Den französischen Erfindern des Sozialismus war von Anfang an klar, dass diese Ideologie nur durch eine wohlüberlegte Reorganisation der Gesellschaft und durch Ausübung geistigen Zwangs durchgesetzt werden könnte. Warum dennoch viele Liberale der Verführung des modernen Sozialismus erlegen sind, analysierte der österreichische Nobelpreisträger Hayek im zweiten und dritten Kapitel seines berühmten Werks "Der Weg zur Knechtschaft". Er lieferte zwei Erklärungsansätze, die ziemlich unverändert auf unsere Corona-Zeiten anwendbar sind.
Zunächst weist Hayek unter der Kapitalüberschrift "Die große Illusion" nach, wie es dem Sozialismus mit einem semantischen Trick gelungen ist, viele Liberale zu verwirren und auf seine Seite zu ziehen. Die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Liberalismus wurde durch eine subtile Umdeutung des Begriffs Freiheit zu Wege gebracht. Bedeutete der Begriff der Freiheit für den Liberalen die Abwehr von Willkür, versprachen die Sozialisten unter dem Begriff der neuen(!) Freiheit die Abwesenheit von Not. Die Menschen sollten nicht mehr hungern, Angst vor Krankheit und Alter haben oder irgendeiner materiellen Zwangslage ausgesetzt sein. Damit stand auch freiheitsliebenden Menschen der sozialistische Weg offen.
In Zeiten von Corona fühlen sich viele freiheitsliebende Menschen davon angetan, dass Gesundheit das oberste Gut sein soll. Anders gewendet: Die Freiheit von Krankheit – zumindest einer – ist das wichtigste Ziel. Mit dieser Prämisse können scheinbar auch Liberale leben. Dass diese Prämisse tatsächlich falsch ist, wird zunächst gar nicht überprüft. Wäre sie richtig, hätte es der Staat in der Hand, auch das Autofahren oder das Rauchen oder das übermäßige Essen von Süßigkeiten zu verbieten. Gesundheit ist also nicht das höchste Gut, sondern muss immer gegen andere Güter einer freien Gesellschaft in Relation gesetzt werden. Nicht einmal das Leben ist das höchste Gut. Andernfalls müsste man nicht nur das Autofahren verbieten, sondern auch jeder Geiselnahme von Terroristen nachgeben.
Im dritten Kapitel liefert Hayek einen weiteren Erklärungsansatz, indem er unter dem Begriff des Sozialismus nicht nur dessen Ziele, sondern auch die Methode zu deren Erreichung versteht. "In diesem Sinne bedeutet Sozialismus die Abschaffung der Privatunternehmen und des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Schaffung eines Planwirtschaftssystems, in dem an die Stelle der für seinen Gewinn arbeitenden Unternehmers eine zentrale Planwirtschaftsbehörde tritt".
Die Verführungskraft der sozialistischen Methode scheint der wirklich schwache Punkt bei vielen Liberalen zu sein. Wenn ein gesellschaftliches Ziel wie die Priorität der Gesundheit einmal definiert und akzeptiert ist, erscheinen die Methoden zweitrangig. Reorganisation der Gesellschaft und geistiger Zwang werden billigend in Kauf genommen. Der Zweck heiligt die Mittel. Von den absurd hohen Strafen über die Geringachtung der Grund- und Freiheitsrechte (insbesondere der Meinungsfreiheit) bis hin zur angedachten Impfpflicht scheinen die Methoden des Kollektivismus tief in die Gesellschaft eingedrungen zu sein.
Dazu passt, dass der Staat als Geldautomat angesehen wird, der unbegrenzt (Geschenk)Pakete schnüren kann. Hannes Androsch stellt in einem Gastkommentar in der "Presse" zahlreiche finanzpolitische Forderungen auf und beruhigt die Bourgeoisie auch gleich mit dem Hinweis, dass dies NIEMAND (kein Scherz) bezahlen wird. Der ehemalige ÖVP-Landeshauptmann von Salzburg Franz Schausberger schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er die Abkehr des Sebastian Kurz von neoliberaler Politik lobt. "Koste es, was es wolle" scheint mitten in der Gesellschaft angekommen zu sein.
Die viruszentrierte Politik der heutigen Sozialingenieure wird uns weder eine neue Normalität noch eine neue Freiheit bringen, sondern lediglich eine folgenschwere Rezession mit der alten kollektivistischen Methode. Ob wir uns unter diesen Umständen ein anspruchsvolles Gesundheitssystem auf Dauer leisten können, erscheint fraglich. So wie Ludwig Erhard einst formulierte, dass nur ein liberaler Staat ein sozialer Staat sein könne, gilt heute: Nur ein liberaler Staat kann ein gesunder Staat sein.
Georg Vetter ist Rechtsanwalt, Vorstandsmitglied des Hayek-Instituts und Präsident des Clubs Unabhängiger Liberaler. Bis November 2017 ist er in der ÖVP-Fraktion Abgeordneter im Nationalrat gewesen.