Tod – wo ist dein Stachel?

Vier Wochen liegt der Zeitpunkt nun zurück, als unser aller Lebensfilm plötzlich und überraschend angehalten worden ist und damit zum Stillstand des gesamten gesellschaftlichen Lebens geführt hat. Nach diesem Zeitpunkt sollte das Leben jedes Einzelnen von uns nicht mehr so sein wie vorher und niemand kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen, ob sein Leben überhaupt je wieder so sein wird, wie es vorher war. Zurzeit spricht jedenfalls nicht viel dafür.

Alles was unserer Gesellschaft zuvor wichtig war, gibt es derzeit nicht: Partys und Feste, Restaurantbesuche, Kreuzfahrten, Flüge zu den sonnigen Stränden von Miami oder auf die Malediven, Besuch von Wellness-Tempeln, Shopping-Wahn, Besuch von Fitnessstudios, Kultur- oder Sportveranstaltungen – kurz gesagt: alles was Spaß macht. Die Party, die endlos erschien, ist vorbei! Die teure Garderobe bleibt in den Kästen, denn wir benötigen nur mehr Hauskleidung in unserem Heim, das mit jedem Tag mehr zu einem Gefängnis wird. In den Wohngebieten unserer Stadt findet man kaum Parkplätze, denn alle Autos stehen unbenützt auf der Straße, die Innenstadt ist verwaist, die Autobahnen sind leer, die zuvor weitoffenen Landesgrenzen sind zu. Stillstand.

Eine für unsere Augen unsichtbare organische Struktur – Forscher streiten seit Jahrzehnten, ob ein Virus ein Lebewesen ist oder nicht – 5000 mal kleiner als ein Salzkorn, bedroht scheinbar unser aller Existenz und beendet den hedonistischen Lebenswandel der Spaßgesellschaft mit einem Schlag. Nun können unsere Kinder nicht einmal mehr in die Schule gehen und den Höhepunkt der Woche stellt der Einkauf des Lebensnotwendigen im Supermarkt dar, über den man sich mit den Freunden am Telefon austauscht wie früher über eine Reise in die Karibik.

Wir erleben nichts mehr, was wir mit anderen teilen könnten, ausgenommen davon ist nur ein Thema und dieses setzt nicht nur ein ganzes Land, sondern die ganze Welt in Panik, geschürt durch eine Berichterstattung in Endlosschleife, die ihre Horrorvisionen über Ausbreitung und Gefährlichkeit der Seuche auf die Bevölkerung einprasseln lässt. Dort trifft sie auf ein ohnehin empfindlich gestörtes Nervensystem, das sich ob der vielen Einschränkungen und des verhängten Hausarrestes bereits im Dauerstressmodus befindet. Die Polizei ist plötzlich überall präsent auf den Straßen und selbst am Handy erscheint wie von Geisterhand die Aufforderung: bleib daheim!

Niemand, kein Einziger von uns hätte noch vor zwei Monaten ausreichend Phantasie gehabt, sich das Leben, das wir heute führen, vorstellen zu können, selbst nicht in den furchtbarsten Albträumen. Und noch immer befinden wir uns in einer Art Trance, einem Schockzustand und jeden Morgen müssen wir uns erst mit dieser veränderten Welt neu arrangieren, um uns in ihr zurechtfinden. Sogar den Frühling mit den prachtvoll blühenden Bäumen und den Vogelstimmen, die wir so lange vermisst haben, nehmen wir in diesem Jahr wie durch einen Filter wahr, auch über das Erwachen der Natur hat sich eine andere Wirklichkeit gelegt.

Unser bisheriger Lebensinhalt, von dem wir meinten, er würde ewig Bestand haben, ist plötzlich nicht mehr zugänglich und diese Tatsache, sowie die täglichen Horrormeldungen rund um den Globus lassen die Menschen im Panikmodus erstarren.

Aus den tiefsten Tiefen des Bewusstseins tritt plötzlich etwas Dunkles, Drohendes, Unbekanntes an die Oberfläche, völlig gegen unseren Willen drängt es sich in unser Blickfeld, etwas, dem man sich das ganze Leben lang nicht aussetzen wollte, von dem man – wider besseren Wissens – hoffte, es würde einen selbst niemals treffen, wenn man denn nur genug Sport treibe und sich gesund ernähre, etwas, das man mit allen dem menschlichen Geist zur Verfügung stehenden Mitteln verdrängte in die tiefsten Schichten unserer Seele.

Plötzlich erkennen wir die elementarsten Wirklichkeiten unseres Lebens, die da heißen: Krankheit und Tod.

Im Gegensatz zu allen Generationen vor uns hat die sinnentleerte Wohlstandgesellschaft unserer Zeit nie gelernt, mit dieser Thematik umzugehen, sie wurde unterdrückt durch ein Übermaß an Konsum und ein Maximum an Spaß. Krankheit und Tod fristen ihr Dasein nur in streng verborgenen Bereichen außerhalb unseres Gesichtsfeldes, aber plötzlich stehen sie unversehens mitten im Brennpunkt unserer Wahrnehmung und ängstlich verfolgen wir die Zahlen, die von den Behörden herausgegeben werden und die von dieser anderen, so fremden Realität künden.

Der Tod, der früheren Generationen ein enger Vertrauter war, ist uns völlig fremd geworden. Seit Jahrzehnten stirbt man nicht mehr zu Hause im Kreise seiner Familie, umringt von Kindern und Kindeskindern, der Tod wurde ausgelagert in Spitäler und Altersheime, aber – und das ist das Erstaunlichste – selbst dort erträgt man die Konfrontation mit dem Tod nicht, obwohl er nahezu täglich präsent ist.

Aber wie denn auch? Die Menschen, die dort arbeiten, sind ebenso Teil dieser Wohlfühlgesellschaft wie alle anderen auch. Früher saßen im Krankenhaus Nonnen am Sterbebett und beteten für den Kranken, dessen Lebensuhr auf dieser Erde ablief, es gab Ärzte, die nachts am Bett des Sterbenden saßen und allein durch ihre Anwesenheit das Ringen in der letzten Lebensphase erleichterten.

Die Nonnen sind verschwunden aus dem Krankenhausalltag und die Ärzte sitzen nachts vor dem Computer und erledigen die vorgeschriebene Dokumentation, die in den letzten Jahren immer mehr Zeit vom Personal abzog, das diese dann zwangsläufig vom Patienten abzog. Also lässt man sich am Sterbebett durch Geräte und Infusionen vertreten, der Mensch aber braucht beides nicht in der Sterbephase, er bleibt ein soziales Wesen bis zum letzten Atemzug, er braucht einen Menschen an seiner Seite, der ihm die Angst nimmt, das Gefühl des Alleinseins, der ihm erzählt von der anderen Welt, die er sich nun anschickt, zu betreten.

Der Tod stellt die eigene und ganz persönliche Zukunft glasklar vor Augen und wenn ich glaube, ein Produkt des Zufalls zu sein in einer Welt, die der Zufall mit einem großen Knall geschaffen hat – so hat man es uns ja seit Jahrzehnten erzählt – so bereitet mir das zu erwartende Nichts selbstredend enorme Angst. Einen Zustand permanenter Angst hält kein Mensch aus, also wird das angstauslösende Agens auf eine tiefere Bewusstseinsebene verschoben. Es darf einfach nicht vor unsere Augen treten.

Alle vorangegangenen Kulturen haben Wege gefunden, mit Krankheit und Tod umzugehen, eingebettet in Bräuche und Riten, nicht so unsere Wohlstands- und Spaßgesellschaft. Aber deutlicher als derzeit könnte es uns nicht vor Augen geführt werden: Was bleibt von all unserem Wohlstand, den wir nicht mehr nutzen können, dem Spaßangebot, das uns nicht mehr zugänglich ist, wenn wir nur mehr auf uns selbst zurückgeworfen sind? Was kann uns dann noch Halt und Orientierung geben?

Der heutige Karfreitag ist die Antwort auf unsere Angst, er ist der Schlüssel zum Thema Tod. Gott ist kein Wunschdenken, das der Phantasie des Menschen entspringt. Gott ist Realität – auch wenn man uns seit Jahrzehnten etwas anderes einreden will. Hinter unser aller Leben steht eine unendliche Liebe und kein anderer Tag des Jahres führt uns das so drastisch vor Augen, wie der heutige. Diese Liebe ist so stark, dass sie nicht nur den grausamen Qualen der Kreuzigung für uns Stand hielt, sondern selbst den Tod überwinden konnte. Aus diesem Grund bringt der Tod für uns Christen nicht das perspektivlose Ende, nicht das Grab ist unsere Bestimmung, nein, wir dürfen an unsere Auferstehung glauben, an ein ewiges Leben bei Gott. Das Dunkel wird aus unserer Seele weichen, sobald wir diese grenzenlose Liebe erkennen und auch beantworten.

Von einer alten Indianerfrau hörte ich vor Jahren den Ausspruch: "Wer seine Religion verloren hat, hat auch seine Identität verloren!" Es stimmt. Wir Menschen in Österreich, ja in ganz Westeuropa haben mit unserer Religion auch unsere Identität verloren und somit Anker und Seil, die unserem Leben Halt und Orientierung geben können. Der Kontinent, der wie kein anderer geprägt wurde durch den christlichen Glauben, verweigerte Gott einen Platz in seiner Verfassung.

Tief im Bewusstsein der Menschen unseres Landes aber liegt noch das Wissen um den Schatz des Glaubens vergraben. Wäre es nicht an der Zeit, diesen Schatz zu heben? Könnte die gegenwärtige Krise nicht als ein Appell verstanden werden, nicht nur anzuhalten, sondern tatsächlich umzukehren und dem sinnentleerten Leben einen Inhalt zu geben, der wirklich tragfähig ist?

Mit der Überzeugung, dass unser Leben nicht in unseren Händen, sondern in den Händen Gottes liegt, würden uns auch Angst und Panik nicht mehr beherrschen und die Menschen müssten nur mehr den staatlich verordneten Sicherheitsabstand einhalten, aber nicht mehr einander ausweichen, einander misstrauisch, ihre Angst und Ablehnung offen signalisierend, beäugen, einander denunzieren, sich auch dort hinter Masken verstecken, wo es nicht vorgeschrieben ist.

Und rascher als man glaubt, würde der Virus, der derzeit als überdimensionaler Drache über unser aller Häupter schwebt, wieder zu seiner wahren Größe schrumpfen: ein wesenloses Ding, winzig klein, und unsichtbar und mit einprogrammiertem Ablaufdatum, nicht der erste und nicht der letzte Krankheitserreger, mit dem die Menschheit zu kämpfen hat.

Mit dem Apostel Paulus könnten wir dann furchtlos und mit Überzeugung sagen: "Tod, wo ist dein Stachel? Grab, wo ist dein Sieg?" Wer die Botschaft des Karfreitags zu verstehen versucht und auch beantwortet, wird die Angst nicht aus seinem Leben löschen können, aber die Angst wird ihn nicht mehr beherrschen.

Dr. Eva-Maria Hobiger ist österreichische Ärztin

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