Besorgte Europäer stellen auf ihren digitalen Foren die bange Frage, ob und wie man die "Völkerwanderung aus Afrika und Asien nach Europa noch stoppen könnte."[1] Ob die Zeitungen und TV-Sender Europas diese Frage als Titel eines Print-Textes oder einer Talk-Show zulassen würden, ist fraglich. Denn eine Mehrzahl der Redaktionen würde vermutlich nicht eine "bange", sondern eine gefährliche und falsche und daher "unmögliche Frage" erkennen, die man schleunigst unter jenen dicken Teppich kehren sollte, unter dem bereits viele ähnliche Fragen auf spätere Behandlung oder endgültiges Vergessen warten.
Wenn in der säkularen Welt des Westens gewisse Fragen tabuisiert werden, und das Tabu wird befolgt, als wäre ein Verbot durch politische und juridische Institutionen erlassen worden, kann dies nur bedeuten, dass die demokratisch verfassten Gesellschaften Europas eine unangenehme Diskussion befürchten. Vermutlich bereits über die unvermeidlich mitklingende Begleitfrage, ob die verbannte Tabufrage wichtig oder unwichtig, schicksalshaft oder doch nur herbeigeredet sei.
Man kennt das Problem aus dem Schicksal von Familien, unter deren Mitgliedern eine unlösbare Entzweiungsfrage offen oder verborgen lodert. Um "des lieben Friedens willen" ist man bereit, Dauerdiskussionen, die vorhandene Entzweiungen nur verstärken und vertiefen würden, zu vermeiden. Jeder drohende Streit wird vermieden oder vertagt, jede Entscheidung so lange wie möglich hinausgeschoben.
Könnte die Frage, ob die seit 2015 ermöglichte Völkerwanderung nach Europa noch aufzuhalten ist, eine Frage von Belang und Schicksal für Europa und vor allem für den Fortbestand der EU sein? Gleichgültig, ob man diese Frage mit Ja oder Nein beantwortet, auffällig bleibt, dass ein Kontinent, der seine heutige Kultur dem Geist von Aufklärung und Vernunft, von Freiheit und Demokratie verdankt, keine Generaldebatte (auf allen Ebenen von "Diskurs") über sein eigenes künftiges Schicksal zuzulassen scheint.
Oder trügt dieser Schein, und die Auseinandersetzung findet längst statt, sogar mit einer Vehemenz und Unvermeidlichkeit, die in den meisten Staaten der EU und Europas zu labilen Parteien- und Regierungskonstellationen geführt hat? Zur Polarisierung zwischen Links- und Rechtspopulisten, in deren Mitte die vor Kurzem noch dominierenden Volksparteien mehr und mehr erodieren? Ist man bereit, den Schleier der Tabus über jede Frage zu werfen, die sich als Schicksalsfrage erweisen könnte, um diesen Prozess einer flächendeckend durch Europa rasenden Verunsicherung nicht weiter anzufachen? Fürchtet man, in Europa und innerhalb der EU einen unlösbaren Familienstreit auszulösen – mit verhängnisvollen Konsequenzen für die Zukunft des Kontinents?
Aber wer oder was ist das "Man" Europas? Eine müßige Frage, wenn soeben richtig festgestellt wurde, dass ein Prozess der Polarisierung den ganzen europäischen Kontinent, den EU-internen wie auch den EU-externen, erfasst hat. Nicht ein Man und nicht ein Europa, sondern zumindest zwei wären daher zu berücksichtigen, wenn die fragliche Völkerwanderung nach Europa realitätsgerecht erörtert werden soll. Droht Europa das Schicksal eines unlösbaren Familienstreits?
Diese Frage unter Tabu zu stellen, ist für die Kultur Europas nicht nur entehrend, es ist letztlich auch sinnlos und unmöglich, ebenso unmöglich, wie ein Verbot der Frage, welches "Man" aus welchen konkreten Gründen gewisse Tabus über gewisse oder ungewisse Schicksalsfragen zur Zukunft Europas durchzusetzen versucht. Schicksalsfragen verbieten und unter Tabu stellen, ist jedenfalls solange unmöglich, als das freie Fragen und Antworten noch nicht aus der modernen Kultur Europas verschwunden ist.
Gedankenfreiheit ist die Grundlage jener Art von Aufklärung, die im Namen von Vernunft, Freiheit und Demokratie fragt und antwortet. Daran im Europa von heute zu erinnern, ist weder herbeigeholt noch unwesentlich, weil noch im Europa von vor 1990 eine andere Art von Aufklärung halb Europa den Marsch geblasen hat. Zu den festen Doktrinen der kommunistischen Ideologie zählte ihr Glaube, die erste Aufklärung Europas durch eine zweite und bessere überboten zu haben.
Ein Glaube, der noch heute das "man" nicht weniger Europäer an den Marterpfahl einer Erinnerungskultur fesselt, die ihre Opfer mit dem Versprechen einer diesseitigen Erlösung von den Übeln der modernen Welt verblendet. Und dies, obwohl der Kommunismus, in Deutschland erdacht, in Russland vollstreckt, als Weltkommunismus eine beklagenswert katastrophale Bilanz hinterlassen hat. Eine Bilanz, die nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, dass dieser Familienstreit ein (vorläufiges?) Ende finden konnte.
Sollte sich der neue Familienstreit Europas an der Völkerwanderungsfrage entzünden oder in ihr kulminieren, wäre auch dieser Streit zwei verschiedenen Konzepten von Aufklärung, die einander ausschließen, geschuldet. Wie die kommunistische Aufklärung Europa demolierte und mit Gewalt in zwei Teile trennte, ist bekannt. Ob eine neue Aufklärung mit ihrer Interpretation der Völkerwanderungsfrage diesem Schicksal entgehen könnte, ist noch ungewiss.
Gewiss ist jedoch bereits heute, dass die neue, nunmehr globalistische und hyperliberalistische Aufklärung in den Grundfesten Europas einen Grabenbruch bewirkt hat, der zu radikal entgegengesetzten Begriffen von Vernunft, Freiheit und Demokratie geführt hat. Als könnten zwei oder mehrere Grundbegriffe von Vernunft, Freiheit und auch Demokratie einen für Europa und die ganze Welt und Menschheit begehbaren Weg in die Zukunft gewährleisten.
Dieser Befund erstaunt, weil er doch das Prachtstück der Aufklärung, die Universalität der Menschenrechte, in Abrede zu stellen scheint. In deren Perspektive stellt sich die Völkerwanderungsfrage bekanntlich ganz anders dar als in der Perspektive jener Europäer, die fragen, ob man die Völkerwanderung noch stoppen könnte.
Als Aufforderung nämlich zu einer Mission und Vision eines neuen Europas samt neuer EU, die das historische Glück hätten, Partner einer großartigen Win-Win-Situation zu werden. Die möglicherweise begonnene Völkerwanderung nach Europa sei als "globales" Erfolgsprojekt zu gestalten. Und zwar im Namen einer höheren "Gerechtigkeit", die erlaube und nötige, vorhandenes (nationales und internationales) Recht jederzeit zu brechen, und wenn es sein muß durch die Macht von Gerichten, die auch vor einer europäischen Richterdemokratie als heiliges Mittel für den neuen heiligen Zweck nicht zurückschrecken.
Die höhere Gerechtigkeit, meist im Namen von totaler und globaler Gleichheit angerufen, ist das Zentrum der neuesten Aufklärung. Im Kern des gordischen Knotens, an dem die neue Aufklärung knüpft, ertönt ein bisher unbekannter Orakelspruch: Alle Minderheiten sollen mehrheitstauglich sein und sind dementsprechend zu achten und zu behandeln. Zwar war die Demokratie immer schon ein vergängliches Projekt, aber die neue Vergänglichkeit scheint ganz anderer Art zu sein.
Deren globalistisches Zentralargument fordert ultimativ: Menschenrechte, die noch nicht für alle und jeden Ort der Welt durchgesetzt sind, sind noch keine wirklichen Menschenrechte. Gleiches Recht auf gleiche Rechte für jedermann und jedefrau: Diese Botschaft vernehmen auch die Kirchen gerne, um ihr neues Projekt einer Weltkirche, in der sich irgendwie alle Religionen friedlich nebeneinander einfinden sollen, zukunftsfähig zu machen. (Wie auch Nietzsche wusste: Was aus Liebe gehandelt wird, das geschieht jenseits von Gut und Böse.)
Gelingt, was gelingen soll, trage Europa nicht nur seine Schuld aus Kolonialzeiten endlich ab, auch werde eine völlig neuartige "Kolonialisierung" der außereuropäischen Kulturen durch Integration aller Fluchtreisenden in die westliche Kultur einen großartigen Aufschwung in Afrika und Asien ermöglichen. Denn bereichert durch westliches Wissen und Können, durch totale Toleranz und "Offenheit für alles Fremde" werden die Heimkehrer in die Zweite und Dritte Welt deren Rückstand gegen die Erste Welt vollständig beseitigen. Womit sich, last not least, auch die leidigen "Fluchtursachen" der aktuellen Völkerwanderung verflüchtigen sollten.
Ohne auf die Widersprüche dieser Argumentation näher einzugehen – sie genießt besonders in Deutschland hohen politischen Kredit –, sei nochmals festgestellt, dass über die politische und kollektive Tragfähigkeit neuer Konzepte von Aufklärung und Vernunft allein deren Zukunft, somit deren Zukunftsfähigkeit entscheidet. Noch heute lehrt die Doktrin einiger (weniger) Staaten und nicht weniger (linker) Parteien, dass die Zukunft der kommunistischen Aufklärung noch gar nicht in der Geschichte der Menschheit angekommen sei.
Jene, die eine in ihrer Sicht bedrohliche Völkerwanderung nach Europa aufzuhalten versuchen, erscheinen in der Sicht ihrer Gegner, die überzeugt sind, die fortgeschrittenste Version der europäischen Aufklärung zu repräsentieren, lediglich als letzte – "nachgelassene" – Version der europäischen Gegenaufklärung. Diese setze nur den früheren Antimodernismus der Kirchen und die restaurative Ideologie der monarchischen Systeme des 19. Jahrhunderts fort. Ideologien und Systeme, von denen sich das moderne Europa längst verabschiedet habe, nachdem seit 1989 auch der Irrweg des Kommunismus verlassen wurde.
Folglich sei die politische Avantgarde Europas berufen, die aktuelle Völkerwanderung als gerechte Erhebung der bisher ungerecht behandelten Menschheit zu erkennen. Nur noch die letzte Gegenaufklärung möchte Europa "abschotten", die wahre Aufklärung möchte Europa für alle Welt öffnen. Das letzte Banner jener versammelt alle rückwärtsgewandten "Rechtspopulisten", die linksgrüne Avantgarde der letzten Aufklärer hingegen feiert sich als endgültige Befreierin einer erschöpften Kultur eines altgewordenen Kontinents. Nur noch "das Fremde und Andere" kann Europa erneuern und verjüngen.
Jene sehen mit großer Sorge auf eine Zukunft, die Europas Staaten und Regionen auf den Substandard der Dritten Welt absenken könnte. Diese sind überzeugt, dass im Zentrum der kommenden neuen Welt jeglicher "Eurozentrismus" obsolet geworden sein wird. (Übersehen oder ignorieren sie den Widerspruch, dass sie neuerlich mit Ideen des Westens, mit Prinzipien der Ersten Welt die ganze Welt missionieren und zu neuem Glück führen möchten?)
Lediglich in den Eskapismen des Privaten, der Künste und der Religionen ist eine Mitte möglich, die aber als apolitisch gleichgütige nur am Rande erwähnenswert wäre, wenn sie sich nicht stets wieder anmaßte, im Namen einer "höheren Politik" Botschaften, Visionen und Verheißungen zu verkünden.
Auch in der aktuellen Völkerwanderungsfrage werde schlussendlich doch das "Menschliche" der Menschheit siegen; noch das Ende jedes Imperiums sei letztlich durch eine Völkerwanderung besiegelt worden. Diese "höhere Mitte", die gefahrlos über aller Geschichte schwebt, darf ihre Hände in Unschuld waschen. Verdichtet sich die Vorstellung von "biblischen Völkerwanderungen" zum theologischen Argument speziell italienischer Kardinäle, wonach das kolossale "Biblische" abermals begonnen habe, die Menschheit zu beglücken, ist auch das Todesurteil über die moderne Staatenwelt: "Gott kennt keine Ausländer", mit allerhöchstem Segen verkündbar.
Was folgt in der realen Welt der gegenwärtigen Geschichte aus diesen höchst gutgemeinten Sprüchen? Nichts weiter als eine Wiederbegegnung mit einer vulgärhistorischen Deutung: Völkerwanderungen sind periodisch wiederkehrende Naturereignisse, gegen die ohnehin kein politisches Kraut gewachsen ist. Dieses Denken über die Zukunft Europas und der Welt kann nicht irren.
Ist in der Völkerwanderungs-Frage zwischen den visionären ("globalistischen") Erneuern Europas und ihren Kontrahenten, den nüchternen Sachwaltern eines sich bewahrenden Europas ein politischer Mittelweg möglich? Eine tragische Frage, auf die uns die aktuelle Geschichte, jene, die wir als Heutige einsehen können, ein tragisches Nein als Antwort erteilt. Demnach wird sich die nächste und übernächste Zukunft Europas unter düsteren Wolken, unruhig und unfriedlich gestalten.
Dass Europa auf die Ereignisse des Jahres 2015 kaum hinreichend vorbereitet war, dürfte zwischen den – naturgemäß verfeindeten – Kontrahenten in der Völkerwanderungsfrage der einzige Punkt sein, in dem sie übereinstimmen. Egal ob sie das Jahr 2015 für Europa als Beginn einer katastrophalen oder einer glorreichen Entwicklung deuten. Augenscheinlichster Beweis ist die Tatsache, dass das Chaos in "Migration und Integration" bis heute fortdauert und beide Kontrahenten gezwungen sind – naturgemäß nach ihren eigenen Vorstellungen von Ziel, Mitteln und Wegen – neue Wege zu einer durchsetzbaren Kontrollmacht über die chaotische Entwicklung zu finden. Die finster leuchtenden Fanale auf den Inseln Griechenlands und der unkontrollierbaren "Balkanroute" sind bei Weitem nicht die einzigen, die verhängnisvolle Alarmsignale nach Europa senden.
Vor 2015, als das Schicksal Europas noch an vergleichsweise idyllischen Gestaden ruhte, schien seine Zukunft gesichert: Der grenzenlosen Freiheit innerhalb des sogenannten "Schengenraumes" drohte keine Gefahr, ein sogenanntes "Dublin-Abkommen" genügte, um allfällige Migranten in den südlichen und östlichen Grenzstaaten von Schengenland anzuhalten, zu prüfen und in aller Ruhe nach geltenden Gesetzen über deren Asylanträge zu entscheiden. Mehr schien zum Schutz der EU-Außengrenzen weder nötig noch möglich.
Soweit das Traumdenken und Traumplanen der neuen (globalistischen) Gründerväter, die für das neue Europa Verträge ausdachten und unterschrieben, deren Tinte noch kaum trocken war, als auch die Inhalte ihrer Anordnungen schal und hinfällig geworden waren. Heute, vier Jahre nach 2015 weiß auch der letzte Uneinsichtige, dass "Dublin" gescheitert und "Schengen" gefährdet ist.
Das Innenministerium Deutschlands meldet, es sei optimistisch, ein neues europäisches Asylrecht gemeinsam mit verbündeten EU-Ländern auf den Weg bringen zu können. Doch gleichzeitig meldete die oberste Stimme Tschechiens zurück: Für Tschechien sei diese Frage und Diskussion seit 2018 definitiv beendet.
Was tun, um ein neues EU-Asylsystem, das das Chaos im Dschungel von "Migration und Integration" beenden könnte, "auf den Weg zu bringen?" (Die blumige Rhetorik seiner EU-Oberen ist jedem EU-Bürger seit Jahren vertraut; was je nach Parteienzugehörigkeit entweder neue Hoffnung oder neue Skepsis und Verzweiflung erweckt. "Nur gemeinsam" wurde Legende.)
Lohnt es sich, die Vorschläge Deutschlands (Seehofer "federführend") im Detail anzusehen? Vielleicht. "Dublin" soll durch einen neuen "Pakt für Migration und Asyl" abgelöst werden. Dieser existiert zwar vorerst nur als "non-paper", das lediglich "food for thought" biete. Aber eine Koalition der Willigen, vier oder fünf oder vielleicht auch mehr von den 27 verbliebenen EU-Staaten stünde für Gespräche bereit.
Die Chance auf ein "Momentum", das "man" nützen müsse, bestehe, erklären die neuen Kommissare, eine Schwedin und ein Grieche. Die EU wolle "ein Zeichen für einen Neuanfang setzen."
EU-Kommission und EU-Innenministerrat arbeiteten hart daran, wird der internationalen Presse mitgeteilt, "schon" bis März kommenden Jahres soll der neue Plan in EU-Paragraphen gegossen sein. Die Zeit drängt, aber die Mühlen des intereuropäischen EU-Regierens mahlen langsam. Ein halbes Jahr ist für die obersten "Entscheider" eine kurze Zeit, für Migranten und deren "Helfer" eine lange Zeit.
Auch sie beobachten die neuen Beschlüsse, um rechtzeitig neue Wege und Routen, neue Strategien und Finten zu finden. Nur die Hartnäckigen belohnt das Abenteuer mit erfolgreicher Zielankunft. Und sei es auch, um ein Überleben unter erbärmlichen Umständen organisieren und ertragen zu müssen. Eine Art von "Krieg" grassiert, und folgerichtig spricht man beim neuen Plan von einer "Entlastung für die Frontstaaten." Was genau soll das neue "Momentum" beenden?
Soll die "ungeregelte Migration" durch eine "gerechtere Verteilung" in eine "geregelte Migration" verwandelt werden? Auf die ungeregelte würde demnach die geregelte Migration folgen. Pointiert gefragt: Statt XX-Millionen würden nur mehr X-Millionen "gerechter verteilt"? Aber warum von Millionen reden, wenn alljährlich doch nur von Tausenden oder Hunderttausenden berichtet wird?
Weil das Hochrechnen von Anfangssummen in Europa nicht mehr erlaubt ist? Weil man fürchtet, was allerdings zu fürchten ist, wenn man nicht zu den No-Border-Unterstützern der Völkerwanderung nach Europa zählt? Unbewältigbare und unregierbare Zustände in Neu-Europa?(Als die Dogmen der "Wir schaffen das"-Lehre verkündet wurden, lautete die oberste Parole: 500 Millionen Europäer können doch "ganz leicht" eine Million "Flüchtlinge" aufnehmen und integrieren. Durch wie viele Jahre, blieb offen.)
Aber es gibt noch einen anderen Grund, der Verdacht erregt und Furcht berechtigt: Die jeweils existierende EU kann die allermeisten ihrer jeweils neuen Abkommen vulgo Verträge, die auf jeweils aktuelle Anlässe reagieren, immer nur befristet ansetzen. Die künftige Geschichte Europas wird aber nicht allein durch "mittelfristige" Abkommen bestimmt, sie wird nach dem Maß eines oder auch mehrerer Jahrhunderte bestimmt, sofern Europa nach dem 21. Jahrhundert noch als erkennbare Einheit bestehen sollte. Das Hochrechnen von Tausenden auf Millionen ist kein fiktives Problem. Es entscheidet über die Zukunft Europas.
Nächstes und dringliches Ziel des gesuchten neuen Migrations-Asyl-Abkommens: Die jetzigen Frontstaaten der Massenmigration nach Europa sollen entlastet werden. Seitdem ihnen nicht mehr gestattet wird, die Angelandeten und Angekommenen einfach Richtung Zentraleuropa "durchzuwinken", beklagen sie unhaltbare Zustände in unhaltbaren Lagern. Es sei ihnen unmöglich, und dies seit 2015 ununterbrochen: den Verpflichtungen von "Dublin" nachzukommen.
Daraus lässt sich aus der wankenden Tradition der EU-Abkommen schließen: das Nachfolgeabkommen des unumkehrbar gescheiterten von "Dublin" wird eher nicht den Namen "Dublin II" tragen; "München I" ist wahrscheinlicher, auch "Seehofer I" wäre möglich. Noch der politische Untergang Europas kann dazu dienen, die Eitelkeit europäischer Minister, die in die Geschichte einzugehen wünschen, mit Hoffnung und Zuversicht zu erfüllen. Mag der Patient Europa die fortwährenden Notoperationen an Leib und Seele auch nicht überleben, das gute Gedächtnis der bestwilligen Operateure wird bleiben. (Zwar kann uns der Friedensnobelpreis Obamas "gestohlen bleiben", dem unsterblichen Träger selbst haftet sein Preis für immer und ewig an.)
Aus drei Elementen bestehe der Entwurf des neuen Abkommens. Diese Elemente waren zwar schon bisher bekannt, doch seinerzeit wurden sie voneinander getrennt angesetzt, weshalb sie "nicht einmal ansatzweise zustimmungsfähig" waren. Vermutlich ein Versehen, das auf das Schuldkonto des oft nebelverhangenen Dublins geht.
Doch nun – ziemlich lange nach 2015, die Geschichte belehrt auch unaufmerksame Schüler – ist die entscheidende Wende gekommen: Das Neue des neuen Vertrages sei eine "untrennbare Verknüpfung dieser Elemente." Warum sollen Zauberer nicht aus drei toten Hasen einen lebendigen herbeizaubern können?
"Nur kurz" soll nun an der EU-Außengrenze eine Art Vorprüfung derer erfolgen, die einen Asylantrag für die Reise in die Zentralstaaten Europas, voran Deutschland, wie zu vermuten steht, beabsichtigen. Unter "EU-Außengrenze" werden stets nur Griechenland und Italien genannt, offenbar unter der Annahme, dass Spaniens Sonderverträge mit seinen afrikanischen Nachbarstaaten wenigstens in dieser Ecke seiner Außengrenzen für eine "Entlastung" von EU und Europa sorgen. (Warum die maghrebinische Route meistens vergessen oder unterschlagen wird, wäre noch zu klären.)
Ist die Prüfung erfolgreich absolviert, folgt das eigentliche Novum des neuen Abkommens: Jenen, die bestanden haben, weil sie nachweisen konnten, erstens asylberechtigt und zweitens keine Gefahr für die "Sicherheit" im Aufnahmeland (und hoffentlich auch ganz Europas) zu sein, wird ein Aufnahme-Land zugewiesen. Nach Plan A – dem einige Folgepläne ganz offen widersprechen – in einem unter allen Staaten der EU.
Wer "alle" sind, ist bekanntlich ungewiss, weil einige von allen schon seit langem erklären, sie möchten am deutschen Wesen nicht schon wieder genesen. Gegen diesen Unwillen, ihre völkerwanderungsfeindliche Grundhaltung ausheilen zu lassen, drohen deutsche "Qualitätsjournalisten" bereits mit einem "Ende der deutschen Engelsgeduld." (FAZ 3. Dezember 2019, S. 8)
Es ist verständlich, dass die EU die Kontrolle über eine geregelte Verteilung aller potentiellen Asylberechtigten wiedergewinnen möchte. Nicht länger sollen "schlechte Bilder" von Chaos und Verelendung auf der Balkanroute und in der sogenannten Binnenmigration zwischen Italien und Frankreich sowie Frankreich und England, um nur diese Beispiele zu nennen, in den Medien erscheinen.
Nochmals: Der offizielle Grund des neuen Abkommens lautet: die beiden südeuropäischen Frontstaaten hätten eine ultimative Überforderung gemeldet: Sie möchten nicht mehr nur bei "außergewöhnlichen Anstürmen" von Migranten entlastet werden, sondern "grundsätzlich". Ein kryptisches Wort einer kryptischen Kategorie, die einer "schlechten" Vermutung Tür und Tor öffnet: Kehrt das Durchwinken wieder, doch nun als geregelter und gewöhnlicher Durchlauf? Was Ansturm war, ist nur noch Routine?
Und unter den neuen Prinzipien des neuen Migrations-Abkommens, die nur die alten Prinzipien des gescheiterten Dublin-Abkommens in neuem Wortgewand zu sein scheinen, wären "Frieden und Ordnung" an den Außengrenzen der EU erreichbar? Jenseits oder diesseits von fragwürdigen Merkel-Erdogan-Deals? Jenseits oder diesseits aller Aktivitäten einschlägiger NGO-Aktivisten? Milchmädchenrechnungen dieser hanebüchenen Art erschüttern stets nur weiter und tiefer das Vertrauen in eine EU, die nun schon seit Jahren das Mantra verkündet, mittels neu aufzustellender "Frontex"-Einheiten die "EU-Außengrenzen besser schützen zu wollen."
Die deutschen Masterminds des neuen Abkommens räumen allerdings ein: um das neue Abkommen realistisch durchführen zu können, bedürfe es einer noch anderen "grundsätzlichen" Maßnahme: Eine neue, erst noch zu schaffende "europäische Asylagentur für Migration" müsse diesmal mit "umfassenderen Rechten" ausgestattet werden, um erfolgreich registrieren, prüfen und zuweisen, "gegebenenfalls" auch abweisen zu können. Das Denken in grundsätzlichen Grundsätzen war immer schon ein Anliegen des leitungswilligsten unter den europäischen Völkern.
Das Prüfungsverfahren könnte auch in einer "geschlossenen Einrichtung" stattfinden. Ist dieses offenbar (noch) erlaubte Wort mehr als ein Versuchsballon der neuen Behörde, um zu prüfen, ob es für korrekt befunden werden könnte? Bisher schien zu gelten: alle Worte (sogar noch "Häuser, Hotels, Kasernen" usf.) wären erlaubt und möglich, wenn sie nur nicht an das heilig-stupid ausgegrenzte "Lager" anstoßen. Denn dieses anstößige Wort erzeugt in Deutschland sofort Assoziationen, die zwar neuerdings zur "Identität Deutschlands" zählen, aber eben ebendeshalb nicht nach EU-Europa exportiert werden sollen.
(Ein durch gleichgeschaltetes Denken nicht mehr freies Sprechen verrät sich auf Schritt und Tritt. Das neu zu schaffende EU-Volk muss noch viel und lange lernen, um das richtige EU-Esperanto zu sprechen. Erst dann wird es die Kunst beherrschen, innerhalb der Grenzen seiner neuen Sprache richtig zu denken.)
Auch "geschlossene Einrichtung" dürfte bald fraglich werden, wenn nämlich die Nähe zu "Irrenhaus" und ähnlichen Einrichtungsworten der Heilkunst für Geisteskranke auffällig wird. Die bereits korrekt denkenden Avantgarden der neuen hyperliberalen Heilslehre haben diesbezüglich in ihren Zirkeln längst vorgesorgt: Es gibt keine "Irrenhäuser" mehr, es gibt nur noch Anstalten für Menschen mit besonderer Begabung.
Sind alle Minderheiten politisch inkludiert, ist keine mehr exkludiert. Dieses Dogma klingt wie das Echo eines früheren: Haben alle Proletarier das Kapital mit "gleicher Gerechtigkeit" unter sich verteilt, ist jeder sein eigener König, Bürger und Künstler. Das Schreckwort "Kapital" wurde auf ewig entsorgt.
In dieser ausweglosen Zwangslage: Alte Worte sind unmöglich geworden, neue sind grundsätzlich verdächtig, hilft der gute alte "Flughafen." Geschickt mit dem ebenso neutralen "Verfahren" zu "Flughafenverfahren" gekoppelt, hat er überdies den Vorteil, in Deutschland bereits als gängige Praxis organisiert zu sein. Dank deutscher Gründlichkeit sind Denken, Reden und Handeln wieder eins geworden.
Die reale Zwangslage auf dem Balkan hat es schwer, gegen diesen ablenkenden und verharmlosenden Krieg der Worte anzukommen. Derzeit "hausen" oder vagabundieren ungefähr 100 000 Migranten verschiedener Religionen, aber nicht feststellbarer Personal-Identität, Richtung Norden. Autobusse, deren Herkunft "unklar" ist, wie EU-konforme Investigativ-Journalisten von heute berichten, fahren sie an abseits gelegene Regionen an den Grenzen Ungarns und Kroatiens heran.
Wenn sie den stacheldrahtbewehrten Grenzzaun überwunden oder durch selbstgegrabene Tunnels unterwunden haben, folgt auf dieses Erfolgserlebnis allerdings kein symmetrisches auf der Seite der Grenzschutzorgane in Ungarn und Kroatien. Da der neue Typ von "Flüchtling" (auch "globaler Migrant" – in der Perspektive von UNO und Vatikan) sich seiner Personaldokumente rechtzeitig entledigt hat, genügt sein Zuruf "Asyl" und sein Hinweis, er sei aus einem der vielen Ländern mit einschlägigen "Fluchtursachen" gekommen, um ein "ordentliches" Prüfungsverfahren durch magische Worte mit magnetischen Wirkungen einzuleiten.
Doch an diesem Punkt ist die reale "Zwangslage" von heute – wohl nicht nur auf dem Balkan, dort aber konzentriert, am Gipfel ihrer Ausweglosigkeit angekommen. Was auch getan wird, es ist falsch getan: Durchwinken nach Norden und Westen geht nicht mehr, sofortige Rückführung in die "Herkunftsländer" ebenfalls nicht, denn diese "Gewaltmaßnahme" würde die Verhaftung der illegal Eingedrungen voraussetzen, was gegen geltendes EU-Recht verstieße.
Ist aber Durchwinken so illegal wie Rückführen, bleibt nur noch Notwehr und List: "Transitlager" lautet das neue Zauberwort, der den ausweglosen Ausweg eröffnet, aus diesen Lagern, die keine sein dürfen, doch noch einmal rückzuführen. Obwohl alle Beteiligten sehenden Auges wissen: Die Rückgeführten werden nur rückgeführt, um demnächst ihr nächstes Grenzabenteuer zu starten - unter "menschenunwürdigen Umständen", wie das ferne Brüssel-Europa "entsetzt" feststellt. (Der Brandstifter heult angesichts des verheerenden Feuers Krokodilstränen, ohne daran zu ersticken.)
Wie weit und tief die organisierte Schleppermafia auf dem Balkan involviert ist, ob zusammen mit oder "nur" parallel neben der Mithilfe von NGO-Aktivisten, möchten die Journalisten von heute nicht erst genauer untersuchen. Noch vor wenigen Jahren eine Frage, die für jeden wahren Investigativ-Journalismus in Europa, der noch nicht verurteilt war, unter der Knute der selbstverschuldeten Unmündigkeit als Rudeljournalismus von Infotag zu Infotag dahinzuvegetieren, ein erfüllendes Abenteuer gewesen wäre. Wenn wir heute die Signalmeldung "Hintergründe völlig unklar" vernehmen, wissen wir: Der zeitgemäße Journalismus zieht dem "Untersuchen" der Wahrheit das "Untertauchen" unter die "politisch" erlaubte Meinung vor. Vorauseilender Gehorsam, eine deutsche Urtugend, missioniert das neue EU-Europa.
In den Transit-Lagern des Balkans bleiben illegale Migranten Asylanten in spe, doch zugleich werden sie von den paktunwilligen Balkan-Staaten als nicht geduldete Ausländer eingestuft: Nationales Recht kollidiert mit globalem EU-Recht. Die glücklich Unglücklichen, vom nahen Magnet "magisch" angezogen, befinden sich bereits in einem Schengenland des EU-Paradieses, und dann diese Enttäuschung: Böse Mächte im Osten Europas (neue Tyrannen) trüben das gute Klima des lustigen oder gleichgültigen Westens in Europa. Nun müssen die vorerst "Gestrandeten", in die Tiefen des südlicheren Balkans zurückgeschoben, einen neuen Versuch unternehmen. Mafia und Helfer-Bataillone stehen bereit.
Kommentar eines deutschen Starkomikers dazu: "Das ist zum Schämen." (Komiker machen neuerdings quer durch Europa immer öfter politische Quer-Einsteiger-Karriere. Besonders in Deutschland ist komisches Sich-Totlachen sehr beliebt. Das ehemalige Land der Dichter und Denker dürfte die höchste Komikerdichte Europas beherbergen.)
Der Promi-Witzbold meinte selbstverständlich, es sei zum Schämen, dass nicht alle Europäer dem vorbildlichen Beispiel von Merkel-Deutschland folgen. Eine mahnende Drohung, die eine kaum versteckte Kritik am aktuellen Stand des Wir-schaffen-das-Dogmas durchhören ließ: Kann Deutschland das nötige Durchwinken Hunderttausender ins europäische Mutterland der Migration nicht mehr durchsetzen? Weder in der EU noch mithilfe der UNO, noch weniger in den restverbliebenen Nationalstaaten Europas? Muss Deutschland den Balkan neuerlich besetzen, diesmal mit kirchen- und komikerunterstützen NGO-Bataillonen?
[1] Andreas Unterberger: "Wie man die Völkerwanderung noch stoppen könnte." Tagebuch 29.10. 2019. https://www.andreas-unterberger.at/
Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.