Im Tal der Tränen

Seuchen, seit biblischen Zeiten der Schrecken der Menschheit, sind zugleich deren treue und äußerst anhängliche Begleiter durch die Geschichte. Pest, Cholera, Pocken und Typhus trafen sehr oft auf eine durch vorangegangene Dürrezeiten geschwächte Population und rafften große Teile der Bevölkerung binnen weniger Jahre dahin. Historiker gehen davon aus, dass zwischen 30 und 60 Prozent der Bevölkerung mancher europäischen Länder durch den "Schwarzen Tod", die Pest des 14. Jahrhunderts, umkamen. Örtlich begrenzte Pestepidemien flammten in Europa immer wieder auf, sogar bis in das 18. Jahrhundert. Da öffentliche Spitäler nicht existierten, waren es durch Jahrhunderte hinweg immer Priester, Mönche und Ordensschwestern, die sich dieser Kranken annahmen.

Sie fütterten und pflegten die Kranken und standen den Sterbenden bei, darüber hinaus kämpften sie gegen die Seuchen – und durchaus erfolgreich auch mit den Waffen des Glaubens: Sie feierten das Messopfer für die Kranken, und um die Gesunden nicht zu gefährden taten sie das in Kirchen, die den Kranken vorbehalten waren, organisierten Bittprozessionen und hielten gemeinsam mit den Gläubigen öffentliche Andachten ab. Sie beteten an ihrem Sterbelager, spendeten ihnen die Sakramente und sicherten so dem Menschen, ob arm oder reich, die ihm zustehende Würde am Ende seines Lebens. Sie sorgten für das Wohl des Leibes, zugleich aber auch für das Heil der Seele.

Über die Gefahr der Ansteckung bei all diesen Tätigkeiten waren sie sich wohl bewusst, sie handelten nicht leichtsinnig, sondern entwickelten schon damals kluge Strategien, um weder sich noch andere zu gefährden. Die Triebkräfte ihrer oft übermenschlichen Anstrengungen waren die Liebe zum kranken Mitmenschen und das Wissen, dass die physische Versorgung des kranken Körpers nicht ausreicht, weil der Mensch nicht vom Brot alleine lebt.

Die Menschen dieser Zeit verdrängten den Tod nicht, sondern akzeptierten ihn als unabänderlichen Teil des irdischen Lebens, dessen letztes Ziel sie aber nicht im Grab, sondern bei ihrem Schöpfer wussten. In ihrem Denken herrschte im Gegensatz zu unserer Zeit keine Anthropozentrik. Sondern der Mensch nahm die Stellung ein, die ihm in der Schöpfungsordnung zukam. Er ist nun mal nicht das Maß aller Dinge – eine Tatsache, die wir heute aus den Augen verloren haben.

Im Jahr 2020 trifft die Menschheit eine neue Seuche. Sie wird verursacht durch ein Virus, das sich aufgrund der heutigen Lebensgewohnheiten blitzschnell über den Globus verbreitet hat. Dessen Gefährlichkeit steht allerdings entgegen aller Panikmache in keiner Relation zur Gefährlichkeit der oben genannten Erkrankungen. Trotz alledem wird ihm mit wahrhaft unverhältnismäßigen Maßnahmen begegnet, die unser gesamtes Gesellschaftssystem und damit auch die Freiheit jedes Einzelnen von uns auf Dauer massiv gefährden werden. In Taiwan, Hongkong und Singapur sowie in Südkorea gelang es, der Seuche Herr zu werden, ohne die gesamte Bevölkerung in die totale Isolation zu treiben und ihrer Menschenrechte zu berauben.

Für einen gläubigen Christen ist die Sonntagsmesse die unverzichtbare Kraftquelle und der unverrückbare Angelpunkt, um den herum sich sein Leben ordnet. Das war eine Selbstverständlichkeit für die Mehrzahl der Menschen in unserem Land bis vor 50 Jahren. Für den säkularen Staat hingegen, in dem wir heute leben, stellt die für uns Christen "heilige" Messe lediglich eine Veranstaltung dar, die sich nicht von einer Kinovorstellung oder einem Fußballspiel unterscheidet. Es handelt sich für ihn ja schlicht und einfach bloß um eine Versammlung von Menschen.

Also verbiet der Staat, nachdem aufgrund der Gefährdungslage durch das Coronavirus jegliche Versammlung untersagt ist, auch die Gottesdienste. Nun könnte man meinen, dass aufgrund eines Vertrages von Kirche und Staat, Konkordat genannt, hier zwei völlig konträre Meinungen aufeinanderprallen müssten, und dass der Staat im Prinzip überhaupt nicht die Legitimation hätte, der Kirche eine solche Vorgangsweise aufzuzwingen. Die Kirche andererseits hätte die Pflicht, das Seelenheil ihrer Gläubigen im Blick zu haben, ohne sie selbstverständlich in ihrer physischen Existenz zu gefährden.

Einigermaßen guten Willen vorausgesetzt, hätten sich durchaus Lösungen finden lassen, den Schutz der Gläubigen und der Priester zu gewährleisten, sodass diese weder sich selbst noch andere in Gefahr bringen könnten, was ja durchaus in jedermanns Interesse sein muss. Schließlich verfügen wir über sehr große Kirchen, jedoch gibt es nur mehr wenige Gläubige, von denen viele unter den gegebenen Umständen ohnehin nicht gekommen wären. Die Verbliebenen wären immerhin doch zu ihrem Grundrecht der freien Religionsausübung gekommen.

Die Gesprächspartner des Staates aber waren in diesem Fall Vertreter einer schwerkranken Kirche – und ich rede hier nicht nur von Österreich – die sich innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte selbst bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat. Sie sitzt nun gleich Hiob auf einem Aschehaufen und kratzt sich an ihren offenen Wunden, mit denen ihr Körper übersät ist. Sie ist schwach und kraftlos. Sie vermag den Stürmen unserer Zeit nicht standzuhalten. Das Leben in ihr ist am Verlöschen. Und doch sitzt sie, nur mehr eine Karikatur ihrer selbst, auf einem von ihr selbst vergrabenen Schatz.

Und so ist es kaum mehr verwunderlich, dass Bischöfe und Priester, deren erste Pflicht es in einer solchen Situation wäre, Menschen in ihren Ängsten zu begleiten, nahezu vollzählig in den virtuellen Raum abgetaucht sind. Nur dort können wir sie noch sehen, aus unserer Wirklichkeit sind sie verschwunden. Selbst Klöster mussten ihre Pforten und Tore schließen.

Dort werden zwar, wie man uns versichert, die Messen zelebriert, aber wenn die Glocken zum Beginn des Gottesdienstes läuten, schließen sich die Kirchentüren für die Gläubigen. Eine völlig groteske Situation, die es in 2000 Jahren Kirchengeschichte noch nie gegeben hat!

Doch der Gnadenstrom einer heiligen Messe, bei der sich, wie wir Katholiken glauben, Erde und Himmel vereinen, kommt nicht mit dem Livestream durch die Internetleitung zu den Gläubigen nach Hause und ein in sich widersprüchlicher Online-Gottesdienst kann die eigene physische Präsenz nicht ersetzen. Das Messopfer ist keine Theateraufführung, der man am Bildschirm live folgen kann. Und ich bin überzeugt davon, einem Priester, der seinen Beruf ernst nimmt, muss es dabei das Herz zerreißen.

Wäre es auch nur denkbar, einem Arzt, der mit einer lindernden Medizin unterwegs ist, den Zutritt zu einem kranken Menschen zu verweigern? Wohl kaum! Nun, was der Arzt für den Körper eines Menschen, ist der Priester für seine Seele.

In den vergangenen Tagen jedoch ist es mehrfach passiert, dass Priestern, die alte und kranke Menschen besuchen wollten, der Zutritt zu Seniorenheimen und Krankenhäusern verboten wurde. Aber nicht nur das, selbst der Besuch von Sterbenden wurde ihnen verwehrt! Können sich die Verantwortlichen auch nur annähernd vorstellen, welche Verzweiflung es für einen Schwerkranken und Sterbenden bedeuten muss, einer sterilen und kalten Umgebung ausgeliefert, angeschlossen an angsteinflößende Maschinen, in der Todesangst keinerlei Trost erleben zu dürfen?

Wie viel bedeutet es einem Menschen in Todesnot, einen Priester an seinem Sterbebett zu wissen, der die Gebete über ihm spricht und ihm die Sakramente spendet! Diese Menschen waren nicht an Coronavirus erkrankt und selbst wenn sie das gewesen wären, gäbe es dafür keine Entschuldigung! Mit Schutzkleidung angetan, gäbe es kein Risiko. Jeder Priester wird den Anleitungen des medizinischen Personals, sich selbst und andere zu schützen, selbstverständlich gewissenhaft nachkommen, keiner von ihnen möchte es verantworten, jemand anderen oder sich selbst leichtsinnig einer Gefahr auszusetzen.

Auf der Webseite der Erzdiözese lese ich nun, dass die Bischöfe dem Bundesminister für Gesundheit vorschlagen möchten, "ein kleines Arbeitsteam zu gründen, bestehend aus Personen aus dem Gesundheitsministerium einerseits und aus dem kirchlichen Bereich andererseits, die beauftragt werden, einen Vorschlag für den Umgang mit dem Thema "Seele" in der derzeitigen Situation zu erarbeiten."

Ein wirklich dankenswerter Vorstoß seitens der Bischöfe, aber an die Politiker richte ich als Ärztin die Frage: Bedarf es wirklich eines Arbeitsteams, um zu entscheiden, ob ein alter, ein kranker oder ein sterbender Mensch das Recht auf einen würdigen Tod hat, oder auch nur auf eine Begleitung in seiner Krankheit? Wie lange muss dieses Arbeitsteam tagen, um eine solche Entscheidung zu treffen?

Wie "entseelt" und wie abgrundtief unmenschlich ist unsere Gesellschaft bloß geworden! Zählt in unserem Land nur mehr die abstrakte "Gemeinschaft", der einzelne Mensch nicht mehr? Es gibt in den Heimen und in den Spitälern nicht nur an Coronavirus Erkrankte, sondern viel, viel mehr Kranke, die an anderen Krankheiten leiden und denen der Trost in ihrem Leiden verwehrt bleibt.  

Verbannt uns Gläubige aus den Kirchen, sperrt uns in unsere Wohnungen ein, isoliert uns voneinander, nehmt uns unsere Freiheit und unsere Grundrechte, nehmt uns aufgrund der jüngst erfolgten Verlängerung der Maßnahmen auch den für uns kostbarsten und wichtigsten Tag des Jahres, den Ostersonntag: So wie immer in Krisenzeiten für die Christen wird das nur zur Stärkung unseres Glaubens führen.  

Als Ärztin aber, die unzählige Male in ihrem Leben am Sterbebett eines Patienten stand und manchmal nachts auch an seinem Bett saß, seine Hand haltend, weiß ich, was ein Kranker oder ein Sterbender braucht und ich kann nur an die Politiker appellieren: Verwehrt, um Himmels willen, den Alten, Kranken und Sterbenden nicht den einzigen Trost, der ihnen in ihrer äußersten Not geblieben ist! Überlasst sie nicht der Angst in einem endlosen Tal der Tränen! Gebt ihnen die Menschenwürde zurück und lasst sie in Frieden und getröstet sterben, indem ihr, auch wenn ihr nicht unseren Glauben teilt, den Priestern den Zugang zu ihnen gewährt!

Dr. Eva-Maria Hobiger ist österreichische Ärztin

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