Trotz des schweren Vertrauensverlusts in der EU zwischen Bürgern und Eliten sind schonungslose Analysen der Wurzeln der Misere selten – mit ein paar Ausnahmen. Der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute Thomas Mayer gehört zu den wenigen, die vor einer solchen ehrlichen Analyse nicht zurückschrecken. Er sieht die Hauptschuld in Europas Staatsgläubigkeit und in der Annahme, Staaten könnten den Markt steuern und damit Wohlstand und Sicherheit für alle garantieren. Dabei legt er den Fokus auf einen Bereich, der meist unerwähnt bleibt, aber in den vergangenen 30 Jahren Europas Wirtschaft nachhaltig verändert hat: die Geldpolitik. (Am Mittwoch, den 8. Mai, wird Mayer im Haus der Industrie in Wien über "Sündenbock Neoliberalismus – wie die Angst vor der Freiheit unsere Zukunft gefährdet" sprechen.)
Anfang 2007 schien die Welt in Ordnung: Keine Populisten verdrängten die Volksparteien, alle hatten es sich in der Wohlstandsblase eingerichtet, der Euro wirkte stabil, der Schengenraum war intakt. Mehr als zehn Jahre nach der Finanzkrise von 2007/2008 ist nichts mehr wie es war:
Neue Parteien schießen aus dem Boden, EU und Euro sind vom Friedensprojekt zum Zankapfel geworden, eine wachsende Anzahl von Europäern wendet sich von Politikern und Bankern ab. Viele fühlen sich bevormundet. Gleichzeitig sind Immobilien teurer und der Wohlstandsaufbau schwerer geworden. Griechenland, Italien und Spanien leiden unter einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 30 Prozent (in Griechenland sind es fast 40 Prozent). Zu einer ungeheuren Regulierungsflut kommt andererseits fehlende Vertragstreue von Seiten der EU selbst (Stichwort: Maastricht-Kriterien).
Illusorische Vereinigung von Sozialismus und Kapitalismus
Thomas Mayer nennt in seinem jüngsten Buch "Die Ordnung der Freiheit und ihre Feinde" als wesentliche Ursache der Probleme das seit den 90er Jahren propagierte Ziel einer Vereinigung von Sozialismus und Kapitalismus. Es sollte den Bürgern Wachstum wie im Kapitalismus und Sicherheit wie im Sozialismus bringen. Vehikel dafür wurde die Geldpolitik und nicht mehr das diskreditierte Keynesianische "Deficit spending", das in den 70er Jahren in explodierenden Staatsschulden, sinkendem Wirtschaftswachstum sowie steigender Inflation und Arbeitslosigkeit gemündet war.
Nun sollte die Geldpolitik über die Verfolgung eines Inflationsziels die Konjunktur stabilisieren. Seither bekämpfen die Zentralbanken jede Korrektur auf den Finanzmärkten mit niedrigeren Zinsen, um die Konjunktur gegen Rezessionen abzusichern. Das begünstigt verschuldete Staaten und Unternehmen, und Kredite werden billiger.
Diese Geldpolitik sollte makroökonomische Stabilität bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung mikroökonomischer Flexibilität schaffen. Man wollte die "Steuerfunktion der Märkte durch die Politik ergänzen und verbessern, nicht aber behindern ", wie Tony Blair und Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 1999 in einem gemeinsamen Schreiben erläuterten. Es klang ganz wunderbar, fast paradiesisch – nur leider war es zu schön um wahr zu sein.
Der Missbrauch von Geldpolitik ist ein falscher Ansatz
Bereits der Ansatz war grundfalsch. Die Verwendung – oder besser gesagt der Missbrauch – der Geldpolitik für politische Zwecke widerspricht dem Recht auf Privateigentum. Geldeigentum ist eine elementare Form für die Haltung von privatem Eigentum. Wenn daher der Staat den Geldwert manipuliert, um seine selbst gesteckten Ziele zu erreichen, greift er in die Eigentumsrechte seiner Bürger ein. Deshalb ist die gezielte Verringerung des Geldwerts zur Erreichung von Inflationszielen letztlich eine schleichende Enteignung.
Darüber hinaus unterliegt dieser Weg einem fundamentalen Irrtum: Man kann nicht einerseits die Steuerungsfunktion des Marktes nutzen und andererseits das Handeln der Wirtschaftsakteure durch staatliche Eingriffe absichern. Sobald man die Wirtschaftsakteure durch Geldpolitik vor den Folgen ihrer Fehler schützt, setzt man den Marktprozess außer Kraft, denn der freie Markt besteht aus Versuch und Irrtum. Irrtümer müssen auch erkannt werden, damit die Akteure sie korrigieren können.
Ein künstlich aufgeblähter Finanzsektor gibt den Ton an
Der alles regulierende und jeden schützende Staat nimmt den Einzelnen die Verantwortung für ihr Handeln ab. Die Lasten tragen Andere. Die Geldpolitik der vergangenen Jahrzehnte hatte noch eine weitere Konsequenz: Sie führte zur Aufblähung des Finanzsektors, zur sogenannten "Finanzialisierung" der Wirtschaft. Heute gibt der durch die Geldpolitik künstliche aufgeblähte Finanzsektor den Ton an, dem die Realwirtschaft folgt.
Durch das Senken des Zinses sind Blasen entstanden. In den USA bildete sich eine riesige Kreditblase, die den anwachsenden Finanzsektor nährte, bis die Kreditblase in der Finanzkrise platzte. Seither folgte keine Trendumkehr. Im Gegenteil: Die Finanzdienstleistungen wuchsen weiterhin überproportional an und stellen ungebrochen den größten Sektor der US-Wirtschaft.
Die Zentralbanken haben genau jene Wirtschaftssektoren, die durch ihre Überschuldung die Finanzkrise ausgelöst oder verstärkt haben, zuerst gestützt und dann "wieder aufgepäppelt", um eine tiefere Rezession zu vermeiden. Aus der Politik des billigen Geldes finden sie nicht mehr hinaus.
Der überdimensionierte Finanzsektor behindert heute das Wirtschaftswachstum. Reallöhne und reales Einkommen der Lohnempfänger steigen weniger. Da gleichzeitig auch die Ersparnisse nicht mehr verzinst werden, löst sich die Fähigkeit der mittleren und unteren Einkommensschichten, durch Vermögensbildung für ihr Alter vorzusorgen, zunehmend in Luft auf. Gleichzeitig steigen die Vermögenspreise, wovon besonders ältere und vermögende Menschen profitieren. Junge Menschen ohne Kapitelvermögen bleiben zurück.
Immer mehr Abgabe nationaler Souveränität
Als die Kreditblase 2008 platzte und die Krise ausbrach, fehlten in der EU die Vorkehrungen für den Umgang mit Staatsinsolvenzen und für die Abwicklung maroder Geschäftsbanken. Die EZB versuchte staatliche Insolvenzen mit allen Mitteln zu vermeiden und tat alles, um alle Länder im Euro zu halten. Sie wurde zum Kreditgeber der letzten Instanz für Eurostaaten in Finanznöten. In einer freien Marktwirtschaft müsste sich ein überschuldeter Staat wie Italien mit seinen privaten Anlegern auseinandersetzen. Doch dank der Politik der EZB befassen sich die verschuldeten Euro-Staaten nun mit ihren europäischen Partnerländern wie Deutschland als Gläubigern.
Darüber hinaus werden immer mehr Kompetenzen von den Nationalstaaten auf die europäische Ebene verlagert – zum Missfallen der europäischen Bürger, denn diese lehnen das Ziel eines europäischen Zentralstaats mit einer Zentrale ohne wirkliche demokratische Legitimität ab.
Die Vision eines konföderalen Europas und einer neuen Geldordnung
Thomas Mayers belässt es nicht mit einer Krisenanalyse. Er legt in seinem Buch ein umfassendes Reformprogramm vor. Dazu gehören die Stärkung von Eigentumsrechten, verteilungsneutrale Steuern, staatliche Nothilfe statt Umverteilung, ein konföderales Europa, in dem eine "freiwillige vertiefte Zusammenarbeit verschiedener Gruppen von Völkern in ausgewählten Bereichen möglich" ist. Gut organisierte Gruppen sollen nicht mehr durch ihren Einfluss staatliche Vorschriften zu ihren Gunsten durchsetzen können. Die Hoheit über die EU-Verträge müssen nationale Parlamente ausüben, nicht das Europäische Parlament.
Besonders innovativ sind Mayers Vorschläge zu einer Reform der Geldordnung, die endlich dem Menschen dient. Details hat er bereits in einem früheren Buch vorgestellt ("Die neue Ordnung des Geldes: Warum wir eine Geldreform brauchen"). So hält Thomas Mayer etwa eine Konkurrenz zwischen staatlich und privat emittiertem Geld für hilfreich. Wer mehr wissen will, liest sein Buch am besten selbst.
Mag. Stefan Beig ist Projektmanager des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy, das diesen Vortrag organisiert hat.