Ein etwas längerer, anspruchsvoller wie anregender Text rund um den Begriff und die Bedeutung des Gewissens. Mit folgenden Etappen: das Gewissen in stehenden Gewässern; die Stimme des Gewissens, antik und modern; moderne Aufklärung und Nietzsches Ich-Omnipotenz; vom guten archaischen Menschenopfer zu Sokrates‘ Geiselhaft; von heteronomen Marionetten zu autonomen Menschen; Analogie zwischen antiker und moderner Aufklärung; as neue christliche Gewissen: frei oder unfrei?; Kämpfe zwischen libertärem und autoritärem Gewissen; Über- oder Unvernunft der Glaubenswahrheiten?; das konfessionelle Gewissen; politische als Vollstrecker religiöser und moralischer Systeme; zur weltgeschichtlichen Biographie des Gewissens; Imame als letzte Mohikaner einer antiken Philisterkultur?; Fragen an das vernunftautonome Gewissen; moderne Moralen vorm Sturz in den Abgrund?; Freiheit contra Vernunft; wissenschaftliche statt philosophischer Aufklärung?; neue Ideologie-Allianzen der Wissenschaften in Sicht?; und die "wissenschaftliche" Illusion des Gewissens.
Das Gewissen in stehenden Gewässern
Gewissen sei ein Begriff, der sich theologisch und philosophisch durchgesetzt habe, weil neben Theologen, Philosophen und Juristen die ganze lange Geschichte des Abendlandes zusammengewirkt habe, um das Werk der Durchsetzung zu vollenden: Diese stattliche Referenzbestätigung wird seit dem 19. Jahrhundert, spätestens seit Nietzsche, bezweifelt, in Frage gestellt und als Ideologe, als falsche Lehre über das Wesen des Menschen vorgeführt.
Seither steht das Gewissen gleichsam in stehenden Gewässern, und der moderne Mensch scheint nach freiem Belieben entscheiden zu können: Gewissen? Nein, danke. Oder doch: Gewissen sei eine Instanz in jedem Menschen, auch in jenem, der sich soeben entschieden hat, abzulehnen, eines haben zu wollen.
Nach dieser Alternative kann man Gewissen entweder haben wie ein Ding, wie einen Besitz, wie ein sachliches Eigentum, oder man kann es nicht haben, weil es mit der Person des Menschen, auch und gerade jenes Menschen, der darauf pocht, dass er aus Freiheit entscheide, somit in Freiheit denke, erkenne und bestimme, untrennbar verbunden ist.
Auffällig ist schon an dieser Stelle der Argumentation, dass man von gutem und schlechtem Gewissen nur reden kann, wenn man mit diesem merkwürdigen Etwas, über das so extreme Gegensatzmeinungen möglich zu sein scheinen, in Verbindung steht. Sei es in der Form eines äußeren Habe-Besitzes, sei es in der Form eines inneren Selbstverhältnisses, das der Mensch ist, noch ehe er anfängt zu überlegen, ob er sich eines zulegen soll oder nicht.
Nun war es gewiss Nietzsches Glaube und Meinung, dass der Mensch mit gutem Gewissen nicht nur behaupten solle, er benötige kein Gewissen, sondern dass er mit gutem Gewissen auch ohne Gewissen leben könne.
(Eine Lehre oder kühne Weisheit, die von ferne an die mystische mancher Religion erinnert: habe, als habest Du nicht, lebe, als lebest Du nicht, sei da, als seiest Du schon nicht (mehr) da.) Demnach hätte Nietzsche, als er das "durchgesetzte" Gewissen bezweifelte, weil seine Durchsetzung gegen das wahre Wesen des Menschen, gegen dessen Freiheit und heroische Eigenständigkeit, und vielleicht noch andere bislang unentdeckte hohe Eigenschaften verstoße, in der Tat aus bestem Wissen und Gewissen gedacht, gehandelt und verkündet.
Angesicht dieses stehendes Gewässers – Behauptung steht gegen Behauptung – könnte das Thema "Gewissen" beizeiten verschwinden, weil stehende Gewässer, wenn sie nicht aus Quellen oder Zuflüssen gespeist werden, über kurz oder lang zu versickern pflegen. Ein Versickern und Verschwinden, das Nietzsches Behauptung offensichtlich bestätigen würde: Was aufgrund von Irrtum, Lüge und Gewalt (Mächtige gegen Schwache, Freie gegen Unfreie, äußere Instanzen gegen innere Ungewissheit) durchgesetzt wurde, das verdiene, endlich aus der Geschichte der Menschheit zu verschwinden.
Wer aber diese Meinung Nietzsches und seiner Nachfolger nicht teilt, muss darauf bestehen, das Thema Gewissen als zeitloses Problem, als unabwendbare Frage und Aufgabe zu behandeln. Auch wenn er sich damit zu Komplizen derer macht, die sich jahrtausendelang als Durchsetzungs-Instanzen und -Gehilfen betätigt haben. Zwar genießen diese in unserer wissenschaftlichen Welt, in der die "wissenschaftlichen Weltanschauungen" dominieren, nur mehr wenig Ansehen und noch weniger Macht. Und überdies zeigen sich die Theologien und Philosophien der modernen Welt auch in der Frage des Gewissens durchaus uneinig.
Und dass die dritte Instanz, Rechtsfindung und Rechtsprechung, Jura und Justiz, zur Not auch mit Menschen auskommt, die ganz ohne Gewissen leben, wenn sie nur treu und gehorsam unter Gesetzen leben, ist bekannt. Über die Findung und Einhaltung von Gesetzen walte ohnehin nicht der Mensch als rechtlich unberufener und juridisch unbestallter, sondern das Gericht und dessen Richter als allmächtige Sachwalter von Recht und Ordnung. (Weshalb eine Richterdemokratie das wahre Ziel der noch existierenden Demokratie sein könnte.)
Dass das stehende Gewässer wirklich steht, ist demnach verständlich, doch zugleich auch verwunderlich und verdächtig, dass es immer noch nicht versickert ist, obwohl unzählige wissenschaftliche Erklärungen das Gewissen als Schein, Irrtum, Suggestion und unterdrückende Ideologie nachgewiesen haben.
Die Stimme des Gewissens, antik und modern
Zwar glaubten die Alten der Antike, darunter berühmte Philosophen wie Sokrates und Platon, dem Gewissen des Menschen sogar eine Art Stimmenpräsenz zusprechen zu können. Unauslöschbar melde sich eine beurteilende und richtende Stimme aus dem Innersten des Menschen, das ihn zwinge, über sich selbst Gericht zu halten.
Und dies nicht erst bei großen Taten und Anlässen, Plänen und Absichten, sondern schon bei kleinen und geringfügigen, über die andere Menschen, die nicht betroffen sind, wie über Lächerlichkeiten hinweggehen. Entweder wirklich, oder doch nur eingebildet und scheinbar, weil sie ihrerseits bei anfälligen Kleinigkeiten, die sie selbst betreffen, nicht weniger streng und penibel mit sich umzugehen pflegen.
Man mag diese Umstände und Zustände des Menschlichen zugeben, aber damit ist noch nicht geklärt, ob es nicht doch nur allzumenschliche Verhaltensweisen sein könnten, die einer universalen Schwächung des Menschen entspringen, die wiederum auf starke Mächte der Gesellschaft und dunkle Milieus der Geschichte zurückgehen. Abermals steht Aussage gegen Aussage, Meinung gegen Meinung, Behauptung gegen Behauptung, Lehre gegen Lehre.
Verdächtig bleibt allerdings, dass auch jener, der das Gewissen ablehnt, weil es als Produkt einer indoktrinierten Sozialisierungsmaschinerie durchschaubar sei, (als Mittel, die Freiheit des Menschenwillens zu einzuschränken), mit diesem Durchschau-Urteil zugleich den Anspruch erhebt, gewissenhaft und keineswegs beliebig geurteilt zu haben.
Auch dieser Ablehner des Gewissens erhebt somit dessen Anspruch, der nach einer populären Definition von jedem Menschen fordert: mit seinem Tun und Denken, Wollen und Verhalten, Urteilen und Wünschen "in einer inneren Zustimmung" zu stehen. Nach Möglichkeit widerspruchsfrei mit sich selbst zusammenzuleben, erscheint demnach als sympathische Umschreibung dessen, was unter dem Titel "Gewissen" heutzutage, da Liberalität und Laissez-faire zu höchsten Gütern einer Spaßkultur aufgestiegen sind, sich unangenehm moralisierend und bevormundend ausnimmt.
Einen ganz anderen Klang jedoch erhält das von den Ablehnern beanstandete "Gewissen", das nur angeblich tatsächlich existiere, wenn es mit dem Wort "Gewissensfreiheit" serviert wird. Denn nun erscheint es nicht mehr als unangenehme Freiheitsbeschränkung, sondern als Paradies autonomer Freiheit, als unendlicher Raum, in dem das Wollen und Tun des Menschen seiner eigenen Autorität folgen darf und folgen soll.
Und diese Art von Gewissen sei eigentlich auch gemeint, wenn in den Verfassungen der modernen Demokratie die Freiheit jedes Menschen als universales Menschenrecht per Gesetz verankert wird. Nur als Freier seiner Freiheit lebe der Mensch als freies Gewissen, und dieses Faktum des menschlichen Lebens setze die Gewissensfreiheit als höchste und tiefste Instanz voraus.
Moderne Aufklärung und Nietzsches Ich-Omnipotenz
Das menschliche Ich als oberste und letzte Instanz seines Entscheidens im Ja und Nein, im Pro und Contra der unübersehbar vielen Wahlmöglichkeiten, Dieses zu tun und Jenes zu unterlassen, wird nun zum Träger eines Wissens, dem normierende Kraft zugebilligt wird. Es erstaunt, wie unproblematisch die moralische Vernunft, in deren Namen die europäische Aufklärung argumentierte, jedem Ich zugebilligt wird, diese Vernunft selbst zu sein, oder ihrer gar nicht mehr zu bedürfen, weil es kraft seiner omnipotenten Ichheit wisse, was in jedem Fall als das Richtige und Wahre zu tun sei.
Wenn es das Motiv Nietzsches war, das Gewissen als unterdrückende Macht abzulehnen, weil das freie Ich kraft eigener Vernunft schon wisse, wie es sich zu behaupten habe, dann ist die Frage unabweislich, ob dieses Motiv im Sinne der Aufklärung oder der Gegenaufklärung argumentiert. Woher kommt dem "gewissenlosen" Ich die Kraft zu, im Namen einer je eigenen und individuellen Vernunft zu erkennen und zu entscheiden, zu urteilen und zu handeln? Wie sollte eine individuelle Vernunft zugleich als normierende und normierte Vernunft, somit überhaupt als Vernunft denkbar und real möglich sein?
Ich bin als Ich die Norminstanz meines Tuns und meines Lassens, ich erkenne durch meine normgebende Macht jene Werte, die für mich zu tun oder zu lassen sind. Kommt das Ich in dieser Relation jemals aus dem Gefängnis seiner Individualität heraus? Mein Tun ist mein Tun, mein Lassen ist mein Lassen, und das Tun und Lassen aller anderen ist das aller anderen?
In diesem Modus unumschränkter Persönlichkeit sollte das Ich die Einheit seiner Person als gewissenhaft wahre Einheit erfahren und konstituieren können? Es ist offensichtlich problematisch, die Moralität der Person mit deren Identität unmittelbar kurzzuschließen. Wer dies versucht, hat versucht, eine Moralität des Menschen jenseits von Gut und Böse zu denken.
Fiele die Differenz von Sein und Sollen jeweils nur in den Raum einer Person, wäre diese, da als Mehrzahl existierend, wenn sie sich darüber nicht mehr austauschen müssten, nichts anderes als kluge Tiere; müssten sie sich aber austauschen, hätten sie dazu in einer nur persönlichen Vernunft kein Pouvoir, keine wirkliche Vernunft, keinen wirklichen allgemeinen Willen. Kurz: ein guter Wille, der nicht als allgemeiner Wille existiert, wäre in der Tat der Wille eines gewissenslosen Gewissens. Wollte Nietzsche auf diesen Ast eines Willens zur Macht hinaus?
Vom guten archaischen Menschenopfer zu Sokrates‘ Geiselhaft
Die geschichtliche Genealogie des Gewissens wird durch seine mythische Herkunft konstruiert: Vorgestellt wird, dass äußere Mächte, selbst noch personifiziert vorgestellt und erlebt, das Innere des archaischen Menschen konstituieren und regulieren. Götter, Halbgötter, Dämonen, ein ganzes Heer an übersinnlichen Agenten und hierarchisch organisierten Mächten "besetzen", von Stamm zu Stamm, von Jahrhundert zu Jahrhundert sehr verschieden, deren vorichhafte Iche.
Man müsste wohl ganze Pyramiden an kulturellen Schichten, die seither aufgerichtet wurden, wieder abbauen und abtragen, um an die archaischen Wurzeln und Gewohnheiten unserer Vorgänger-Menschen heranzukommen. Archaische Schichten, die für uns, müssten wir unsere heutigen Lebenswände wieder mit ihnen tapezieren, pathogen, schizophren und halluzinatorisch geworden wären.
(Auch moderne Kunst bemüht sich mitunter redlich darum, dieses Handwerk voranzutreiben, allerdings nicht uneigennützig und daher in aller Regel doch nicht redlich genug, sondern ideologisch selbstverliebt: Unser "Picasso-Genie" sei unser "archaisches Genie", stellt uns kein rationales Intelligenzzertifikat aus.)
Stellen wir uns das archaische Vorich-Ich als mit fremden oder gar kollektiven Stimmen erfüllt vor, haben wir uns bereits als Opfer unserer Metapher "Stimme" betätigt: Was ein archaisches Ich trägt und leitet, muss nicht erst summen, brummen, singen oder brüllen, um konstituierend präsent zu sein. Vergangene Bewusstseinsformen des Menschen dürften uns noch verschlossener sein als das Innenleben der nicht domestizierten Tiere unserer Jetztwelt.
Mit bestem Wissen und Gewissen wurden jedenfalls jene Menschenopfer vollzogen, die der Berg über dem Stadion zu Olympia (Kronos-Hügel) vielleicht durch zwei oder drei oder mehr Jahrhunderte erblickte. Und an diesem Satz, der unsere Rationalität von Wissen und Gewissen mit einer bewährten Spruchformel wiederholt, obwohl ihm die Realität, über die er hier spricht, mit der archaischen Faust ins Auge schlägt, haben wir das wissenschaftliche Orakel einer "Rekonstruktion" in seiner ganzen Naivität vor uns.
Es ist eines, das auch die Reichweiten unserer Dichtungsformen von Drama und Tragödie gänzlich transzendiert, weshalb es auch niemals mehr als schüchterne Versuche der Dichtung und des Films geben kann, die Konflikte der exponierten archaischen Individuen (der opfernden Priester, der geopferten Menschen) darzustellen. Es gibt keine protokollarisch objektive Historie des Gewissens, keine der archaischen Menschheit und ihres mythischen Geistes. (Vischers Roman "Auch Einer" versucht sich daran.)
Aber es sagt sich angenehm leicht ("unterhaltsam"), dass das Gewissen der alten Griechen zunächst als Macht personifizierter Erinnyen "von außen" wirkte, ehe diese Vor-Repräsentanten, wenn man nur wüsste wodurch, wie und wann, "als Gewissen" von innen zu wirken begannen, um schließlich sogar einen Sokrates in tödliche Geiselhaft zu nehmen.
Von heteronomen Marionetten zu autonomen Menschen
Der entscheidende Schritt der Befreiung von den Göttern, die "von außen" in das Ich des Menschen einsprachen, dieses Ich somit von außen – absolut heteronom – leiteten, muss auf vielfältige Weise, durch vielfältige Ursachen geschehen sein, weil auch das authentische Marionetten-Bewusstsein der archaischen Gewissen nicht als eindimensionales Lebensbewusstsein funktionierte. Wofür schon die Vielfalt der Vorsokratiker-Philosophien einen Beweis liefert, auch wenn diese die Genese des freien Gewissens zunächst nur peripher behandelten.
Keine Marionette zu sein, sondern mit den Göttern gleichsam in Konkurrenz treten zu müssen, muss schlussendlich in der antiken Aufklärung unausweichlich geworden sein. Aber diese Aufklärung durch autonomen Verstand und freie Vernunft war bereits das Produkt der Auflösung des absolut heteronomen Götter-Bewusstseins, keineswegs selbst die ursächlich vorangehende und womöglich patentierte Erfindung freiheitsliebender Philosophen und Sophisten.
Obwohl diese als Repräsentanten der neuen Bewusstseins-Gestalt missionierend und neue Gemeinschaften organisierend vorangehen mussten. Vom Erschöpfungsprozess der Heteronomie geben noch heute die Epen und Dramen, davor schon die Theogonien der noch unzerbrochenen antiken Kultur ein beredtes Zeugnis ab.
Das absolut heteronome Götter-Bewusstsein des noch "authentisch" antiken Menschen musste sich selbst erschöpft haben, obwohl und weil es über Jahrhunderte hin seine Widersprüche entweder verbergen oder durch Schein-Versöhnungen überspielen konnte. Erst nach einer relativ weitreichenden Vollendung dieses Prozesses konnte in den "aufgeklärtesten" Stadtstaaten Hellas, nicht zuletzt in den Kolonial-Städten Italiens und Kleinasiens, der Versuch einer Neubegründung (der conditio humana) unternommen werden.
Analogie zwischen antiker und moderner Aufklärung
Dieser krankte daran, dass für die alten Götter kein Ersatz zu finden war. (Wovon der Cross-Over-Götter-Himmel des späten Roms nur ein bestätigender Reflex war.) Die Behauptung der Aufklärer jedoch, ein solcher Ersatz sei unnötig und widerspreche der stattgehabten oder statthabenden "Auflösung des absolut heteronomen Götterbewusstseins", wurde an den Pranger des inkriminierten Atheismus gestellt.
Doch kamen weder die alten Götter zurück, noch kam ein universaler Vernunftglaube in die Geschichte, sondern, wie so oft in der Geschichte, kam auch damals "alles ganz anders". Eine neue Religion mit einem ganz anderen Gott eroberte binnen weniger Jahrhunderte das Bewusstsein der nachantiken Menschheit in Europa und Vorderasien.
Die Analogie zur Gegenwart ist verblüffend: Auch heute schwebt über den Häuptern der modernen Menschheit die Frage: Wenn der alte Gott tot und kein neuer in Sicht ist, behauptet dann die moderne Aufklärung zurecht, dass ein Ersatz und mehr als ein Ersatz nicht nötig und nicht möglich sei? Das Interregnum der Unentschiedenheit dürfte noch ein, zwei oder mehr Jahrhunderte fortdauern. Wer vermöchte heute zu sagen, dass auch der moderne Atheismus eines Tages, wie der antike, Makulatur oder marginal geworden sein wird?
Am Ende der Antike erfüllte das Gewissen der Stoiker eine unverzichtbare Übergangsstufe zur Herrschaft des christlichen Lebensprinzips. Die kaum noch ertragbaren Konflikte und Entzweiungen der implodierenden (Heiden)Kultur verlangten nach rigorosen Tugenden eines stoischen Gleichmuts, der auch den Selbstmord – in aussichtloser Zwangslage – als gutes Handeln einschloss.
Und dass die antike Aufklärung ihr welthistorisches Plansoll durch die Wendung zur Stoa am alternativlos Besten erfüllt hat, dürfte außer Zweifel stehen. Andere als widersprüchliche Ethiken sind in implodierenden Übergangsepochen, in denen das Alte noch nicht sterben, das Neue noch nicht erscheinen kann, nicht möglich, nicht erreichbar und nicht lebbar.
Das neue christliche Gewissen: frei oder unfrei?
Mit der Einführung des Christentums lag es nahe, den neuen einen (und zugleich dreieinigen) Gott in der Mitte des menschlichen Gewissens zu postieren. Als Gottesstimme nämlich, die hörbar und erkennbar diktiere, wie und was das Ich zu denken und zu handeln habe, um sich und andere Iche als moralische Menschen anerkennungsfähig zu machen.
Doch an dieser theologisch-kirchlichen Definition des Gewissens mussten sich die Geister des neuen Gottesglaubens scheiden. Eine Stimme, der zu gehorchen war, weil sie als oberste Autorität des Bewusstseins zu hören und zu befolgen war, schien die Befreiung von den (oft kleinlichen und vieles tabuisierenden) Mythen der Götter nicht nur rückgängig zu machen.
Jetzt schienen sogar ein neues Gehör und ein neuer Gehorsam vonnöten, um dem neuen Gott als Gottheit begegnen und Genüge leisten zu können. Und außerdem stellte sich die Frage nach dem neuen Kult, der gleichfalls beanspruchte, die Mitte des Gewissens der Gläubigen als System kirchlicher Pflichten zu besetzen. War die Stimme daher nicht wirklich vernehmbar – wie vermutlich die Mehrzahl aller ehrlichen Gläubigen bekundete –, konnten die Kirchen immer noch behaupten, dass der Ritus nichts anderes als das laut und deutlich vernehmbare Sprechen und Diktieren Gottes sei.
(Womit freilich die heteronome Herrschaft einer Priesterherrschaft über das Gewissen der Gläubigen errichtet wurde. Diese mussten erst nachfragen, ob ihr Gewissen wahr und rein erkannt habe. Die kirchliche Beichte wurde zur Stunde der Wahrheit des Gewissens: das unreine wurde reingewaschen.)
Doch damit zerfiel der Anspruch des Gewissens, sich für alle Lebensbereiche, nicht nur für die religiösen, nach guten und wahren Grundsätzen moralisch gesinnen und zurechnungsfähig handeln zu können. Der Anspruch auf autonome Selbstbestimmung seines Willens schien dem christlich befreiten Ich wieder genommen zu sein. Die alte Marionette schien vom Regen nur in die Traufe gefallen.
Kämpfe zwischen libertärem und autoritärem Gewissen
Das Schwanken zwischen einer libertären und einer autoritären Auffassung des Gewissens, dem Christentum bis heute vertraut, begann bereits in der Epoche der Apostel und Kirchenväter. Welcher Begriffsname bei den Evangelisten die Sache und das Problem des Gewissens vertrat, musste naturgemäß umstritten bleiben. Aber die Anlehnung der frühen christlichen Theologie an die spätantiken Ethik-Konzepte machte eine Adaption dessen, was mit dem Namen "Gewissen" zu verbinden wäre, unumgänglich. (Die Verschränkung von Glauben und Denken wurde nicht zufällig am Problem des Gewissens unhintergehbar bewusst.)
Auf der libertären Seite redeten die Briefe des Apostel Paulus eine deutliche Sprache: Beinahe gewinnt man den Eindruck, der moderne theologische Standpunkt, gegen sein Gewissen dürfe kein Mensch zum christlichen Glauben gezwungen werden, habe bereits seinen Reflexionen Pate gestanden. Auf der autoritären Seite fanden sich jedoch bald jene autokratisch-obrigkeitlichen Denkweisen in Theologie und Kirche ein, die in den kommenden Schismen der sich trennenden Konfessionen zu grausamen (innerchristlichen) Religionskriegen führen sollten.
Rechtgläubige töteten Falschgläubige mit bestem Wissen und Gewissen. Die richtige Konfession dachte, entschied und handelte für ihre Gläubigen gegen alle falschen Konfessionen und deren Irrgläubige.
Ob die Frage, inwiefern noch heute das Gewissen eines Katholiken mit dem Gewissen eines Protestanten – aus christlichen Gründen – kollidieren könnte, eine nur noch rhetorische Frage ist, dürfte ihrerseits umstritten sein. Jedenfalls kann der Übertritt von einer in die andere Konfession nicht ohne gewissenhafte Befragung und wahrhafte Entscheidung des Konvertiten erfolgen, und zugleich nicht ohne aktive und genehmigende Mitwirkung der konfessionellen Autoritäten. Hingegen haben dieselben Autoritäten beim verbreiteten Kirchenaustritt ihrer Mitglieder nur noch abratende, keine entscheidenden, keine rechtlichen Entscheidungsmöglichkeiten mehr.
Über- oder Unvernunft der Glaubenswahrheiten?
Als die Aufklärung noch in weiter Ferne lag, mitten im "Hochmittelalter", plädierten namhafte Vordenker der Scholastik, Bonaventura und Thomas von Aquin, für die Anerkennung des Gewissens als höchster Autorität des Menschen, als Höchstinstanz des Individuums Mensch. Mag dessen Gewissen auch ein "irrendes Gewissen" sein, so könne ihn doch keine Institution davon befreien, durch eigene Vernunft über sein eigenes Fürwahrhalten frei zu entscheiden.
Doch wie konnte der Vernunft des Menschen die letzte Zustimmungsbefugnis zu Glaubensinhalten erteilt werden, ohne einer Sprengung der Kirche vorzuarbeiten? Die Wahrheiten des christlichen Glaubens stehen bekanntlich über oder unterhalb aller Vernunft und auch aller empirischen Tatsachenwahrheiten. Ihr Fundament ist der Glaube als Glaube, und daran ändern historische Tatsachen und biblische Berichte kein Jota, weil diese nur als bereits anerkannte Inhalte des Glaubens wirkmächtig sind.
Dem Kleinen Einmaleins müssen wir als mathematischer Wahrheit zustimmen, wenn wir uns überzeugt haben, dass deren Lehrinhalt nicht unvernünftig, sondern schlechthin notwendig ist – somit unser rechnendes Denken in Quantitäten ohne Ausnahme bestimmt.
Aber die Lehrinhalte der biblischen Heilsgeschichte kennen keinen rationalen Zielpunkt, an dem man erkennen könnte, der zu glaubende Sachinhalt sei als vernünftig-verbindlicher für alle vernünftigen Menschen einsehbar. Wer im Kleinen Einmaleins malt und zeichnet, darf, kann und muss mit bestem Wissen und Gewissen behaupten, in seinem Tun rechne der Geist der ganzen vernünftigen Menschheit. Weshalb das Lehren und Erlernen dieser Wahrheit erst dann gelungen ist, wenn der Lernende durch Erkannthaben seine Zustimmung erwirkt hat. Dieses Gewissen kann in Tat und totaler Wirklichkeit nicht mehr irren.
Was aber sollte geschehen, wenn sich das Gewissen der Gläubigen gegen die Kirche und deren glaubensamtliches Fürwahrhalten ausspricht? Eine Frage, die sich vor der Reformation nur als Problem des Ketzertums und seiner Bekämpfung stellte. Nur die eine und wahre katholische Kirche verfügte über die Macht, das wahre und gute Gewissen in allen Glaubensfragen der Gläubigen zu begründen und zu garantieren. Diese aus heutiger Sicht mit ebenso herrlicher wie schrecklicher Naivität operierende Autoritäts-Praxis wurde jedoch mit der Reformation von innen her erschüttert und generell gebrochen.
Das konfessionelle Gewissen
Seitdem scheint es nochmals dringlicher geworden, aus freiem Gewissen und freier Vernunft darüber zu entscheiden, welcher der beiden Konfessionen (oder anderen) ein Mensch, der als wahrer Christ leben und sterben möchte, angehören will. Ein Entscheiden dieser Art kommt in Ausnahmefällen – bei den erwähnten Konvertierungen zwischen den Konfessionen – wohl vor, nicht jedoch generell, nicht in der überwiegenden Mehrheit der Fälle, die in der Regel nur zwischen Kirchenaustritt und Nichtaustritt, manchmal noch zwischen Ausgetretensein und Wiedereintritt oszillieren.
Ein reales Entscheiden kommt (so gut wie) nicht vor, weil die Konfessionen durch die Macht ihrer Tradition, die sich durch die Erziehungstradition in den Familien auf deren Kinder überträgt, ein Vorrecht besitzen, das Gewissen der Menschen zu prägen. Wer katholisch geboren und getauft, wird katholisch, wer evangelisch geboren und getauft, wird evangelisch, wer keines von beiden, wird als "religionslos" in die Register der Verwaltung (von der Schule bis zu Begräbnisbehörde) eingetragen. (Und wer austritt, tritt aus, wer wieder eintritt, tritt wieder ein).
Von Kämpfen des Gewissens der Konvertierenden oder Aus- bzw. Wiedereintretenden wird in der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt. Ein Umstand, der die Menschen des Mittelalters und auch des Zeitalters der Reformation maßlos erstaunen würde. Glaubensfragen, die einst Religionskriege mit Millionen Toten entfachten, wurden Privatfragen, die allenfalls zu privaten Familienzwisten oder EinzelKämpfer-Szenarien führen.
Diese epochale Radikalveränderung scheint sich einer universalen Einsicht zu verdanken: Glaubensfragen sind durch kein Gewissen, und mag sich dieses als gewissenhaftestes, vernünftigstes und allwissendstes Gewissen dünken, endgültig als wahr oder falsch zu erkennen oder zu entscheiden.
Eine Epochenrevolution der Ersten Welt, die nochmals bestätigt, was die Kultur der Moderne bestimmt und auszeichnet: deren fundamentale Departements wurden zu ihrer je eigenen Freiheit befreit: die ästhetische Phantasie im Wirken und Schaffen der modernen Künste, das Erfinden und Agieren im Spielen und Spaßhaben der modernen Freizeitkultur, der religiöse Glaube innerhalb seiner Domänen.
Ob diese Freiheit zur je eigenen Freiheit – die der Wissenschaften und auch die der Politiken wäre noch zu ergänzen – als Auszeichnung oder doch eher als Verhängnis eines künftigen Schicksals zu deuten sind, bleibe dahingestellt. Gewiss scheint nur zu sein, dass sich die Freiheit der Wissenschaften und der Politiken ohne Vernunftkorrektive und – Vernunftziele in gefährliche Ideologien verwandeln müssen.
Politische als Vollstrecker religiöser und moralischer Systeme
Der Vernunft des Politischen bleibt die Vernunft des Moralischen als erstes und höchstes Prinzip inkarniert, diese steuert jene, wenn auch meist nicht direkt oder "von außen" erkennbar. Thomas weiß davon, wenn er zwischen dem Gewissen als Ort aller moralischen Prinzipien (synderesis) und dem Gewissen als Ort der Anwendung dieser Prinzipien auf die menschliche Realität unterscheidet.
Das Gottesgnadentum seiner Kaiser und Könige anzuzweifeln wäre den allermeisten Menschen der vormodernen christlichen Epochen nicht in den Sinn gekommen. Ebenso wenig die heilige kirchenpolitische Moralität der Inquisition anzuzweifeln, wenn diese mit Folterbetten und Scheiterhaufen die verirrten Schafe wieder ins Reich heimholte, entweder in das diesseitige oder in das jenseitige der wahrhaft wahren Kirche.
Dass sich die Handlungsinhalte der moralischen Vernunft ändern, weil sich deren epochale Systeme ändern, wozu das Scheitern der politischen Anwendungen abgelebter und problematisch gewordener Moralen mehr als nur beiträgt, ist evident. Dennoch ist die jeweils nächste Vernunftstation kein Garant dafür, weder über die abgelaufenen "gerecht" oder "unfehlbar" zu urteilen, noch über die Haltbarkeit des angebrochenen mehr als vage Vermutungen zu äußern.
Politische Systeme und Handlungen sind direkte Erben ihrer moralischen Systeme und Handlungen: Weil es aber bis heute verschiedene Welten und deren Weltzeiten gibt – Kulturkreise, wie man früher sagen konnte, weil "Kultur" noch kein inflationärer Null-Begriff geworden war –, kollidieren auch verschiedene Vernünfte und deren Mächte, und diese natürlich dort am entschiedensten und verhängnisvollsten, wo die Spitzen der Mächte kollidieren.
Und in diese sind die Religionen – mehr als nur Keime von Kulturen und Kulturkreisen – der verschiedenen Welten als moralische Schuldner verwoben. Wovon areligiös-säkulare Kulturen, wie die der modernen (Ersten) Welt, keineswegs ausgenommen sind.
Zur weltgeschichtlichen Biographie des Gewissens
Die Schwäche der vormodernen Philosophien und Ethiken, Religionen und Theologien, auf die Logik dieser Geschichtlichkeit der epochalen Stationen und Etagen reflektieren zu können und zu wollen, ist bekannt. Doch sind moderne Philosophien und Ethiken, die das Gewissen – als System und Handlungsaktualität – an die Relativität permanenter geschichtlicher Veränderungen ausliefern möchten, lediglich Vorbereiter von multiethischen und multimoralischen Weltzuständen, die in der permanenten Gefahr stehen, die Identität des Humanen und Humanitären – höchste Errungenschaft der Moralität der Ersten Welt –, wieder zu zerstören. Totalitäre Toleranz ohne Widerstand fällt in das Loch einer Falle, die sie selbst geschürft hat.
Schriftliche Dokumente jeder Art belegen (immerhin verweisend) seit Jahrhunderten den weiten Weg, den das Gewissen vom Mittelalter über die Neuzeit bis in die heutige Moderne zurückgelegt hat. In gewissem Sinne kann und muss jedoch die ganze Historie – auch die nicht "aufgeschriebene" Geschichte – als Biographie des Gewissens, freilich eingeschränkt nach Kontinenten und Kulturkreisen, aufgefasst werden. Keine Schlacht, kein Krieg, kein Kampf der Konfessionen und Religionen, in deren Zentrum und Grund nicht ein Kampf des sich entwickelnden Gewissens nachweisbar wäre. Keine politische Veränderung, die nicht auf eine moralische zurückginge.
Und diese Evolution sollte in der gegenwärtigen Welt, im aktuellen Zustand der Menschheit eine "Auszeit" genommen haben? Mitnichten. Rastloses Weiterstürmen macht jeden Versuch eines Innehaltens unmöglich. Umso größer die Gefahr, dass der jeweils nächste Evolutionsschritt ein nur eingebildeter, ein nur herbeigeredeter, somit kein wahrer, sondern nur ein ideologischer Schritt sein könnte, der die Menschheit in neue Sackgassen führen würde.
Denn dass dies überhäufig geschehen ist und immer noch geschieht, ist gleichfalls durch die Dokumente der Historie belegt. Die biologische Evolution der natürlichen Arten hat mit der Entwicklung der politischen und moralischen "Arten" der Menschheit nichts zu schaffen. Wer versucht, die Revolutionen der Neuzeit und Moderne oder auch die Religionskriege der Vormoderne auf biologische Evolutionen zurückzuführen, setzt sich nicht nur dem Verdacht aus, die Weltgeschichte gemäß der Machtlogik auserwählter Rassen zu denken. So harmlos und simpel konnte und kann die Geschichte der Menschheit nicht prozessieren.
Seit der Neuzeit mehrten sich im vormodernen Europa gewisse Stimmen gewisser Denker, die oft unter Lebensgefahr die Möglichkeit einer von der Religion und deren Inhalten unabhängigen Vernunftinstanz der Menschheit behaupteten. Es gäbe eine bestimmte Art der Vernunft, moralische genannt, die es erlaube und sogar erzwinge, die vollständige Autonomie des Gewissens zu fordern, zu begründen und zu leben. Sofern diese Denker diesbezüglich auf antike Konzepte zurückgriffen, waren sie von den Religionen allerdings noch leicht als historistische Träumer und philosophische Ideologen zu distanzieren.
Sollten sie aber eines Tages ohne historische Rückgriffe aus der Vernunftinstanz selbst deren Existenz zweifelsfrei beweisen können, musste das religiöse Distanzieren schwer und schwerer fallen. Das Gewissen der Vernunft und das Gewissen der Religion(en) mussten kollidieren oder wenigstens Waffenstillstände ausrufen, um die Kollisionen als entweder unnötig oder als zumindest vermeidbar zu erklären.
Imame als letzte Mohikaner einer antiken Philisterkultur?
Um die moralische Vernunft als existenzfähig zu erkennen, genüge es jedoch nicht, lautete Kants Vernunftwort, die jeweils vorhandenen Gesetze einer Kultur als Grundlage eines gewissenhaft moralischen Verhaltens vorauszusetzen. Die Voraussetzung müsse tiefer greifen und schürfen: denn die behauptete moralische Vernunft berge Gesetze, die noch die je und je vorhandenen politischen und kulturellen Gesetze mitbestimmten und, sofern diese einer Erst- und Letztbegründung bedürfen, auch wirklich begründen. Moralität begründe demnach Legalität und nicht umgekehrt: ein Prinzip, das nur dort nicht gälte, wo die Inhalte des Handelns völlig variabler Art und Zielsetzung sein können und sein müssen.
Somit verblieben die kontingenten Regeln des menschlichen Handelns außerhalb des Ansinnens der moralischen Aufklärung. Und in dieser Bescheidung kam die nicht-mehr-religiöse Begründung der Handlungsregeln durchaus mit dem Verhalten des religiösen Gewissens überein, weil die Vielfalt des kontingenten Handelns auch innerhalb der religiösen Lebenskulturen nicht und niemals aus religiösen Gründen und Regeln allein steuerbar und organisierbar waren und sind.
Die Versuche der jüdischen Pharisäer diesbezüglich (ähnlich die Hadithen der islamischen Imame und Rechtsgelehrten), ein garantiert gottgefälliges Handeln und Verhalten durch eine vollständig durch religiöse Regeln angeleitete Lebenspraxis auszuführen, sind ein prominentes Beispiel für den Versuch, das Eindringen autonomer moralischer Vernunft erfolgreich abzuwehren.
Hauptwaffe in diesem Abwehrkampf ist ein Subsumtionsschluss, der zwischen einem religiösen Dogma als gottgebotener Erst-Regel und einem speziellen oder gar individuellen Handlungsfall in der kontingenten Lebenswelt einen Kausalnexus für das menschliche, wenn es "dick" kommt, wie im heutigen Islam, auch für das kollektive Handeln der Gläubigen postuliert, der politisch durchgesetzt wird.
Dagegen hilft es wenig, wenn einige oder sogar viele Menschen und deren Organisationen diesen Kausalnexus als Schein und Betrug, als Vorwand und Selbstbetrug der machthabenden Religionsausleger durchschauen. Solange das Monopol der Deutungsmacht nicht gebrochen wurde, wird auch das politische Machtmonopol weiterbestehen. Der Imam wird befragt und bestimmt, was zu tun und was zu lassen ist. Er erkennt und handelt als Orakel aus göttlicher Pflicht und ist insofern der letzte Mohikaner einer (neo)antiken Unfreiheitskultur.
Fragen an das vernunftautonome Gewissen
Radikal kontrovers dagegen das Prinzip der moralischen Aufklärung: Auch legale Gesetze, die als legale unumgänglich notwendig sind, sollen nicht allein aus legalen Motiven (äußerer Fellachen-Gehorsam), sondern zuvor schon aus moralischen Motiven anerkannt und befolgt werden. Ein transreligiöses Gutes erhebt seine Stimme in der Mitte einer noch religiös dominierten Kultur: Das Gewissen einer vernunftautonomen Art erlaubt eine neue und andere Politik und Kultur.
Die Fallstricke der vernunftautonomen Art von Moralität sind leicht zu erkennen: Sofern sie sich für irrtumsfrei erklären muss, lädt sie die ganze Beweislast ihres Vernunftanspruchs auf ihre eigenen Schultern.
Sie kann sich beispielsweise bei der Abschaffung der Sklaverei und Todesstrafe nicht mehr auf einen Gotteswillen berufen, der aus dem berufenen Munde von Religionsführern zu ihr gesprochen habe. Sie muss sich aus Vernunftgesetzen zu autonomen Subsumtionsurteilen und Schlüssen durchringen, auch wenn sich die ganze oder halbe Welt – oft die religiös dominierte – noch nicht dazu durchringen konnte.
Wenn es aber "Gesetze in uns" gibt, wie schon Thomas behauptet hatte, die ein autonomes Gewissen verlangen und ermöglichen, dann ist der Vernunftrichter im Gewissen ohne Vernunftgrund nicht existenzmöglich. Daraus folgt, dass die (moralische) Vernunft sowohl als sich selbst richtende, wie auch als aus sich selbst handelnde Instanz anzuerkennen ist. Religiöse Instanzen als Berater oder repräsentative Stellvertreter sind überflüssig geworden.
Doch das Problem der moralischen Vernunft ist und bleibt, dass sie zwar "aus sich selbst weiß", was "Recht und Pflicht ist" (Hegel), nicht aber den Inhalt der Rechte und Pflichten erzeugt, weil dieser durch die jeweilige Sittlichkeit der jeweiligen Kulturstufe gesetzt wird. Es ist daher die jeweils dominierende politische Macht, die als Repräsentant der ganzen Sittlichkeit (aller Gewissen) gebietet, neue Rechte und Pflichten zu finden und zu setzen, alte hingegen zu tilgen und abzusetzen.
Was diese Moralität daher "aus sich selbst weiß", ist nur das Wissen einer Übereinstimmung ihrer Gesinnung mit der geltenden Sittlichkeit. Erscheint ein neues Rechtssystem auf der Bühne der Geschichte, wie beispielsweise nach 1933 in Deutschland, finden sich zureichend viele (machterhaltende) gesetzestreue Menschen ein, die nach bestem Wissen und Gewissen der wahrheitsfähigen Gesinnung ihrer neuen Moralität vertrauen.
Moderne Moralen vorm Sturz in den Abgrund?
Wem eine "Ehe für alle" irgendwie "spanisch" oder gar als Äußerung manifester Unsittlichkeit vorkommt, und zugleich im autonomen Findungsbereich moralischer Grundsätze kein universales Kriterium findet, durch das eine "Ehe für alle" als widersinniges Konstrukt erkennbar wird, steht ab sofort mit einer falschen, weil abgelebten Moralität in einer neuen Sittenwelt da.
Findet er jedoch ein Kriterium und einen moralischen Grundsatz für die neue Sittenlehre, das bisher nicht als solches auffindbar war, weil z.B. eine "Ehe für alle" noch nicht als Setzung des kategorischen Imperativs der moralischen Vernunft erkennbar war, hat er das Schuldenkonto seines alten Gewissens durch die reine Weste eines neuen Gewissens abgetragen.
Mit anderen Worten: Weil es über der moralischen und politisch-legalen Gesetzgebung kein Drittes gibt, können und müssen diese beiden Instanzen einander durch wechselseitigen Gebrauch vorwärtstreiben, auf einem Strom, von dem angenommen wird, dass ihm kein fester Boden ("kein Drittes") zugrundeliegt. Was die sittliche Vernunft durchsetzt, wird als moralische Vernunft möglich, und wozu die moralische Vernunft zugestimmt hat, das vollendet die Legalisierung neuer sittlicher Gesetze.
Einst war Kannibalismus unter Menschen geboten und gepflogen, später die Ehe unter Mann und Frau, aber noch viel später wird sich erst zeigen, zu welcher endgültigen Moral und Sittenwelt die stets kreative Menschheit fähig geworden sein wird.
Wie gesagt: Wenn sich moralische und sittliche Vernunft diesem Modell gemäß gegenüberstehen, steuern diese beiden Instanzen ein Schiff durch jeweils neue Steuerungsmethoden (moralisch-sittliche Inhalte), ohne den Besitzer des Schiffes, der vielleicht Kapitän sein wollte oder könnte, um Rat fragen zu müssen. Ist über der moralischen und der sittlichen Vernunft keine höhere oder tiefere Vernunft vorhanden, regiert allein das Fahrwasser des Stromes, auf dem sich der Dampfer der Geschichte der Menschheit bewegt.
Mit anderen Worten: werden Realität und Begriff des Gewissens vollständig einer "entwicklungsgeschichtlichen" Perspektive überlassen, sind Sittlichkeit und Moralität am äußersten Ende dessen angekommen, wofür sie einst angetreten sind: Freiheit und Vernunft zu versöhnen, der Vernunft selbst ein moralisch-politisches Entwicklungspotential abzugewinnen, um dieses gesellschaftlich (auch staatlich und geschichtlich) zu gestalten. Die bange Frage, ob sich damit die "moderne Moral" einer grenzenlos modernen Sittlichkeit in ihren eigenen Abgrund zu stürzen begonnen hat, ist heute noch nicht beantwortbar, weil die möglichen Einsprüche und Vetos der Zukunft noch nicht bekannt sind.
Freiheit contra Vernunft
Wird aber die Identität der moralischen Vernunft grundsätzlich als grenzenlos erweiterbare Freiheit definiert (und dadurch vernichtet), scheint die daraus folgende Entwicklung korrigierbar zu sein, solange noch erkennbare Fehlentwicklungen und Irrwege zu Korrektur und Umkehr zwingen. Können aber Irrtümer und Irrwege nicht mehr als erkennbare erscheinen, weil das Organ des Erkennens amputiert wurde, dann allerdings war eine Moralität, die sich als Freiheit ohne sittliche Vernunft definiert, das vorläufige Ziel der modernen Entwicklung.
Noch das verrückteste Sonderrecht der verrücktesten Sekte könnte à la longue darauf hoffen, seiner "moralischen Vernunft sui generis" rechtliche Anerkennung und politische Durchsetzung zu verschaffen. Das Ziel der Aufklärung, die "moralische Erziehung des Menschengeschlechts" den Religionen zu entwenden und der Vernunft des Menschen zu überantworten, wäre verfehlt worden.
Nicht nur die bisherigen Religionen könnten in ihre alten Machtstühle zurückkehren, auch jede neue Religion, wäre sie nur klug erdacht, könnte hinzukommen. Das Angebot an durchsetzungsfähigen Klimaforschern und Klimajungfrauen, Kreativkünstlern und Nouvelles spiritualités ist groß. Selbst die Jugend junger Menschen lässt sich mit jeder neuen Generation wiederkehrend ins (Protest)Feld führen. Und zur Not stehen die beiden alteuropäischen Großideologien mit ihren Anhängern und aktuellen Nachfolgern immer noch Gewehr bei Fuß.
Wissenschaftliche statt philosophischer Aufklärung?
Aber vielleicht hat die europäische Aufklärung, die seit dem 18. Jahrhundert nach Vernunftgrundlagen für eine neue Kultur einer universalen Menschheit suchte, mit den Mitteln einer falschen Wissenschaft gesucht? Philosophie war deren Name, und noch heute sind uns die Namen der englischen, französischen und deutschen Philosophen vertraut, die das universale Paradigma Vernunft gegen die religiösen und partikularen Paradigmen der vormodernen Kulturen in Stellung brachten.
Ebenfalls noch heute bilden die Prinzipien dieses Paradigmas die scheinbar unersetzlichen Grundlagen der modernen Demokratien und ihrer Rechtssysteme. Mit einem Wort: das System der Menschenrechte versteht sich als vernunftbegründetes Freiheitssystem, das in aller Welt zu missionieren und zu verbreiten, die westliche säkulare Welt berufen und beauftragt sei.
Sollte sich die philosophische Aufklärung jedoch geirrt haben, stünden nicht nur deren (bisher "Errungenschaften" genannte) Freiheitssysteme wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zur Debatte, auch das Missionsprojekt der Menschenrechte wäre zu überdenken. Die moderne Menschheit könnte von philosophischen Gedankenkünstlern über den Tisch gezogen worden sein.
Neue Ideologie-Allianzen der Wissenschaften in Sicht?
Sie hätten einen Irrläufer der Geschichte in die Welt gesetzt und verkannt, dass die große Menschheitsgeschichte längst schon ganz andere Dinge plane und ausführe.
Vielleicht asiatische Neo-Kaiserreiche, vielleicht neue islamische Gottesstaaten rund um den Globus, vielleicht transnationale Digitalstaaten, vielleicht ökologische Diktaturen – eine unvollständige Liste politischer Herrschaftssysteme, die sehr verschieden organisiert wären, aber eines gemeinsam hätten: Sie würden sich nicht mehr an den bisherigen Leitlinien der Aufklärung orientieren. Normierende Vernunftprinzipien hätten ausgedient, das Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit zu bestimmen und zu regulieren.
Partikulare Identitätsprinzipien würden als neue "Vernunftprinzipien" installiert, womit früher oder später auch die heute noch halbwegs verständlichen Namen Moralität (Gewissen) und Sittlichkeit (Legalität) das Zeitliche segnen würden.
(Auch am Beginn des 20. Jahrhunderts dachte ein Großteil der damals noch überwiegend monarchisch organisierten westlichen Welt, Massendiktaturen seien ein Ding der Unmöglichkeit. Und nach 1990, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dachten die westlichen Demokratien, ihr freier Geist habe endgültig gesiegt: "Ende der Geschichte.")
Doch schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Philosophie die Epoche ihrer Systemkrisen eröffnete, begannen einige Wissenschaften daran zu arbeiten, Alternativen zur philosophischen Vernunftmoderne der Aufklärung zu entwickeln. Und mittlerweile ist das Angebot an Wissenschaften, die auf eigene (Wissenschafts-)Faust völlig andere, speziell wissenschaftliche Begründungen für alle moralischen und sittlichen Grundbegriffe anbieten, erklecklich. Aber noch hält sich deren Aufnahme in die Grundgesetze und Rechtssysteme der modernen Demokratien in relativ engen Grenzen.
Die "wissenschaftliche" Illusion des Gewissens
In den Kulturwissenschaften gingen Nietzsche und Freud voran, und Heerscharen von Psychologen und Soziologen folgten nach. In den Naturwissenschaften gingen Darwin und einige Gehirnphysiologen voran, und zahllose biogenetische und Ansätze der modernen Gehirnforschung folgten. Ein Arsenal an neuen Erkenntnissen über den Menschen wurde entwickelt, mit dem die Menschheit, würde sie die Wissenschaften nur endlich auch (politisch) machen lassen, ein gewaltiges Pantheon verschiedenartigster "Republiken" organisieren könnte. Politische Vielfalt "vom Feinsten" wäre möglich …
Gemeinsamer Nenner dieser wissenschaftlichen Systeme dürfte sein, dass der Glaube, den die Väter der Aufklärung noch für ein Argument hielten, jeder Mensch besitze Autonomie und Gewissen, Freiheit und Vernunft, eine Illusion sei.
Die Illusion eines altgewordenen (westlichen) Bewusstseins, von der sich die wissenschaftlich mündig gewordene Menschheit baldigst zu verabschieden habe.
Doch anders als bei der ökonomistischen Ideologie des Marxismus, der es bereits nach einem halben Jahrhundert gelang, seine Parteiungen und Bewegungen zu einer mächtigen Weltrevolution im zerfallenden Zarenreich zu vereinigen, ist diesmal eine politische Allianz der beteiligten Wissenschaften nicht in Sicht.
Offensichtlich ist es schwierig, zwischen Chemie und Evolutionstheorie, Gehirnforschung und Biologie das Junktim eines universalen Materialismus herzustellen, der die obsolet gewordenen Altprinzipien von Vernunft und Freiheit, Gewissen und Rechtskultur über den Haufen werfen könnte. Und unter den psycho- und soziogenetischen Wissenschaften ein gemeinsames Band zu finden, verbietet schon der mächtige Einspruch zahlloser kulturrelativistischer Wissenschaften.
Aber ohne ideologische Allianz ist eine (welt)politische Machtbewegung nicht zu gründen und nicht zu organisieren: eine Barriere, die manchen Wissenschafts-Fanatiker an der Front dieses globalen Kulturkampfes an den Rand der Verzweiflung treiben dürfte. (Bemerkbar noch an seinen skurrilen Nebenerscheinungen: der Kampf begeisterter Zoologen für eine freie Bären- und Wolfskultur mitten in Europa sei noch lange nicht ausgekämpft …)
Leo Dorner ist österreichischer Philosoph