"Sultan Abd-ul Asis hatte um diese Zeit Gelegenheit, europäische Einrichtungen an Ort und Stelle kennen zu lernen. Napoleon III. lud ihn gleich anderen Souveränen im Jahre 1867 zur Weltausstellung nach Paris ein. Der Sultan besuchte bei dieser Gelegenheit die Höfe von Paris, London und Wien und kam auch mit dem Könige von Preußen zusammen. Es war dies die erste Reise, die ein osmanischer Sultan zu einem anderen Zwecke, als zum Krieg zu führen, ins Ausland unternommen hat, und die Ulemas waren auch in einiger Verlegenheit, als sie über die Zulässigkeit dieses Ausflugs um ihre Meinung befragt wurden. Der Scheich ul Islam soll über die Schwierigkeit durch die Bemerkung hinweggeholfen haben, dass der Sultan die fremden Länder, die sein Fuß betritt, dadurch erobert habe und dass er sie den Souveränen, die er besuchte, sogleich zurückschenke."
Dieses Zitat stammt aus "Geschichte des Machtverfalls der Türkei" von Carl Ritter von Sax, Wien 1908 (Seiten 383/384). Die Ulema ist die höhere islamische Geistlichkeit, die dem Kalifen mit den Interpretationen der die Sunna bestimmenden Texte zur Seite stand.
Die Ansicht, dass der Fuß des Sultan-Kalifen die Eroberung von Ländern, die nicht zum Herrschaftsbereich des Kalifen gehörten, bereits ohne Kampfhandlungen besiegelt, hat sich im Islam über die Jahrhunderte eingebürgert, ist aber mit dem Machtverlust der abbasidischen Kalifen in Kairo nicht mehr wirksam gewesen.
Erst durch die Eroberung Ägyptens im Jahr 1517 durch Sultan Selim "dem Schrecklichen", dem Vater von Süleyman "dem Großen", und die Übernahme der Kalifeninsignien sowie des Titels "Kalif" durch den Sultan wurde bei allen folgenden Eroberungen diese alte traditionelle "Rechtsansicht" wieder schlagend. Allerdings nahmen die folgenden Sultane nur mehr ganz selten an Kriegszügen persönlich teil, sie ließen sich meist durch den Großwesir vertreten, dessen Fuß jenen des großherrlichen Fußes ersetzte.
Daher ist bis heute in der türkischen Geschichtsschreibung zum Beispiel der Fehlschlag bei der ersten Belagerung Wiens unter Süleyman dem Prächtigen infolge verschiedener äußerer Einflüsse (z.B. schlechtes Wetter) oder durch die angebliche Einsicht, so schöne Bauwerke wie etwa den Stephansdom nicht zerstören zu wollen, bedingt. So merkwürdig das auch immer klingen mag, für Schulbücher reichte das immer. Nach diesem Fehlschlag lernte man im Osmanischen Reich wegen der sich immer mehr häufenden militärischen Niederlagen auch mit deren Umgang und Interpretation der Gründe umzugehen. Das änderte aber bis heute nichts am tieferen Hintergrund, der im obigen Buchauszug steckt, auch wenn dieser nicht sofort erkennbar ist.
Ob nun ein Sultan/Kalif oder ein Ministerpräsident oder seit neuerer Zeit ein Präsident die Türkei beherrscht, hat sich in der Einstellung des türkischen Menschen zu seinem Land und zu seinem Türkentum nur sehr wenig geändert. Und wenn ein hoher Politiker (Staatspräsident oder Ministerpräsident) ein europäisches Land besuchte, wurde er stets von einer möglichst großen Zahl der dort lebenden Türken begrüßt, so als ob in dieser Person der Vertreter des Sultans/Kalifen (bis Erdoğan die Militärführung) das Land betritt.
Als ich am 31. August 1974 mit meiner Familie zum ersten Mal überhaupt nach Istanbul kam und meinen Dienst im St. Georgs Kolleg antrat, lernte ich diesen Tag als Feiertag zum Sieg über die Griechen nach dem 1. Weltkrieg (Zafer günü) und gleichzeitig aber auch den Stolz über die vor kurzer Zeit erfolgte Eroberung Nordzyperns kennen. Ich hatte zu dieser Zeit keine Ahnung über die christlichen Glaubensgemeinschaften, über die verschiedenen Interpretationen des Islams, über die Minderheiten (etwa 26) oder über die Politik in diesem Land. Sich ein bisschen Ahnung zu verschaffen war schwierig genug. Durch die ersten kleineren und größeren Reisen über das ganze Land hinweg kam immer mehr Wissen hinzu.
Aber nach bis heute 46 Jahren distanzierter Verbundenheit mit diesem Land können wir, meine Frau sowie unsere Kinder und ich, mit Fug und Recht behaupten, dass wir von der Mentalität der Menschen in der Türkei nur wenig (!!!) mitbekommen haben, aber trotzdem unendlich viel mehr als viele europäische Journalisten und dementsprechend ihre Leser ebenso wie kurzzeitige Türkeireisende. Und gerade dieser Unterschied bedingt bei uns auch immer ein Kopfschütteln über diverse Berichterstattungen.
Der Islam formt zweifellos die mentale Einstellung der Menschen. Dazu kommt aber besonders in der Türkei eine sehr starke nationale Erziehung bereits vom Kindergarten an. In der Grundschule wurde in meiner Zeit jeden Tag eine Fahnenfeier vor Unterrichtsbeginn abgehalten, wobei am Montag die türkische Fahne aufgezogen und am Freitag nach dem Unterricht schließlich eingeholt wurde. Nach Beginn der Feier wurde die türkische Hymne gesungen und anschließend mussten Schüler aus den höheren Klassen Texte an die Nation vortragen. Danach begann der Unterricht. In den mittleren Schulstufen und im Gymnasium wurden diese Fahnenfeiern mit angepassten Reden nur mehr am Montag vor dem Unterricht und am Freitag nach dem Unterricht durchgeführt. Dazu kamen spezielle Feiern und Umzüge mit wiederum nationalen Reden an Feiertagen wie Kinderfest (April) und Jugendfest (Mai) sowie an Atatürks Todestag zur Zeit der Todesstunde (10. November, 10.10h).
Vor allem in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in Istanbul war die letztere Feier äußerst eindrucksvoll. Zum Zeitpunkt des Todes ertönten die Schiffsirenen, alle Autos blieben stehen, die Fahrer und Passagiere stiegen aus und standen stramm, alle Fußgeher blieben stehen und das Leben schien für etwas über eine Minute bis zum Ende der Sirenen still zu stehen. Bis zum Ende meines Aufenthalts an St. Georg 2003 verflachte diese atatürktreue Einstellung immer mehr.
Zu den schulischen Einflüssen auf die noch jungen Menschen kam dann über ihr ganzes weiteres Leben hinweg der Einfluss durch die Medien, vor allem über das Fernsehen. Für jene, die das Lesen und Schreiben erlernt hatten, auch über die Zeitungen. Sie kamen also kaum einmal aus der Mühle der Beeinflussung heraus.
Der Anteil der Analphabeten ist in der türkischen Bevölkerung sehr hoch. Im Jahr 2002, noch bevor die Partei Erdoğans die Parlamentswahl gewann, veröffentlichte die Zeitung "Hürriyet" ("Die Republik") die neuesten Zahlen: Bei Frauen wurden mehr als 27 Prozent und bei Männern mehr als 8 Prozent angegeben. Die heutige Regierung der Türkei gibt weitaus niedrigere Ergebnisse an, was aber allein schon wegen des seit 2002 erfolgten großen Bevölkerungszuwachses nicht möglich zu sein scheint.
Jene türkischen Staatsbürger, die um zu arbeiten nach Europa kommen, stammen zumeist aus anatolischen Dörfern und werden ganz sicher eine Frau aus dem jeweiligen Dorf heiraten, wobei die Verehelichung oft schon im Kindesalter von den jeweiligen Eltern ausgemacht wurde. Das ist auch der Grund, warum so viele türkische Frauen in Europa weder des Lesens noch des Schreibens mächtig sind, auch wenn ihre Ehemänner trotzdem wenigstens in Grundzügen das Lesen und das Schreiben beherrschen. Dazu kommt dann die Berieselung durch türkische Satellitenprogramme vom Aufstehen weg bis zum Einschlafen. Was sollen Kinder in einer solchen Elternlage auch von zu Hause lernen?
Aus den Nachrichten der TV-Programme lernen die türkischen Menschen im Heimatland ebenso wie im europäischen Gastland eine der wichtigsten Grundlagen für den Ausbau des speziell türkischen Nationalismus, der sich heute ohne Scheu mit stark islamischer Ausrichtung paart: Der Türke steht immer allein da und kann sich nur auf sich selbst und seine türkische Umgebung verlassen. Nur er selbst in Verbindung mit seiner türkischen Umgebung und mit Hilfe seiner Heimat kann sich gegen die feindliche Umgebung wehren!
Ein sehr großer Teil der türkischen Staatsbürger geht durch die türkische Früherziehung oder durch den Imam, der den Religionsunterricht in der jeweiligen europäischen Schule macht, oder durch die türkische Gemeinschaft, die man aus Unverständnis gegenüber der fremden Umgebung und wegen des Mangels an Willen, etwas Neues wie etwa die fremde Sprache zu erlernen, aufsucht. Stammt man als Kind aus einer der oben skizzierten stark bildungsfernen Familie und hat man keinen eigenen starken Willen, etwas zu lernen, hat man kaum Möglichkeiten des Entkommens aus der gesellschaftlichen Umklammerung.
Ausartung des Lebens in verschiedene Extremismen sind damit vorprogrammiert. Leider bei viel zu vielen Kindern und Jugendlichen. Hochachtung allen türkischen Eltern, die diese Falle erkennen und ihrem Kind helfen, heil in ein selbstbestimmtes Leben zu entkommen. Zumeist ist dies nur durch Umzug in eine andere, bessere Gegend möglich.
Das oben Gesagte ist ein ganz wichtiger Grund, warum eine echte Integration nur schwer möglich ist. Es muss ja nicht jeder Integrationswillige ein Akıf Pirinççi sein, aber auch auf niedrigerem Niveau ist eine Integration durchaus möglich.
Allerdings haben es alle europäischen Länder und besonders in der letzten Zeit die EU völlig verabsäumt, die schon sehr früh merkbaren Anzeichen zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Ich führe hier zwei Beispiele an, die zwar aus Zeitungen in der Türkei stammen, die aber etwa auch in den türkischen Zeitungen, die in Deutschland gedruckt wurden, zu erfahren gewesen wären:
- 1981 lasen wir in der Zeitung "Güneş" ("die Sonne") einen Artikel, der zusammengefasst den folgenden Inhalt hatte: Unsere Soldaten konnten zwei Mal Europa nicht erobern, weil sie Wien nicht einnehmen konnten. Das wird uns aber nun mit der Zeit durch unsere in Europa tätigen fleißigen Arbeiter ohne Blutvergießen gelingen!
Wir haben anfänglich darüber gelacht, aber schon nach wenigen Jahren ist uns das Lachen vergangen.
- 1987 pochte die Türkei nach der Aufnahme Griechenlands in die EWG auf die schon lange zurückliegenden Aufnahmezusagen der Gemeinschaft, wurde aber zurückgewiesen. Der Tenor aller Meldungen in den Medien war sehr einheitlich in der Form: Wir werden die Europäer mit ihren eigenen Gesetzen in die Knie zwingen!
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon lange aufgehört, über solche Aussagen zu lachen.
Beide Beispiele führen Vorgänge an, die schon lange ablaufen und nur mehr schwer zu stoppen sind. Vielen in den Gymnasien erfolgreiche Schüler mit türkischer Abstammung wird ein Jus-Studium von der Gemeinschaft finanziert, für deren spätere Ausbildung zu Rechtsanwälten nur wenige Rechtsanwaltskanzleien notwendig waren, weil deren Absolventen auch bei der Errichtung eines eigenen Büros geholfen wurde und Klienten gab es genug.
- Vielleicht ist noch ein kleines Beispiel notwendig, um den Ausschnitt aus dem Buch des Freiherrn von Sax zu unterstreichen. Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts hat eine Ministerin im Kabinett der Ministerpräsidentin Tansu Çiller auf die Frage, warum nur so wenige Türken aus Deutschland wieder in ihr Heimatland zurückgehen, gesagt:
Türken krallen sich in fremden Ländern fest und lassen sich nicht so leicht vertreiben!!
Ich wollte hier nur andeuten, warum man, wenn nichts dagegen unternommen wird, von Türken, ob jung, ob alt, nichts anderes erwarten kann, als derzeit von ihnen geboten wird. Das hat direkt mit Erdoğan nur wenig zu tun, der Einfluss der türkischen Regierungen in Europa war schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts sehr groß. Nur war vor Erdoğan der Sultan/Kalif vertreten durch die Macht des Militärs, die die Regierungsmitglieder wie Puppen tanzen ließ.
Peter Toplack war jahrzehntelang Lehrer am von Österreich finanzierten St. Georgs-Kolleg in Istanbul, wo er mit seiner Familie auch lange lebte. Er ist daher heute einer der besten Kenner der Türkei in Österreich.