Das Coronavirus und die Ideologie der EU

Die derzeit praktizierten sowie die bewusst und gewollt nicht praktizierten Strategien gegen die Verbreitung des neuartigen Coronavirus in Europa widerspiegeln detailgetreu die deklariert antinationalstaatliche Ideologie der EU, derzufolge es – koste es, was es wolle – keine Binnengrenzen und am besten auch keine allzu gesicherten Außengrenzen geben darf: An die Stelle freier Bürger innerhalb respektierter nationalstaatlicher Grenzen tritt ein grenzenloser Zwangsstaat.

Mit Stand Anfang März stehen in Österreich rund zwanzig an dem neuen Virus infizierten Personen knapp vierhundert Personen zur Seite, die in (überwiegend häusliche) Quarantäne geschickt wurden. Jeder Infizierte zieht demnach einen Rattenschwanz von im Schnitt zwanzig Personen nach sich, die sich in Quarantäne begeben müssen und unter ständiger Überwachung und Strafandrohung für vierzehn Tage ihre Wohnungen bzw. Häuser nicht verlassen dürfen.

Noch nie waren Staatsmacht und unentrinnbare Staatsgewalt, noch dazu auf dem intimsten Gebiet des eigenen Leibes, innerhalb von so kurzer Zeit für so viele Menschen unmittelbar spürbar. Ohne jedes individuell schuldhafte Handeln tritt mit einem Schlag die behördliche, polizeiliche und juristische Staatsmacht vereint mit medizinischer Deutungshoheit, Normierung und Kontrolle in das Leben von immer mehr Menschen.

Es reicht, dass man im Kino buchstäblich im falschen Film gesessen ist oder dass man eine Person zum Arbeitskollegen hat, von der sich herausstellt, dass sie unwissend infiziert war. Wenn (wovon auszugehen ist) die Coronainfektion sich weiter ausbreitet und die Regierungen der EU ihre Strategie nicht mildern, werden mehr und mehr Menschen erzwungene medizinische Untersuchungen und Behandlungen über sich ergehen lassen müssen bzw. vorübergehend ihre Bewegungsfreiheit verlieren, um auch in dieser Situation ein Diabetikern ähnelndes medizinisches Selbstregime etablieren und übermitteln zu müssen. (A propos Untersuchungen: Wer garantiert eigentlich, dass amtsmedizinisch erhobene Befunde nicht auch an andere Behörden – etwa an Führerscheinbehörden – weitergereicht werden können?)

Abgeriegelt werden allenfalls die Außengrenzen gegen die Einreise aus bestimmten Ländern außerhalb Europas, und abgeriegelt werden (in Italien) Gemeindegrenzen. Nicht um die Burg jedoch wurden und werden Staatsgrenzen innerhalb der EU (weitgehend) dichtgemacht, um die Problematik (weitgehend) auf bestimmte Länder einzuschränken. So, wie es in der Propaganda der EU seit Jahren nur noch das "große Europa" und die vielen "Regionen" gibt, aber keine Nationalstaaten, gibt es – wie schon bei der sogenannten "Flüchtlingskrise" 2015 – keine nationalen Grenzen mehr.

Macht man den wirtschaftlichen Schaden gesperrter Grenzen geltend, so ist es ohnehin nicht der Frachtverkehr, der das Coronavirus aus Italien nach ganz Europa getragen hat, sondern glasklar der Personenverkehr. Man hätte also, als die Situation in Italien bekannt geworden ist und zu eskalieren begonnen hat, getrost den Lkw-Verkehr samt Lenkern passieren lassen können. Was den Reiseverkehr betrifft, ist es natürlich nicht geboten, Jugendliche von ihren Eltern oder Eheleute von ihren Partnern zu trennen. Es hätte gereicht, bloß die große Masse an Grenzübertritten vorübergehend einzuschränken (und hierzu etwa das Angebot an Flügen und Zügen zu reduzieren), bis Italien die Situation unter Kontrolle bekommt, um die Anzahl der aus Italien hinausgelangenden Infizierten möglichst gering zu halten.

So aber kann europa- wie weltweit bald jeder Bürger eines Staates X jeden Bürger des Staates Y anstecken. Indes wird die Coronakrise ohnehin schon angedachte und mancherorts praktizierte Maßnahmen befördern, die geeignet sind, Infektionsketten rascher und treffsicherer rekonstruieren zu können. Im Flugverkehr ist stets bekannt, wer genau sich in einer bestimmten Maschine befunden hatte, im internationalen Zugsverkehr sowie im öffentlichen Nahverkehr hingegen zumeist nicht.

So konnten die Betreiber der Innsbrucker Nordketten- und Hungerburgbahn nur wenige Personen mit personalisierten Tickets, die dieselbe Garnitur wie ein infiziertes Paar benutzt hatten, hinterher kontaktieren. Doch blickt man etwa nach Südtirol, so gibt es im dortigen Nahverkehr seit einigen Jahren keine klassischen Jahreskarten mehr wie in Wien. Stattdessen muss eine personalisierte Chipkarte auch auf der täglichen Pendlerstrecke bei jeder Fahrt entwertet werden ("Check-in"), und selbst Schüler und Pensionisten, die weiterhin eine vorab bezahlte Jahreskarte beziehen können, müssen diese bei jeder Fahrt "entwerten".

Ähnliche Ticketsysteme, bei denen anonymes Fahren nur mehr zum (teuren und umständlichen!) Einzelfahrttarif möglich ist, gibt es in immer mehr Regionen Europas. Dann heißt es, wenn man zur falschen Zeit im falschen Waggon gesessen ist, einige Tage später plötzlich: Ab in die Quarantäne! Auch im Supermarkt kaufen wir schließlich mit einer personalisierten Rabattkarte ein, und wer ein Handy mitführt, ist sowieso immer ortbar. Hier braucht es allenfalls noch eine Technologie, um stets auch alle "benachbart" gewesenen Handys erfassen zu können. Und gab es etwa irgendeine kritische Diskussion, als alle Neuwagen mit Ortungssystemen ausgestattet werden mussten?

Nicht die alte Sowjetunion, sondern China wird immer mehr zu jenem Gesellschaftssystem, das auch Europa blüht, bloß dass die Mechanismen der Überwachung viel "freiwilliger", unscheinbarer und schleichender erfolgen als in einem offen autoritären System. Der Ursprung der Coronaepidemie ist zugleich auch die Bestimmung, der wir entgegengehen. Wenn social credit points darüber entscheiden, in welchem Umfang das allmächtige System Bürgerrechte zugesteht, kopiert dies nur die Struktur vieler Internetforen, in denen "verdiente" User mehr Rechte haben als andere.

Längst wachsen Generationen heran, für die die individuelle Freiheit nur mehr im Kontext der sexuellen Orientierung oder der sogenannten "Sterbehilfe" eine Bedeutung hat. Immer alles von allen zu wissen, ist im Zeitalter von "WhatsApp" selbstverständlich geworden. Gegen individuelle Krisen gibt es Sozialtechniken, die nur sachgerecht angewandt zu werden brauchen, wie denn schon längst eine angelsächsisch dominierte Philosophie die Gesellschaft zum unhintergehbaren Absoluten erklärt hat.

Vielleicht wird ja schon das "1-2-3-Ticket" als das Flaggschiffprojekt der türkis-grünen Regierung ein minutengenau abbuchendes Check-in/Check-out-Ticket sein, wo von der klassischen Jahreskarte bloß ein garantierter Höchstpreis bleibt. Natürlich muss sich niemand dieses Ticket kaufen! Aber wenn es alternativlos billig ist, wird der Markt bald nichts anderes mehr anbieten.

Wilfried Grießer, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph und Buchautor.

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