Nun ist es die Kanzlerberaterin Antonella Mei-Pochtler, die erneut verpflichtende Tracing-Apps zur Bewältigung der Corona-Krise aufs Tapet bringt: "Jeder wird eine App haben", erklärt sie in einem Interview. Dies werde Teil der von Kurz proklamierten "Neuen Normalität" sein. Doch es sind beileibe nicht nur Datenschutzbedenken, die die Verpflichtung zur Installation einer App in einem sehr befremdlichen Licht erscheinen lassen.
Zunächst einmal müsste jeder Österreicher ein geeignetes Smartphone besitzen (müssen). Er müsste dieses Smartphone zudem stets bei sich führen, sobald er – und sei es zum Joggen im Wald – seine Wohnung verlässt. Und dieses Smartphone (mitsamt App) müsste auch gegen alle Empfehlungen der früheren Normalität ständig eingeschaltet sein. Während also bislang nur Fahrzeuglenker Führerschein, Zulassung, Warnweste usw. mitführen müssen und es für Staatsbürger keine allgemeine Ausweispflicht gibt, liefe eine verpflichtende Tracing-App auf eine allgemeine Besitz- und Mitführpflicht eines Smartphones hinaus.
Mit dieser Mitführpflicht ginge aber sofort auch eine allgemeine Ausweispflicht im öffentlichen Raum einher. Denn das Smartphone, auf dem die App installiert ist, müsste (um im Fall des Falles nicht falsche Infektionsketten anzuzeigen) mein Smartphone sein – und um dies nachweisen zu können, bräuchte es zusätzlich einen Lichtbildausweis, der folglich ebenfalls auch beim Joggen im Wald oder am Weg zum Altpapiercontainer stets mitgeführt werden muss.
Auch wäre eine Identitätsfeststellung durch die Polizei hinkünftig an jedem öffentlichen Ort unter allen Umständen rechtens. So, wie sich ein Pkw-Lenker jederzeit eine Fahrzeug- und Lenkerkontrolle gefallen lassen muss, gäbe es auch für Fußgänger keinen Ort und keine Situation mehr, in der eine Identitätsfeststellung hinterher mit Aussicht auf Erfolg angefochten werden könnte. Und dies vielleicht auf sehr lange Zeit – denn wer sagt, dass es in ein oder eineinhalb Jahren tatsächlich eine zuverlässige Impfung geben würde?
Natürlich mag es sein, dass keine lückenlose Installationspflicht vorgesehen ist. Doch wenn Frau Mei-Pochtler erklärt, dass eine verpflichtende Contact-Tracing-App zumindest(!) für Personen angedacht werde, die nach Österreich einreisen, so bedeutet dies zwangsläufig, dass man auch vice versa als Österreicher ohne App nicht mehr ins Ausland reisen darf – auch wenn der eine oder andere Kurz-Wähler hierbei zunächst nur an Migranten als potentielle Infektionsquelle denken mag. Ebenso lässt die Idee, nur mit einer App bestimmte Veranstaltungen besuchen zu dürfen (wofür soeben im Epidemiegesetz die Basis gelegt wurde), eine Freiwilligkeit hohl erscheinen.
Frau Mei-Pochtler spricht auch von anderen Technologien, die künftig wesentlicher Bestandteil des sozialen Lebens sein werden. Geht man näher nach, was damit gemeint ist, so wird man bei jüngsten Vorschlägen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) fündig: Diesem Gremium schwebt vor, dass man über weitere Apps Tickets buchen kann, mit denen man für einen bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Geschäft oder eine stark frequentierte Fußgängerzone betreten darf. Wieder andere Apps würden vor überfüllten Bussen oder U-Bahnen warnen.
Der Wiedergewinn der Freiheit im Zeichen der neuen Normalität sieht dann also so aus: "Schatzi, für morgen habe ich ein Ticket im Restaurant gebucht. Aber bis 13 Uhr müssen wir aufgegessen haben, weil ich habe nur noch für 13:20 einen Slot für die U-Bahn bekommen. Um 15:10 haben wir dann ein Ticket für die Papierhandlung – da müssen wir uns vorher noch irgendwie die Zeit vertreiben. Vielleicht bekommen wir ja Slots für den Stadtpark."
Klar, dass nach solchen "Tickets" auch die Abschaffung von Papierfahrkarten im Nahverkehr und schließlich die des Bargelds nicht lange auf sich warten lassen wird. Und wenn man dann für alles und jedes ein Smartphone benötigt, wird sich auch das Problem, dass viele derzeit noch gar kein passendes Gerät besitzen, von selbst reduzieren.
Doch damit sind wir bei einem weiteren, viel zu selten diskutierten Problem der gesamten Digitalisierung angelangt: Die Menschen werden in ihrem Alltag immer öfter verantwortlich gemacht für das Funktionieren von Technologien, die sie in Wahrheit nicht durchschauen. Während der Führerschein, die papierene Fahrkarte oder der Geldschein ein physisches Ding ist, das man dem Anderen schlicht überreicht, kann kein Mensch garantieren, dass sein Smartphone auch tatsächlich funktionieren würde, wenn er im Supermarkt an der Kasse seine Wurstsemmel bezahlen möchte. Oder wenn er auf dem Weg zum Altpapiercontainer von einem Polizisten zum Vorweisen seiner Tracing-App aufgefordert wird.
Es geht bei der Corona-App so wenig nur um Datenschutz (dieser mag vielleicht sogar vorbildlich gestaltet sein), wie es beim Thema Bargeld nur um Schwarzgeldhortung gehe: Wessen Gerät in einer digitalisierten Welt weswegen immer gerade nicht funktioniert, kann sich nicht einmal mehr eine Wurstsemmel kaufen – und ohne vorweisbare Corona-App nicht einmal legal vor seine Wohnungstür.
Hat das noch irgendetwas mit Freiheit zu tun, wenn man zwar wieder in die Oper gehen kann, aber ohne Smartphone nicht einmal vor die eigene Haustüre darf? Wäre da, vor die (ohnehin abstrakte!) Alternative gestellt, nicht ein etwaiger weiterer Lockdown für wenige Wochen das kleinere Übel, zumal sich ein solcher (im Gegensatz zur Tracing-App) bereits als sehr effektiv erwiesen hat? (Auch hätte man zwischenzeitlich an Erfahrung gewonnen, etwa die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht mehr so dilettantisch zu gestalten wie im März.)
Leider wird die wohl nicht unkoordiniert erfolgte Stellungnahme von Frau Mei-Pochtler dazu führen, den ohnehin schon dank Sobotka irritierten Zulauf zur freiwilligen Corona-App des Roten Kreuzes zu bremsen – mit dem Effekt, ob des geringen Zulaufs dann erst recht (EU-weit?) einen App-Zwang durchzusetzen.
Es ist schade, dass sich Kreise, die sich als Vordenker der Wirtschaft sehen, als sozialistische Planer einer neuen Gesellschaft gerieren und nicht erkennen, dass gerade die Wirtschaft wie von einem Bissen Brot von der Freiheit lebt. Wenn Freiheit nur mehr darin bestehen sollte, aus hunderttausenden tollen Einkaufs-Slots drei oder vier auszuwählen und zu buchen, bleibt immerhin noch die Freiheit, keine Slots zu buchen. Und von dieser Freiheit werde ich ausgiebig Gebrauch machen.
Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph und Buchautor.