vertrag von Sèvres 1920 (Anerkennung der britischen Annexion Zyperns), Vertrag von Lausanne 1923 (Bevölkerungsaustausch und Grenzziehung), Vertrag von Montreux 1936 (Meerengen-Abkommen), Pariser Vertrag von 1947 (Inselabkommen).

Man kann verstehen, dass sich die EU scheut, zusätzlich zu den vielen ungelösten Problemen, die sie vor sich her schiebt, auch noch diese vergiftete Bredouille zu schlürfen. Dagegen scheint ihr die aktuelle Bredouille eines zwiespältigen Agierens in der Gegenwart das noch geringere Übel zu sein. Auf der einen Seite beschwört sie die verfeindeten Akteure, ungesäumt an den Verhandlungstisch zu eilen, auf der anderen Seite hat sie die Position eines unvoreingenommenen Vermittlers leichtsinnig und überhastet verlassen und verspielt, indem sie sich ganz auf die Seite Griechenlands gestellt hat.

Die Paradigmen der beiden Kampfhähne, die sich bislang fast nur mit Worten und Parolen auf den Pelz rücken, lassen sich mit zwei Schlagworten umschreiben: Festlandsockel gegen Inselreichweite. Doch setzt die Türkei, um ihr Paradigma durchzusetzen, nicht allein auf friedliche Verhandlungen, sondern unverhohlen auf militärische Eroberung. Nach dem Motto: Bist Du nicht willig, brauch‘ ich Gewalt.

Was aber in der Perspektive der heutigen Türkei, in der islamistische und andere Falken Regie führen, mehr als ein Vorteil, mehr als die "halbe Miete" ist, ist in der Perspektive ihrer Gegner (Griechenland, Zypern und EU) mehr als ein Makel: ein schwerer taktischer Fehler, der die Türkei als Paria der "Staatengemeinschaft" isoliere. 

Wäre die Türkei noch immer auf dem Weg Atatürks in eine laizistische Demokratie in Vorderasien unterwegs, wären endlose Verhandlungen und (Basar-)Handlungen zwischen der Türkei, Griechenland, Zypern und der EU als Vermittlerin und Friedens-Garantin) nicht mehr als eine diplomatische Selbstverständlichkeit. Aber dieser Traum ist vorerst Geschichte.

Nicht zufällig hofft die EU seit Jahrzehnten vergeblich auf eine Anerkennung Zyperns durch die Türkei. Wie in einem Nukleus des ägäischen Großkonflikts prallen die beiden Paradigmen in Zypern aufeinander: Der Norden durch die Türkei seit 1974 besetzt, der Süden ein souveräner Staat der EU.

Das doppelgesichtige Angebot der EU: Zwar sehe sie sich genötigt, als  Anwalt der Interessen Griechenlands aufzutreten, dennoch möge sich die Türkei zu Verhandlungen bequemen, läuft bei wohlwollender Interpretation auf die Aufforderung hinaus, Ankara möge sich auf Argumente besinnen und nicht an militärischen und anderen (erpresserischen) Drohungen festhalten. Nun ist es aber zugleich die Überzeugung vieler Protagonisten in Griechenland und in der EU, dass die Türkei jetzigen Zustandes nur die Sprache drohender Sanktionen "versteht", nur durch deren Gewalt zu bewegen ist, am Verhandlungstisch zu erscheinen.

(Mit einem Wort: die EU benötigte in dieser gefährlichen Situation ein politisches Genie, das den Widerspruch zwischen gewünschtem Verhandlungsgeist und feindseligem Behauptungsgeist durch eine strategische Meisterhandlung überwinden könnte. Ist ein Genie dieser überragenden politischen Geschicklichkeit im heutigen EU-Personal vorhanden? Wurde eines im Fall von Syrien und Libyen, oder gar im Fall von Israel und Palästina, Israel und Iran gesichtet?)

Die aktuelle Konfliktsituation in der Ägäis ist in der Perspektive der Geschichte kein Novum, im Gegenteil: mehr als oft erscheinen in ihr Kontrahenten, die gezielt aneinander vorbeireden, als ob sie dadurch schon bald mit Waffen besser aufeinander zielen könnten. Eine Situation, der philosophierende Historiker gern eine beredte Formel umhängen: "Der Knoten schürzt sich."

In der Tat: der Strang, an dem beide in ihrer opponierenden Zwangslage aneinandergefesselt baumeln, - ähnlich wie die schlimmen Buben des Wilhelm Busch nach einem mißglückten Streich – wird durch entfesselte Eigenbewegung strenger und strenger festgezogen, und wenn nicht ein historisches Wunder dazwischentritt, sind die beiden nach ihrem fatalen Abenteuer nicht wieder zu erkennen.   

Dass die Ägäis durch die Nachkriegs-Verträge nach 1922 in ein griechisches Meer und in eine (lange) türkische Küste aufgeteilt wurde, ist ein bekanntes europäisches Dilemma. Und geradezu nach Adam Riese war daher zu erwarten, dass eine nach neoosmanischer Größe wieder hochstrebende Türkei das Kleingedruckte dieser Verträge nochmals durchrechnen wird.

Das Prinzip der "Inselreichweite", weniger diplomatisch: der "ausschließlichen Wirtschaftszone", ermöglicht Griechenland beispielsweise folgende Kunstrechnung: Die kleine Insel Kastellorizo (Megisti), liegt kaum drei Kilometer vom türkischen Festland, aber über 120 Kilometer von Rhodos, seinem griechischen Verwaltungszentrum, entfernt: Ergibt einen gewaltigen "Insel-Sockel", und nur einen von vielen in der gesamten Ägäis. 

Wenn nun aber ausgerechnet in den Meeresgründen dieser ägäischen Ecke  reiche Quellen an Rohstoffen  aufgespürt werden, die moderne Staaten zu ihrem Überleben benötigen, ist es naheliegend, dass die Türkei das bisher geltende Prinzip der "ausschließlichen Wirtschaftszone" in Frage stellt und in provozierender Weise sogar für Kreta, der größten Insel in der Ägäis. 

Unter vernünftigen Partnern wäre nun zu erwarten (gewesen), dass ab sofort eine Konferenz die nächste zu jagen beginnt, um den Interessenkonflikt der beiden ägäischen Mächte zu klären: Mithilfe großer Politiker-Delegationen jeder Etage, Juristen jeder Zuständigkeit, und nicht zuletzt mit Firmen- und  Konzerne-Stäben regionaler und überregionaler Art.

Kann einer nicht alles haben, müssen alle angeflogenen Geier lernen miteinander zu teilen: im Tierreich durch die Kraft der Stärkeren, im Kulturreich unter Menschen durch vermittelnde Paradigmen und deren vertragsfähige Prinzipien.

(Menschen leben zwar auch als Menschen auf diesem Planeten, aber zugleich und davor immer schon als politische Tiere: Viele kleine und wenige große Tiere bekanntlich, und diese wenigen bestimmen zumeist (Revolutionen und analoge Verwerfungen ausgenommen), wohin die vielen laufen, was und wie sie denken und handeln sollen.

Das Zoon politikon des Aristoteles trägt unwiderlegbar die Geschichte der Menschheit. Und wäre es nur eines geblieben, oder, um die ganze Wahrheit zu sagen: jemals nur eines gewesen, hätte das politische Tier Mensch höchsten nur einen Bürgerkrieg, niemals aber Millionen Kriege (jeder Art) in die Welt setzen können. Den "Reichtum der Vielfalt" in der Domäne des zoon politikon erfuhr Aristoteles selbst sehr schmerzhaft in seinem eigenen Leben im späten antiken Griechenland. 

Auch am Begriff des Zoon politikon bestätigt sich die unhintergehbare Lehre der fundamentalen (Inhalts)Logik: Jeder Allgemeinbegriff ist ohne seine spezifischen Differenzen, die ihn unweigerlich in die Domäne der Geschichte hinüberführen, nur seine eigene Idylle, nicht mehr als eine Hülse von Begriff.

Das Zoon politikon existiert demnach zu jeder Zeit unter der Herrschaft hierarchischer Vertikalen (politisches Machtprinzip) und vielfältiger Horizontalen (ethnisches und kulturelles Populationsprinzip). Dennoch wurde die triviale Wahrheit, dass dieses Prinzipien-Paar immer und überall in der Menschheitsgeschichte wirkmächtig wird, ausgerechnet in der intellektuellen Geschichte des deutschen Geistes vergessen oder unterschlagen.

Kraft eines kräftigen Irrtums, den die marxistische Denkerrichtung des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert für Millionen Menschen plausibel machen konnte: Nicht das Zoon politikon, sondern das Zoon oeconomicon sei das Alpha und Omega der Weltgeschichte (Ein Irrtum, der die Entwicklung der Menschheit um mehr als ein Jahrhundert zurückgeworfen hat).

Wenn die Türkei 5000 syrische Kämpfer mit "Islamismus-Hintergrund" nach Libyen in den Süden von Tripolis verfrachtet, gut bezahlt und durch weiteres Marodieren samt leckerer Beute bestens versorgt, darf man sicher sein, dass eine satte Mehrheit im Zoon politikon der Türkei von heute auch diese neoosmanische Expansion begeistert begrüßt.

Wieder ein "Millionenspiel" einer politischen Führung, gegen das kein Kraut gewachsen ist, bis es sich selbst zu Fall bringt, indem es andere politische Mächte gegen sich aufbringt. Eine Expansion in der Ägäis wäre der vorläufige Höhepunkt aller bisherigen der Türkei auf Zypern, in Syrien, im Irak und in Libyen. 

Eine andere politische Führung befand 2006, dass Europa "klare Grenzen" brauche, eine Ansicht des damaligen französischen Präsidenten, der sich eine Mehrheit der europäischen Staatsführer anschloss. Dass die Atatürksche Revolution von 1923 ein Wink der Geschichte sein könnte, die kräftiger Hilfe bedürfe, um 2023 ein Erfolgsjubiläum feiern zu können, blieb ungehört. Auch die Mahnungen der damaligen Bush-Administration, Europa könnte schon bald eine "Brücke" benötigen, um den Demokratisierungs- und Befriedungsprozess in der islamischen Welt voranzutreiben, blieb ungehört. Stattdessen verfiel man auf die Gründung einer "Mittelmeer-Union", die bald in der Versenkung verschwand.

Folglich wurde die Türkei ihren latenten islamischen Tendenzen ausgeliefert, die bald zu einem Bruderzwist mit inszeniertem Staatsstreich im Haus des türkischen Islams führen sollten. Nun ist es für Europa zu spät, um nochmals die "Integrationskarte" mit der Türkei zu spielen.

Wie soll man jetzt mit dem großen politischen Tier in der Türkei verhandeln? Über dem Verhandlungstisch bietet es bestenfalls diplomatische Nasenlöcher und falsch dampfende Friedenspfeifen an, unter dem Tisch das Kriegsbeil, in seiner Aktentasche kaum verborgen.

Die Türkei ist in der Ägäis in einer ähnlichen Lage wie einst Hitlerdeutschland in Europa, das lange vor 1939 zahlreiche "verlorene" Gebiete "heim ins Reich" zu holte, ohne dass die Europäer und die USA aufgewacht wären.

Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.

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