"Never underestimate your opponent." "The virus does not care about state and district boundaries, does not care about red and blue.” Beide leicht verständlichen Statements des New Yorker Gouverneurs haben sich noch immer nicht flächendeckend herumgesprochen. Denn was angesichts dieser Krise welt- und landesweit an paradoxen gesellschaftlichen Verhaltensweisen, politischer Ignoranz, oppositioneller Destruktivität und Doppelmoral, Kriseninkompetenz oder selbsternannter "Rettung von Demokratie und Freiheit" erlebt werden muss, sprengt bei weitem die Möglichkeiten dieses Beitrages.
Grundsätzlich – Was haben wir denn anderes erwartet?
Hat man tatsächlich erwartet, dass nach Wiedereröffnung der Grenzen und der Urlaubsmöglichkeiten im In- bzw. Ausland das Virus sich nicht weiterverbreiten würde? Hat man tatsächlich erwartet, dass es "absolute Sicherheit" und "den perfekten Notfallplan" gäbe? Hat man tatsächlich erwartet, dass nach dem Lockdown etwa der Städtetourismus mit seinen Nobelhotels sofort wieder mit voller Auslastung fahren wird können? Hat man tatsächlich erwartet, dass sich alle Menschen "zum Wohle von heimischen Wirtschaftszweigen" unreflektiert einem erhöhten Risiko aussetzen würden? Hat man im Gegensatz dazu tatsächlich erwartet, dass sich jeder Einzelne zum Wohle der Gesamtheit penibel an die Regeln und Empfehlungen halten würde? Hat man tatsächlich erwartet, dass es zu keiner zweiten Welle kommen würde, ganz gleich wie man diese benennt?
Sollte man dies alles geglaubt haben, dann wurde dieser "Test" bereits hier nicht bestanden!
"When the pressure grows you see what people are made of. You see their true colors. Everything gets elevated.” (Cuomo)
Diese Krise bietet aber auch die Möglichkeit, ein wenig "hinter die Kulissen" politischer Rhetorik und Agitation zu blicken, bietet die Möglichkeit für den Normalbürger, zumindest zu versuchen herauszufinden, welchem Verantwortungsträger bzw. welcher politischen Kraft man diese Krisenbewältigung am ehestens zutrauen würde.
Und diese Krise entlarvt so manches: Einerseits gibt es da etwa eine 40-Milliarden-Zusatz-Unterstützungsforderung einer ehemaligen Regierungspartei kombiniert mit der Forderung nach einer Viertage-Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich. Abgesehen vom Verschweigen der Tatsache, dass nach der Krise diese 40 Milliarden wieder zurückgezahlt werden müssen, wäre es hochinteressant zu hören, wie denn etwa im Bildungsbereich in Wien die 4 Tage-Arbeitswoche für Lehrer angesichts eines ohnehin eklatanten Lehrermangels umgesetzt werden würde? Abgesehen von der Tatsache, dass aus genau dieser Richtung samt Gefolgschaft in regelmäßigen Abständen auch der Vorwurf an die Lehrerschaft kommt "ohnehin viel zu wenig zu arbeiten und dafür viel zu hoch entlohnt zu werden."
Diese gleiche politische Kraft war und ist es übrigens auch, die relativ schnell nach Beginn der Krise extrem stark kritisierte – und dies noch immer tut –, dass so manche Maßnahme zu radikal, eingriffig und bevormundend gewesen sei, jetzt aber bei Wiedereinführung der Maskenpflicht aufgrund steigender Infektionszahlen an bestimmten Orten sofort Langsamkeit und Zögern tadelt? Eine andere politische Gruppierung in Österreich fordert in regelmäßigen Abständen eine "Generalamnestie" für Corona-Vergehen.
Das heißt, es gibt hier Volksvertreter, welche offen dafür eintreten, Vergehen gegen Regeln, Normen und Gesetze generell als hinfällig zu betrachten! Und dabei sei hier noch zugestanden, dass es durchaus sicher zu vielen Corona-Härtefällen gekommen ist. Aber eine "Generalamnestie" schließt auch jene eine, welche bewusst, vorsätzlich, provokativ, oft auf primitivste Art und Weise dauerhaft sich nicht an Regeln gehalten haben. Dies ist in einer Zeit in der "Egomanie", bei der "ICH", zunehmend im Vordergrund steht, wohl das falsche politische Signal.
Im Bildungsbereich gibt es ja schon seit geraumer Zeit genau jene Situation, wo auch bei schweren Verhaltensauffälligkeiten jegliches Fehlverhalten wieder und wieder toleriert, pardoniert, annulliert oder relativiert wird, um entweder nur ja nicht in einen Konflikt gehen zu müssen oder damit "man nicht alle Chancen verbaue". Diese Haltung und Forderung haben in Wahrheit aber grundsätzlich immer nur so lange Gültigkeit, bis man selbst oder seine Angehörigen von dem Problem betroffen sind.
Es sei offen ausgesprochen: Ich bin froh und dankbar, diese Krise in Österreich mit diesen Verantwortungsträgern erleben zu können (müssen). Selbstverständlich war und ist nicht alles perfekt gelaufen, selbstverständlich wird man im Nachhinein Fehler finden, selbstverständlich erscheint so manches zu demokratiegefährdend und grenzwertig, selbstverständlich passt die Kommunikation nicht immer, selbstverständlich gibt es dramatische Einzelschicksale und selbstverständlich war in so mancher Situation die Optik nicht optimal.
Aber angesichts eines solch nicht vorhersehbaren Elementarereignisses könnte es bei uns in Österreich auch so wie in den Vereinigten Staaten von Amerika gelaufen sein: ein Präsident, der die Zahl der an Covid 19 Verstorbenen kleinredet, Maske als Schwäche auslegt, Bundesstaaten erpresst; eine Supermacht in sich politisch und gesellschaftlich zerstritten; Menschen, die sich zu tausenden auf Parkplätzen um Essen anstellen müssen; bewaffnete Staatsbürger, welche Staatskapitole besetzen, um gegen Covid-Regeln und für ihre individuelle Freiheit zu protestieren; Ärzte, die öffentlich "Alien-DNA" für die Ursache des Virus verantwortlich machen; eine hochtechnisierte Supermacht, die sowohl ihr Gesundheitssystem als auch den Virus (noch) nicht unter Kontrolle gebracht hat.
Jedem Staatsbürger, jede öffentlich die Meinung abgebenden Celebrity und jedem die Regierung kritisierenden Wirtschaftstreibenden oder Oppositionspolitiker, dem es in Österreich zu langsam, zu hart, zu radikal, zu unfair, zu einseitig oder zu wenig demokratiepolitisch zugeht oder der alles anders, besser, effizienter und hellsehend perfekter gemacht hätte, empfehle ich vor der nächsten Wortmeldung dringend zu einer Bestandsaufnahme in die USA! Und nachzudenken über die Worte von: Lawrence H. Summer, Former U.S. Treasury Secretary: "You are better off overreacting in a crisis than underreacting.”
Eigenverantwortung – das geflügelte Wort: Immer wieder wird gerne "Eigenverantwortung" als einzig wahre und richtige Maßnahme zitiert. Was aber leider nicht dazu gesagt wird, ist die Tatsache, dass Eigenverantwortung erst dann funktionieren kann, wenn man diese einerseits gelernt hat und andererseits auch fähig und bereit ist, über den Tellerrand des eigenen Egos und die eigene Situation hinauszublicken.
Covid 19 zeigt immer wieder auf: Flächendeckende Eigenverantwortung ohne jegliche Kontrolle mit allfälligen Konsequenzen funktioniert nicht! Denn all jene, die sich freiwillig, weil die Situation erkennend oder zumindest akzeptierend, eigenverantwortlich an die Regeln halten, werden brüskiert durch jene, die sich unter Berufung auf die persönliche und demokratische Freiheit bzw. das Negieren des Problems bewusst nicht daran halten.
Denn für viele endet die sogenannte Eigenverantwortung ausschließlich bei den eigenen Bedürfnissen oder dem eigenen Marketing! Dazu kommt dann noch die Tatsache, dass jene die sich "eigenverantwortlich" ausklinken, oftmals unfähig oder unwillig sind, die daraus resultierenden Konsequenzen zu akzeptieren bzw. dann andere für die persönliche Situation verantwortlich machen.
Außerdem wird leicht vergessen, dass Eigenverantwortung auch die Entscheidung gegen eine Maßnahme oder Empfehlung beinhalten kann, also gegen das "WIR". Und somit wird jeder noch so gute Notfallplan, jede Maßnahme, jede Regel grundsätzlich schon einmal torpediert. Das gleiche Prinzip gilt auch für den Terminus "Empfehlungen". Es wird wohl einen Grund haben, warum etwa in der Straßenverkehrsordnung Geschwindigkeitsbegrenzungen eben nicht nur "Empfehlungen" sind.
Wenn dann noch ein Minister wegen seiner Wortwahl als "Lebensgefährder" kritisiert wird – was Anderes bitte, als Leben gefährden, machen denn die vorsätzlichen Verweigerer? – oder in einem Boulevardblatt zu lesen ist, dass eine bekannte Persönlichkeit meint, dass es aus Sicht der Menschenrechte zwar ein "Recht auf Freiheit", aber kein "Recht auf Gesundheit" gäbe, führt uns dies wieder zum Titel des Beitrags.
Einfach zum Nachdenken: Würde es kein Recht auf Gesundheit geben, wären etwa alle Bemühungen zur Verbesserung der Lebenssituation von Kindern in Entwicklungsländern – sauberes Wasser, genug Grundnahrung, medizinische Grundversorgung etc. – sinnlos und provokant ausgedrückt auch gar nicht notwendig. Trump lässt grüßen, denn dann wäre etwa die WHO tatsächlich obsolet!
Und Schule und Bildung?
Es ist bezeichnend, dass viele Schulkritiker Covid 19 genutzt haben, um wieder einmal aus Ihrer Deckung zu kommen und es ist zu befürchten, dass viele Theoretiker auch diesmal meinen, der Weisheit letzten Schluss gefunden zu haben. Es war aber etwa keine Überraschung, dass bildungsferne Schichten nur selten oder gar nicht beim Home-Schooling erreicht werden konnten.
Solange seitens der Verantwortungsträger und Experten nicht auch die Erziehungsberechtigten grundsätzlich in die Pflicht genommen werden, wird es auch nach dieser Krise bildungsferne Schichten geben. Denn so lange das System "Elternhaus" und "Freundeskreis" gegen das System "Schule" arbeitet, kann es systemisch nicht funktionieren. Solange Anstrengung, Leistung und der Stellenwert von Bildung nicht auch gesellschaftlich transportiert und eingefordert werden, solange wird es eben auch bei der nächsten Krise wieder jene geben, welche am schnellsten Probleme bekommen werden. Dafür wird sicher wieder die Schule verantwortlich gemacht werden.
Aber halt – gibt es da seit Covid 19 nicht jetzt das Schlagwort "Eigenverantwortung"? Und warum gerade durch die jetzt hochgelobte Digitalisierung die oft politisch verursachten Schulprobleme einfach verschwinden sollten, hat noch niemand aus dem Elfenbeinturm heraus wirklich schlüssig erklärt. Neben Digitalisierungsfähigkeiten werden wir nämlich auch noch weiterhin junge Menschen benötigen, die von Angesicht zu Angesicht mit anderen Menschen interagieren, kommunizieren und Probleme lösen können, deren Komplexität mehr abverlangen wird als PC-Fähigkeiten.
Schule funktioniert grundsätzlich – aber besonders auch in Zeiten von Covid 19 – nicht deswegen, weil das Krisen- und Planungsmanagement der oberen und obersten Dienstbehörden so genial, effizient und klar definiert ist, sondern weil sich österreichweit, aber auch im Ballungsraum Wien, eine Vielzahl von Schulleitern und Pädagogen durch Eigeninitiative, Eigenengagement und gar Eigeninvestitionen auf diese und andere Situationen so gut wie möglich eingestellt haben und dies höchstwahrscheinlich auch weiterhin tun werden.
Sonst sind wir aus persönlicher Sicht schulisch für den Herbst in Wahrheit nicht viel weiter entfernt in unserer Agitation als in anderen Ländern mit ähnlichem Diskurs: Auch bei uns läuft die Kommunikation zwischen Bundesministerium und Bildungsdirektion(en) nur sehr schleppend, kombiniert mit oftmals gegenseitigen "Schuld- und Versäumniszuweisungen", auch bei uns soll Schule zwar im Herbst "normal laufen" aber bis dato gibt es nicht wirklich einen Plan B für eine etwaig wirklich ausbrechende starke zweite Welle. Und sollte es einen Plan B geben, ist er bis dato gut versteckt. Kritische Zungen behaupten ja, es habe zumindest in Wien niemals einen Plan A gegeben.
Viele Fragen sind offen:
- Wie werden Cluster an Standorten oder in Bezirken geregelt?
- Wie geht man vor, wenn Schüler, aber auch Lehrer im Herbst über Krankheitssymptome klagen, die oftmals nicht einmal Experten schnell klären können?
- Wie ist vorzugehen, wenn Schüler weiterhin "aus Furcht vor Corona" die Schule gar nicht oder nur sehr unregelmäßig besuchen und sich Erziehungsberechtigte darauf berufen?
- Sind Ausnahmeregelungen für tatsächliche Hochrisiko-Personen im unmittelbaren Schulbetrieb angedacht?
Und auch bei uns wird aus meiner Sicht grundsätzlich die Problematik noch viel zu entspannt und klein geredet, noch viel zu oft ist immer "alles unter Kontrolle und vorbereitet", um dann leider im Fall des Falles doch einen Rückzieher mit phrasenartigen Ausreden oder realen Einschränkungen machen zu müssen. Die Fakten, Gefahren, Problematiken und Notwendigkeiten öffentlich eindringlich auszusprechen hat entgegen vieler Meinungen nichts mit "Angstmache" zu tun, sondern mit einer realistischen, ehrlichen und durchaus auch warnenden Sichtweise eines noch immer ungelösten Problems.
Wir alle wissen ja, was weltweit passiert ist, weil führende Staatsmänner das Problem ins Lächerliche gezogen haben oder aus anderen Gründen heraus verniedlicht haben. Dem Volk ist grundsätzlich die Wahrheit zuzumuten.
Übrigens an alle, die sich ständig am Terminus "Angst" stoßen: im Extremklettersport etwa weiß man, dass "Angst" der ständige Begleiter ist und dass "Angst" den Menschen davon abhält, unkluge oder gefährliche Handlungen zu setzen. Die Kunst besteht aber darin, sich nicht von der Angst beherrschen zu lassen, sondern die Angst selbst zu beherrschen und zu kanalisieren. Du glückliches Österreich, dass Du in dieser Krise bereits über "richtige" oder "falsche" Wortwahl diskutieren kannst!
In diesem Sinne: "Life is a fine line. Just tell the truth.” "You can’t divorce yourself from facts.” (Noch einmal Cuomo)
Sobl.Wolfgang Weissgärber ist Bildungsexperte (Sonderpädagogik/Fachautor/Netzwerker/Erwachsenenbildung).