Als Norbert Hofer im zurückliegenden Bundespräsidentschaftswahlkampf andeutete, man werde sich noch wundern, was unter seiner Präsidentschaft alles möglich sein werde, wurde das Schreckgespenst einer Diktatur an die Wand gemalt. Nun wundern wir uns tatsächlich, was innerhalb weniger Tage möglich geworden ist: Das elementarste Sozialverhalten des Menschen, Nähe, Kontakt und Berührung zu anderen Menschen zu suchen, wird zum Staatsverbrechen Nummer eins erklärt, das den Menschen mit drakonischen Strafen bis in den letzten Winkel ausgetrieben werden müsse.
Wiener Polizisten verwarnen sogar Personen, die sich im Grünen nicht aktiv bewegen, sondern in gebührendem Abstand voneinander sitzen, obwohl jedwedes wie auch immer sich vollziehende "Betreten" öffentlicher Orte erlaubt ist, wenn nur der Ein-Meter-Abstand eingehalten wird. Freizeitsportlern wird erklärt, dass sie mit dem Fahrrad allenfalls zur Arbeit fahren dürfen – und in etwa die Hälfte der Leserkommentare selbst im linksliberalen "Standard" findet dieses Vorgehen vollkommen richtig und applaudiert der Polizei.
Kommt es zu Anzeigen wegen einer Unterschreitung des zwischenmenschlichen Abstandes, reichen keineswegs Strafen von vielleicht 20 Euro aus – nein, der Wiener Polizeipräsident fordert von den Strafbehörden einige hundert Euro Strafe für ein Verhalten, wo man sich noch vor drei Wochen an den Kopf gegriffen hätte, dass dieses jemals verboten sein könne. Scheidungsväter müssen darum ringen, ihre Kinder besuchen zu dürfen, und werdende Väter dürfen weder bei der Geburt ihres Kindes dabei sein noch in den Tagen danach ihre neugeborenen Kinder sehen.
Dass man Großveranstaltungen absagt und vorübergehend Schulen schließt, leuchtet ja noch ein. Doch wie Kindergartenkinder bekommen die Österreicher jetzt jeden Tag aufs Neue mit drohendem Zeigefinger vorgeführt, dass die wenigen Freiheiten, die sie noch haben, vorerst (mit Rufzeichen, wie der grüne Gesundheitsminister einschärft) noch gelten, und dass man weiter an der Eskalationsschraube drehen würde, wenn viele sich nicht an die neuen Regeln halten.
Und dies wirkt: Mit der wiedererstandenen Volksgemeinschaft sind auch die Blockwart-Mentalität und der Typus des "Volksschädlings" im Nu zurückgekehrt. Letzterer ist der zumeist junge Mensch, der ein Grundbedürfnis nach Sport, Spiel und Zusammenkunft mit anderen Menschen hat, das er sich von niemandem nehmen lassen möchte. Doch auch Bauarbeiter, die auf Baustellen arbeiten, werden, wie ein Gewerkschaftsvertreter berichtet, von Passanten als Mörder beschimpft.
Konnte man zunächst der Auffassung sein, die Verordnung, die den Ausgang ins Freie limitiert, beschränke sich maßgeschneidert auf Situationen, in denen objektiv erhöhte Ansteckungsgefahr herrscht, so geht der Trend in die Richtung, auch Dinge zu unterbinden, wo gar keine Ansteckung erfolgen kann. Die volkspädagogisch intendierte Wirkung löst sich von der Sachsituation, wenn auch Spaziergänge Einzelner oder ohnedies Zusammenlebender in irgendeiner Weise limitiert werden sollten.
Ebenso mag die mangelnde Kontrollierbarkeit als Argument herhalten, wenn man nach einer im Raum stehenden Schließung aller Parks und innerstädtischen Grünflächen konsequenterweise auf die Idee kommen wird, auch das Betreten des Wienerwalds zu verbieten, weil sich gerade dann ja dort Gruppen auf einer Waldlichtung zusammenrotten könnten. Kein Mensch käme indessen auf die Idee, das Befahren von Güterwegen am Land zu verbieten, weil ein Raser dort mit keiner Geschwindigkeitskontrolle zu rechnen hat.
Rumänien, das freilich nie ein Hort der Liberalität war, beschließt langjährige Haftstrafen für Personen, die sich nicht an die gesetzten Maßnahmen halten. Südafrika führt das Verbreiten von Corona-Fake News als neuen Straftatbestand ein. Derlei wäre auch in Österreich ein nächster Schritt, nachdem die Regierung bereits eine Stabsstelle einrichtet, um vorgebliche Falschinformation aufzuspüren und zu zerstreuen. Kritik an den gesetzten Maßnahmen unter drakonische Strafe zu stellen, wäre ein weiterer Schritt, mit dem auch die "Wehrkraftzersetzung" ins Strafrecht zurückkehrte.
Dabei sorgt die Regierung am allermeisten dafür, dass die Menschen verunsichert werden: Ausgangssperren zu dementieren, um sie Stunden später unter dem Titel bloßer "Ausgangsbeschränkungen" einzuführen, sorgt ebenso für Panik wie die Inaussichtstellung immer weiterer Verschärfungen, ohne abzuwarten, wie sich die bereits gesetzten Maßnahmen auswirken, und vor allem, ohne einen Funken an Plan anzubieten, wie es mittelfristig weitergehen soll. Oder will die Regierung der Bevölkerung bloß nicht reinen Wein einschenken, dass die Menschen bis zum Sommer und weit darüber hinaus in ihren Wohnungen hocken sollen, damit die Infektionskurve nach einem erhofften Abflachen nicht sofort wieder ansteigt?
Bei alldem sind diejenigen, die einander im Ruf nach immer schärferen und noch schärferen Maßnahmen überbieten, genau jene, die als Entscheidungsträger derzeit ein äußerst facettenreiches Arbeits- und Sozialleben aufweisen, die also Wasser predigen und Wein trinken. Für diese Klientel ist es keine Bedrohung, die nächsten Monate in ihren vier Wänden zu verbringen – es betrifft sie schlicht und einfach nicht.
Natürlich stellt sich auch die Frage, wie man die Pandemie wenigstens in Österreich in den Griff bekommen möchte. Weder kann man massenhaft vorwiegend Ältere sterben lassen (und das ohne adäquate Behandlung), noch kann man die Menschen länger als einige Wochen in ihren Wohnungen einsperren, ohne zumindest mit einzelnen schrittweisen Lockerungen zu beginnen.
Tatsächlich hat die Regierung für den Zeitraum Mai die medizinischen Kapazitäten deutlich gesteigert. Doch warum stellt sie dann nicht längst eine Lockerung der eingeführten Maßnahmen für diesen Zeitraum in Aussicht? Natürlich bleibt das Argument der dann längst noch nicht erreichten Herdenimmunität. Bloß: Warum kann man nicht auch – um Kurz zu zitieren: "koste es, was es wolle" – für, sagen wir, 20 000 gleichzeitig akut Erkrankte Beatmungsgeräte herstellen?
Warum kann der Staat, der jetzt ohnehin massiv in die Wirtschaft eingreift, nicht kurzerhand Fabriken errichten, in denen massenweise Schutzmasken, Tests und Beatmungsgeräte hergestellt werden, sofern diese am Markt nicht so schnell zu bekommen sein sollten? Wenn elementarste menschliche Grundbedürfnisse und Grundrechte kein Thema mehr sind, warum sollten dann Marken- und Urheberrechte eine unüberwindbare Schranke darstellen?
Und warum kann man nicht auch außermedizinische Hilfskräfte genau nur für das Gebiet viraler Lungenentzündungen schnell anlernen, um in einem Zeitraum von nur wenigen Wochen auch eine steile Infektionskurve bewältigen zu können? Schließlich zeigen doch alle lebensbedrohlich an CoVid19 Erkrankten stets die gleichen Symptome. Wenn ein Fall einmal doch etwas anders gelagert sein sollte, kann man immer noch eine universal ausgebildete Fachkraft hinzuziehen. Besser eine nichtärztliche Behandlung unter einer etwas ferneren ärztlichen Aufsicht als gar keine!
Der Trend geht freilich in eine andere Richtung: So, wie die Grenzen als allerletztes geschlossen wurden, nachdem längst schon scharenweise Personen in Quarantäne mussten, die sich längst nicht mehr nur in Italien infiziert hatten, möchte man von Seiten der EU als allererstes die Grenzen wieder öffnen. Dass dann neue Infektionsketten eingeschleppt werden und etwaige nationale Erfolge einer Eindämmung des Virus sogleich wieder zunichte gemacht werden, scheint kein Thema zu sein.
Alleine, wie dagegen aufbegehren, wenn jetzt schon die Versammlungsfreiheit ausgesetzt ist und es keine Wahlen gibt? So, wie es immer nur Einzelfälle sind, die unter den vielen in den letzten Jahren Zugewanderten zuweilen Probleme bereitet haben, werden es auch in den nächsten Wochen und Monaten nur Einzelfälle sein, die in irgendeiner Weise durchdrehen.
Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph und Buchautor.