Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik

Vermeidung von Toten oder wirtschaftliches Desaster? Überlastung der Intensivstationen oder gesundheitliche Kollateralschäden? Der Public-Health-Experte Martin Sprenger (MedUni Graz) stellt in seinem Blog kürzlich fest: Die entscheidende Frage lautet: "Wie viel Schaden nehmen wir bei Ungeborenen, Babies, Kindern, Jugendlichen und allen anderen in Kauf, um Hochrisikogruppen zu schützen. Ich will nicht, dass das Virologen und Intensivmediziner entscheiden, ich will, dass das so breit und offen wie möglich diskutiert wird. Das müssen wir als Gesellschaft diskutieren! Das dürfen wir keiner Partei und auch keiner Wissenschaft überlassen!"

Für Juristen ist die Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Organisation von Diskurs und Entscheidung selbstverständlich: Verbindliche Entscheidungen werden nach unserer Verfassung in den demokratisch legitimierten Gremien getroffen.

In der Realität mischen allerdings de facto immer auch andere Instanzen mit: Sozialpartner, Experten, Zivilgesellschaft, Medien, Pressure-groups. Damit wird die Entscheidungsfindung im Dilemma der Auswirkungen auf und damit der Akzeptanz durch die von den Entscheidungen Betroffenen immer schwieriger, je mehr multidisziplinäre Implikationen die Entscheidungen haben (zumal, wenn deren Relevanz sogar innerhalb der jeweiligen Disziplinen kontrovers ist), und je vielfältiger die von den Entscheidungen betroffenen Interessen sind (zumal, wenn sie zum Teil diametral konträr sind).

Eine wichtige Aufgabe haben dabei Wissenschaftler zu erfüllen: Sie leisten einen zentralen Beitrag zur Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen mit möglichst großer Rationalität und spielen eine wichtige Rolle sowohl bei der Vermittlung von Entscheidungsgrundlagen als auch der kritischen Erklärung von Entscheidungen: Einerseits gegenüber der Politik, andererseits auch gegenüber der Zivilgesellschaft.

Dabei stehen Wissenschaftler allerdings ihrerseits vor mehreren Dilemmata: Zumal, wenn Fragen innerdisziplinär oder auch interdisziplinär kontrovers sind, müssen sie ihrerseits eine Relativierung ihres "Wissens" kommunizieren und können sie die Erwartungen einer Gesellschaft nicht erfüllen, die sich größtmögliche Eindeutigkeit wünscht. Und gleichzeitig müssen sie sich nicht nur als "Gegenüber" von Zivilgesellschaft und Politik begreifen, sondern sind (manchmal) selbst Politiker oder (meist) Teil der Zivilgesellschaft. In dieser Mehrfachrolle liegen strukturell geradezu zwangsläufige Versuchungen der Rollenvermischung ebenso wie Defizite zwischen wissenschaftlichem Anspruch und seiner Realisierung.

Und schließlich ist noch zu akzeptieren, dass in demokratischen Gesellschaften nicht nur rationale, sondern auch emotionale Aspekte berücksichtigt werden müssen, in denen sich subjektive Präferenzen gesellschaftlicher Akteure widerspiegeln, und die für die Entscheidung im Wahlakt oft eine größere Rolle spielen als Sachfragen. Will man den Wähler deshalb vor der Wissenschaft entmündigen?

Allerdings – und damit kehren die Überlegungen zum Ausgangspunkt zurück: Unter Berücksichtigung dieser Punkte ist eine demokratische Entscheidung zur Lösung hochkomplexer Fragen in diametral entgegenstehenden Interessenlagen gleichsam ex definitione unter jeweils gewählten konkreten Blickwinkeln in einem hohen Grad unbefriedigend, je mehr rationale und emotionale Interessen berücksichtigt werden.

Demokratisch legitimierte Entscheidungen in pluralistischen Gesellschaften können daher in seltenen Fällen Partikularinteressen komplett zufrieden stellen. Oder positiv formuliert: das ex definitione Befriedigende an demokratischen Entscheidungen ist, dass sie im Idealfall versuchen, einer Vielzahl von Interessen in möglichst großem Ausmaß Rechnung zu tragen und sich nicht nur auf die Seite bestimmter Interessen zu schlagen. Letztlich realisiert sich die Annäherung an eine gesamthaft zu sehende Sachgerechtigkeit in einer relativ großen Bandbreite aus der Berücksichtigung zahlreicher Partikularsichten.

Damit ist für mich auch das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bestimmt, das in der Realität ein Verhältnis von Wissenschaftlern und Politikern ist. Politische Entscheidungsträger sollten Wissenschaftler in die Aufbereitung der Entscheidungen einbinden; inadäquat wäre jedoch, wenn Politik ihre Entscheidungen an eine gleichsam als abstrakte Autorität begriffene Wissenschaft bindet. Wissenschaftler – und mit ihnen die Zivilgesellschaft – sollten jedoch akzeptieren, dass Politiker auch anderen Entscheidungsdeterminanten unterliegen.

Hier liegt die Chance auf einen kontinuierlichen Dialog: Getragen von der Verschiedenheit der Aufgaben und vom Respekt vor der jeweiligen Rolle im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess, getragen aber auch vom Verständnis dafür, dass jedes Erkennen Stückwerk und jede Entscheidung unvollkommen ist.

Dr. Wolfgang Mazal ist Universitätsprofessor an der Uni Wien. Dieser Text wird demnächst auch in der Fachzeitschrift ecolex erscheinen.

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