Zur Steuerung der Pandemie sind nur bestimmte Eingriffe in die Grundrechte erlaubt. Seit Jahrzehnten gibt es dafür ein erprobtes Prüfverfahren – dieses wird aber kaum angewandt.
Im Zuge der Pandemiebekämpfung sind wesentliche Grundrechte aller Bürger massiv eingeschränkt. Die Diskussion darüber wurde vielfach mit dem Hinweis abgewürgt, es ginge um "Leben oder Tod". Der Schutz von Menschenleben rechtfertigt aber nicht jegliche Grundrechtseingriffe, sondern muss gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden. Deshalb wird auch das Autofahren oder der Alpinsport nicht verboten, obwohl sie hunderte Todesopfer pro Jahr fordern. Beim durchaus verzichtbaren legalen Konsum von Alkohol und Tabak geht es sogar um tausende vorzeitige Todesfälle pro Jahr.
Der "Schutz von Menschenleben" oder konkreter der "Schutz vor Ansteckung mit dem COVID-Virus" kann also nicht beliebige Grundrechtseingriffe rechtfertigen. Diese müssen vielmehr auf Basis der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geprüft werden: Eingriffe in Grundrechte dürfen demnach nur auf Grund formeller, eindeutiger Gesetze oder Verordnungen erfolgen – und nicht auf Pressekonferenzen, durch Tweets oder durch eigentlich nur verwaltungsintern anwendbare Ministererlässe.
Sodann müssen die Eingriffe nach der EMRK "in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich" sein, das heißt vier Anforderungen genügen: öffentliches Interesse, Eignung, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit.
1) Öffentliches Interesse
Zuerst muss man also das öffentliche Interesse genauer herausarbeiten, welches das Ziel der staatlichen Eingriffe in der Pandemie sein soll. Der diffuse und absolute "Schutz des Lebens" an sich kann es – siehe oben – nicht sein. Unsere Lebenserwartung hängt generell von vielen Faktoren aus den Bereichen Veranlagung, Lebensweise und Zufall ab; speziell in Zeiten der Pandemie aber auch vom privaten Lebensalter und Vorerkrankungen sowie von einem funktionierenden staatlichen Gesundheitssystem.
Richtigerweise ist also der Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung in der Pandemie das wahre öffentliche Interesse, das auch durch die EMRK gedeckt ist. Es muss dafür auch nicht jede einzelne Infektion verhindert werden, wie es sich die neuseeländische Regierung dank ihrer Insellage zum Ziel setzen konnte. Ein Staat im Herzen Europas kann vernünftigerweise nur das Ziel haben, die Pandemie so zu steuern, dass das Gesundheitssystem noch genug Kapazitäten für eine Behandlung aller schweren Verläufe hat.
Die verbleibenden drei Anforderungen für verfassungskonforme Grundrechtseingriffe, nämlich Eignung, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit verdeutlicht man am besten an konkreten Beispielen.
2) Eignung
Bei der "Eignung" ist zu prüfen, ob die ergriffene staatliche Grundrechtseinschränkung überhaupt geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen. Diese Anforderung ist in der Coronakrise zumeist gegeben, da staatliche Maßnahmen oft überschießend waren und daher zur Zielerreichung jedenfalls beigetragen und damit geeignet waren.
So ist beispielsweise die Einhaltung von Mindestabständen bei Veranstaltungen oder auch eine Beschränkung der Teilnehmerzahl wohl geeignet, einen Beitrag zur Pandemiebekämpfung zu leisten. Ebenso ist die Untersagung von Gottesdiensten geeignet, die Ansteckungsgefahr zu verringern, zumal häufig gerade ältere Menschen an Gottesdiensten teilnehmen und damit eine besonders gefährdete Personengruppe geschützt wird. Ebenso entsprächen drastische Ausgangssperren für Kinder oder ältere Personen, wie sie in anderen Ländern verhängt wurden, durchaus dem ersten Kriterium der Eignung.
3) Erforderlichkeit
Beim Prüfschritt der "Erforderlichkeit" ist die Frage, ob eine an sich geeignete Maßnahme auch wirklich erforderlich ist, um das angestrebte öffentliche Interesse zu erreichen. Gibt es zum Beispiel eine andere Maßnahme, die das Ziel ebenso erreicht, aber weniger stark in die Grundrechte eingreift, dann ist die erste Maßnahme nicht erforderlich. Zu prüfen ist also immer, ob es ein "gelinderes Mittel" gibt, mit dem das Ziel ebenso erreicht wird. Vor allem wenn die Infektionszahlen weit von der Überlastung des Gesundheitssystems entfernt sind, werden viele Grundrechtseingriffe an der verfassungsrechtlichen Hürde der "Notwendigkeit" scheitern.
So ist eine Beschränkung von Veranstaltungen auf nur zehn Teilnehmer eindeutig nicht notwendig. Andere, gelindere Eingriffe in die Veranstaltungsfreiheit sind ohne Mühe zu finden. Veranstaltungen können so organisiert werden, dass Mindestabstände eingehalten werden.
Ebenso war die Notwendigkeit eines wochenlangen kompletten Gottesdienstverbotes nicht gegeben und dieses damit verfassungswidrig. Ähnlich wie beim Besuch von Supermärkten wäre beispielsweise eine zahlenmäßige Begrenzung der Gottesdienstteilnehmer und entsprechend weiträumige Aufteilung in den Kirchen eine wesentlich gelindere Maßnahme, die das angestrebte Ziel genauso erreicht.
Auch die derzeit herrschenden Reisebeschränkungen erfüllen in dieser Allgemeinheit nicht die Voraussetzung der Notwendigkeit. So ist es jedem Österreicher weiterhin gestattet, innerhalb des Bundesgebietes zu reisen, etwa sich zu einem Zweitwohnsitz zu begeben.
Wenn aber jemand aus dem Ausland – und zwar auch aus Nachbarländern mit geringerem Infektionsgeschehen – nach Österreich einreisen will, so ist er verpflichtet, ein rezentes Gesundheitszeugnis vorzulegen oder sich in 14-tägige Heimquarantäne zu begeben. Ausnahmen bestehen seit kurzem für landwirtschaftliche Saisonarbeiter und Pflegepersonal. Ein wesentlich gelinderer und damit eher "notwendiger" Grundrechtseingriff bestünde darin, Einreisebeschränkungen nur für Länder zu erlassen, die deutlich höhere Infektionsraten aufweisen.
4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn
Beim letzten Prüfschritt staatlicher Grundrechtseingriffe, der "Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn", geht es um eine konkrete Güterabwägung. Steht eine geeignete und erforderliche Maßnahme überhaupt noch im Verhältnis zur Schwere des Grundrechtseingriffes? Dauer der Maßnahme und betroffener Personenkreis sind hier weitere wesentliche Kriterien.
Selbst wenn man im Zweifel von der Erforderlichkeit der oben diskutierten Maßnahmen ausgeht, so scheitern eine Reihe von staatlichen Grundrechtseingriffen spätestens an der mangelnden Verhältnismäßigkeit. Zwar sind die Maßnahmen vorläufig mit Ende Juni 2020 befristet, doch sind die Eingriffe derart schwer, betreffen derart viele Menschen und sind auch so lange andauernd, dass sie einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht standhalten.
Ein monatelanges vollständiges Verbot von politischen Demonstrationen und von Gottesdienstbesuchen sind völlig unverhältnismäßig im Vergleich zu den positiven Auswirkungen auf die angestrebte Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems in Zeiten einer Pandemie.
Außerdem liegt gesundheitsgefährdendes Verhalten in einer "demokratischen Rechtsordnung" typischerweise im Verantwortungsbereich jedes Einzelnen. Der Staat darf durchaus über die Gefahren des Rauchens, des Trinkens in der Schwangerschaft oder von ungeschützten sexuellen Handlungen aufklären, vollständig verbieten darf er dieses Risikoverhalten im Geltungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht, da dies unverhältnismäßig wäre.
Fazit
An diesen Beispielen ist klar ersichtlich, dass das österreichische Verfassungsrecht Gesetzgebung und Verwaltung den Spielraum lässt, auch einschneidende Maßnahmen zur Erreichung öffentlicher Interessen zu treffen. Es geht also nicht – wie häufig unterstellt wird – um die Entscheidung: Bekämpfung der Pandemie oder Einhaltung der Verfassung. Es können auch gesundheitspolitisch strenge Maßnahmen verfassungsrechtlich korrekt umgesetzt werden. Da uns die Corona-Krise noch länger begleiten wird, sind Gesetzgeber und Verwaltung dringend aufgefordert, nur derartige Normen zu erlassen, die zur Zielerreichung geeignet, erforderlich und auch verhältnismäßig sind.
Klar rechtswidrig war und ist allerdings die phantasielose komplette Aussetzung wesentlicher Grundrechte. All jenen, die das achselzuckend in Kauf nehmen, seien die Worte Benjamin Franklin in Erinnerung gerufen: "Diejenigen, die wesentliche Freiheitsrechte aufgeben, um etwas Sicherheit zu erlangen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit."
MMag. Dr. Heinz Meditz ist Verwaltungswissenschaftler, Jurist und Unternehmer; Dr. Georg Negwer ist ebenfalls Jurist, in den letzten Jahren unter anderem als Rechtsanwalt tätig.