Es gab einmal eine Staatsanwaltschaft, die auffällig geworden war, weil sie ausländische Tatverdächtige, die wegen Einbruchs, Raubs oder Diebstahls angezeigt worden waren, besonders häufig auf freien Fuß gesetzt hat. Oft konnten die Verdächtigen erst nach für die Einsatzkräfte selbst gefährlichen Verfolgungsjagden von der Polizei festgenommen werden. Egal, die zuständige Staatsanwaltschaft erachtete den Grund der Festnahmen für zu gering, als dass eine U-Haft in Betracht gezogen wurde.
Ich machte damals die zuständige Justizministerin darauf aufmerksam und regte eine Überprüfung der Vorgangsweise ihrer Staatsanwälte an. Sie ließ mich durch einen ihrer Mitarbeiter wissen, dass ihr eine Überprüfung nicht möglich sei, weil sie die gegenständlichen Akten der Staatsanwaltschaft nicht kenne.
Wusste sie nicht, dass sie als Justizministerin sich die Akten der Staatsanwaltschaft jederzeit vorlegen lassen kann?
Daran musste ich heute denken, als viele Wiener nur den Kopf schütteln konnten, als sie diese Nachricht zu lesen bekamen:
"Ein 14-jähriger Bursche hat am Mittwochnachmittag bei einem Streit unter vier Jugendlichen in Döbling einem 13-Jährigen mit einem Messer in den Bauch gestochen … Der 13-jähriger Bursche wurde von der Berufsrettung Wien mit schweren Verletzungen in den Schockraum eines Krankenhauses gebracht. ... Bei der Rangelei auf einem Gehsteig vor dem Wohnhaus des 13-jährigen russischen Staatsbürgers zückte der österreichische Tatverdächtige schließlich ein Messer und stach zu. Danach flüchtete er mit den zwei weiteren involvierten Burschen – einem 15-jährigen Österreicher und einem 16-jährigen Kolumbianer … Wer genau bei dem Konflikt auf wessen Seite stand, war nicht ganz klar. ... Sie wurden befragt und anschließend auf freiem Fuß angezeigt..."
Ich fasse zusammen: Ein 14-Jähriger hat mutmaßlich einen Menschen durch einen Bauchstich schwer verletzt; von den vier Jugendlichen sind drei über 14 Jahre alt, also strafmündig; die Polizei konnte bei ihrer Befragung nicht klären, wer ‚auf wessen Seite stand’.
Diese Fakten gaben dennoch keinen Grund für die Verhängung der U-Haft, auch nicht des mutmaßlichen Messerstechers.
Für die Staatsanwaltschaft sollten eigentlich die im Strafgesetz aufgezählten Gründe für die Verhängung der U-Haft vorliegen:
- Verabredungs-, bzw. Verdunklungsgefahr. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich die Burschen treffen, die Situation besprechen und gemeinsam eine für sie günstige Verteidigungsversion finden.
- Schwere der Tat. Ein möglicherweise absichtlich erfolgter Bauchstich könnte sogar als Mordversuch bewertet werden.
- Soferne der Kolumbianer nicht felsenfest in Wien integriert ist, wäre eine solche nicht denkunmöglich.
Ich gehe davon aus, dass diese Erwägungen im Sinne des Strafgesetzes bei den prüfenden Staatswälten sicherlich angestellt wurden, dass aber dann letztlich eine andere Norm die Oberhand gewann und die Anzeige auf freiem Fuss rechtfertigte:
Bei jugendlichem Alter (zwischen 14 und 21 Jahren) darf eine Untersuchungshaft selbst bei Vorliegen von Haftgründen nur dann verhängt werden, wenn "die mit ihr verbundenen Nachteile für die Persönlichkeitsentwicklungund für das Fortkommen des Jugendlichen nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Tat und zu der zu erwartenden Strafe steht.”
Die Staatsanwaltschaft hat also anscheinend befunden, dass die Verhängung der U-Haft für die Persönlichkeitsentwicklung und das Fortkommen der Jugendlichen wesentlich schwerer wiegt, als die drei vorliegenden Haftgründe.
Ich finde es hingegen zutiefst bedauerlich, dass bei der Verhängung einer U-Haft bei 14- bis 21-Jährigen zwar die Persönlichkeitsentwicklung und das Fortkommen mutmasslicher Täter zu berücksichtigen ist – nicht aber das Fortkommen eines 13-jährigen schwerverletzten Opfers.
Es würde mich interessieren, wie der jetzige Justizminister und Spitzenjurist Dr. Jabloner das sieht ...
Während ich diese Zeilen schreibe, berichten Onlinemedien über zwei weitere ‚Messerungen’. In Wiener Neustadt wurde beim Bahnhof ein junger Österreicher mutmasslich von einem Asylwerber niedergestochen. Und in Wien stach ein bisher flüchtiger unbekannter Mann am frühen Nachmittag in einer Straßenbahn auf einen 17-jährigen Burschen ein und verletzte ihn schwer.
Man darf gespannt sein, ob in diesen Fällen die Untersuchungshaft verhängt wird. Oder wird da auch die‚ Persönlichkeitsentwicklung’ zu schützen sein?
Dr. Günter Frühwirth ist Jurist mit aktivem Interesse an Themen der Gesellschaftspolitik.