Die Rede des Bundespräsidenten Van der Bellen, die er am 8. Mai 2019 aus Anlass des "Festes der Freude" am sogenannten "Tag der Befreiung" gehalten hat, habe ich aufmerksam durchgelesen und mich sehr nachdenklich gefragt, ob dieser Tag so uneingeschränkt und ausschließlich als "Fest der Freude" gefeiert werden kann. Und das auch erst seit wenigen Jahren? Und warum freute sich in den Jahrzehnten davor niemand in unserer Republik?
In der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 formulierten die Außenminister der alliierten Staaten wörtlich: "Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, dass Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll. Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 13. März 1938 als null und nichtig."
1945 wurde Österreich tatsächlich in den Grenzen von 1924-1938 wiederhergestellt, wie diese schon im Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye im Jahr 1919 festgeschrieben worden waren.
Weiters heißt es in der Moskauer Deklaration: "Wir erinnern Österreich daran, dass es die Verantwortung teilt und den Folgen der Tatsache, dass es an der Seite Hitler-Deutschlands am Krieg teilgenommen hat, nicht ausweichen kann. Die endgültige Regelung hängt zwangsläufig davon ab, inwieweit Österreich seinen Teil zu seiner Befreiung beiträgt."
Diese Formulierung "setzte Josef Stalin – wohl auf Initiative von Benes – durch." (vgl. Otto Habsburg, Memoiren, Amalthea, Seite 178). Die berüchtigten "Benes-Dekrete – Stichwort: Vertreibung der Sudetendeutschen" – sind immer noch Teil der tschechischen und slowakischen Verfassung!
Österreich wurde allerdings, so wie Deutschland, in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Und diese Besatzungszeit mussten wir zehn Jahre erdulden – insbesondere in der russischen Zone, in der wir lebten. In diesen Jahren gab es sicher keinen Grund zum Feiern oder gar der Freude.
Meine Mutter musste sich am 11. Juni 1946 eine "Alliierte Reise-Erlaubnis" besorgen, um die damalige Demarkationslinie an der Enns passieren zu können, weil sie mich bei einem Bauern in Oberösterreich besuchen wollte. War das ein Zeichen der von Van der Bellen besungenen Freiheit?
Oder die just an besagter Enns von den Russen verhaftete und nach Sibirien verschleppte Margarete Ottilinger? Viele Österreicher erlitten das gleiche Schicksal, verraten durch Spitzel zumeist kommunistischer Provenienz! Gab es Unterschiede zu den Gestapo-Methoden?
Umstritten ist tatsächlich die Frage, ob die Kapitulation für die Deutschen eine Niederlage oder eine Befreiung bedeutete. Richard von Weizsäcker bezeichnete in seiner Rede vom 8. Mai 1985 den Tag der Kapitulation als "Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" analog dem Geschichtsbild der DDR. Dort wurde der 8. Mai als Tag der Befreiung gefeiert. So auch die Formulierung Van der Bellens.
Dieser Deutung wird jedoch von verschiedenen Historikern widersprochen. Für Henning Köhler ist die Kapitulation "die umfassendste Niederlage der deutschen Geschichte". Für diese Interpretation spricht sicherlich die Tatsache, dass Russland jährlich am 9. Mai große Siegesparaden abhält. Wir waren in St. Petersburg Augenzeugen einer solchen. Und das Gegenteil von Sieg kann doch nur eine Niederlage sein.
Hans-Ulrich Wehler anerkennt zwar, dass "der Mai 1945 eine Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur bedeutete". Für ihn ist es aber verständlich, "dass aus der Sicht der meisten deutschen Zeitgenossen die Niederlage mit ihren Folgen als deprimierende Katastrophe empfunden wurde".
Ich bin Jahrgang 1938 und kann mich sehr genau an den Einmarsch der Russen erinnern. War ich freudig erregt ob der Befreiung oder war ich wie alle anderen auch erfüllt von Furcht und Schrecken? In beklemmender Angst vor den Bolschewiken, wie die Russen damals allgemein benannt wurden, hissten die Frauen – die Männer waren ja zumeist an der Front – weiße Tücher an den Fenstern. Sicher nicht aus Freude über das Herannahen der Russen, sondern als sichtbare Zeichen, dass man keinen Widerstand leisten würde.
Wir waren alle im Keller des Pfarrhofes in banger Erwartung. Und der erste Russe erschien mit der Forderung: "Uhra, Uhra". Meine betagte Großmutter trat als erste der versammelten Frauen vor und übergab die goldene Taschenuhr meines verstorbenen Großvaters, ein Ehrengeschenk der Gemeinde an ihn.
Unsere Wohnung war zum Teil von russischen Offizieren besetzt. Davon können auch viele unserer Landsleute ein trauriges Lied singen. Die Schlacht tobte noch und ich stand neben einer voll feuernden Stalinorgel. Die russischen Panzer standen im Liesingbach und schossen aus vollen Rohren auf die deutschen Einheiten. Tote lagen überall verstreut. Ich könnte noch über viele Gräueltaten berichten.
Niemand war von der von Van der Bellen zitierten Dankbarkeit ob der "Befreiung" erfüllt. Im Gegenteil. Aus meinem Erleben kann ich rückblickend den oben zitierten Analysen Henning Köhlers und auch Hans-Ulrich Wehlers nur zustimmen.
Die eigentliche Freiheit brachte uns der Staatsvertrag vom 15. Mai 1955. Unterschrieben von Außenminister Leopold Figl, der dies mit den berühmten Worten: "Österreich ist frei" aus dem Belvedere in Wien der ganzen Welt verkündete. Ich jubelte damals mit meiner Mutter und tausenden Österreichern im Garten des Belvederes stehend laut und begeistert, als Figl gemeinsam mit den vier Außenministern auf dem Balkon den unterschriebenen Staatsvertrag präsentierte.
Dieser 15. Mai war und ist für uns der eigentliche Tag der Freiheit und Freude!
Und just am 15. Mai 2019, stellte ich fest, dass dieser Tag der Freude vom Bundespräsidenten angefangen bis zu fast allen Medien tot geschwiegen wird. Einzig Hans-Werner Scheidls in der "Presse" gedachte des Tages. Offenbar sollen die Väter des Staatsvertrages, die ÖVP-Politiker Raab und Figl, aus der Öffentlichkeit verschwinden und genau eine Woche früher durch das sogenannte "Fest der Freude" zugedeckt werden.
Froh und dankbar über ihre Befreiung waren sicher auch alle überlebenden Opfer des Holocausts oder der vielen Konzentrationslager. Niemals vergessen sollen und dürfen die Verbrechen des so genannten Naziregimes werden. Dies sind auch die eindringlichen Forderungen aller offiziellen Stellungnahmen. Mindestens ebenso muss dies auch für alle unmenschlichen Verbrechen zu Zeiten der so genannten "linken" kommunistischen Regime verschiedenster Ausprägungen gelten. Die Abermillionen Opfer unter Stalin (mindestens 10 Millionen), Mao (mindestens 20 Millionen), in Vietnam usw. dürfen ebenfalls nicht vergessen werden.
Dieses ausgewogene Gedächtnis fehlt mir bei allen Holocaustgedenkfeiern.
Klar ist, dass jeder froh und dankbar über das Ende des Krieges war. Dass nach zähen Verhandlungen der damaligen Regierungen die meisten, längst nicht alle Kriegsgefangenen, abgemagert bis auf die Knochen, heimkamen und zumeist in Wiener Neustadt von ihren Angehörigen weinend empfangen wurden, war natürlich besonderer Grund zur Dankbarkeit. Weniger den Russen als vielmehr der österreichischen Regierung gegenüber.
Meiner Mutter, meinem Bruder und mir blieb dieses Glück verwehrt. Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Er ist am 03. April 1943 im russischen (sowjetischen) Lager Kapustin Yar verhungert. Davon erfuhren wir erst im Jahr 1994 aus seinem Personalakt, den wir von Univ. Prof. Dr. Stefan Karner erhielten. Dafür danke ich ihm ganz besonders.
Es gab also in den Jahren nach Kriegsende nicht nur Freude, sondern auch sehr viele Gründe zur Trauer und Angst. Darauf ging Van der Bellen in seiner Rede leider nicht ein. Insofern halte ich sein Statement für nicht ausgewogen. Eine gute Gelegenheit, den jüngeren historisch weitgehend unwissenden Generationen in gebotener Kürze geschichtliche Zusammenhänge zu erklären, blieb ungenützt.
Konkret möchte ich Bundespräsident van der Bellen daher fragen und um Erklärung ersuchen:
- Wieso waren nur russische (sowjetische) Veteranen zu diesem "Tag der Freude" eingeladen und wurden von ihm offiziell begrüßt? Bei den Russen fallen mir immer noch die Deportationen nach Sibirien, die enormen Reparationszahlungen bzw. Reparationslieferungen (z.B. Erdöl) ein. Warum gab es von den drei übrigen Alliierten (Amerikaner, Engländer und Franzosen) keine offiziellen Repräsentanten? Ist der Marshallplan etwa keiner dankbaren Erwähnung wert?
- Wie kann Van der Bellen in seiner Rede seine "Dankbarkeit über die Befreiung Österreichs vom nationalsozialistischen Terrorregime" bekunden, wo er doch im Jahr 1945 erst ein Jahr alt war, als er mit seinen Eltern ins Tiroler Kaunertal geflohen ist, als sich die Rote Armee im Rahmen der Wiener Operation dem Wiener Stadtgebiet näherte, wie ich seinem Lebenslauf entnehme. Eine Flucht – noch dazu von Wien weit weg ins hinterste Kaunertal – kann ich nicht als Ausdruck von Freude oder Dankbarkeit erkennen. Viele Nazis bis hin zu höchsten Rängen haben sich in ähnlicher Weise in den österreichischen Alpen versteckt (z.B. in Altaussee etc.)
- Nicht mit dem eigentlichen Thema zusammenhängend aber aus aktuellem Anlass möchte ich den Bundespräsidenten fragen, ob er Herrn Erich Fenninger, den Chef der Volkshilfe, ebenso offiziell zur Rede gestellt und gerügt hat, wie er dies z.B. bei Vizekanzler H.C. Strache öffentlichkeitswirksam getan hatte. Der Grund: politisch nicht korrekte Wortwahl.
Der Kronen Zeitung habe ich folgenden Bericht entnommen:
"Bei SPÖ-Maiaufmarsch
Volkshilfe-Chef: "Oaschmenschen" in der Regierung
Eklat im Rahmen eines SPÖ-Maiaufmarsches: Wie nun bekannt wurde, fiel Erich Fenninger - Chef der Österreichischen Volkshilfe - beim roten Aufmarsch in Steyr mit wüsten Beschimpfungen gegenüber Regierungsmitgliedern auf. Fenninger sprach als Festredner auf Einladung der Bezirkspartei der SPÖ .... von "Oaschmenschen" und "schlechten Menschen, die heute in Regierungsämtern sind und erklärte, dass die Sozialdemokraten stolz darauf sein könnten, "guade Leid" zu sein."
In dieser skandalösen Angelegenheit habe ich von Van der Bellen bisher noch kein kritisches Wort gehört. "Gilt für ihn etwa, dass übelste Entgleisungen dann kein Problem sind, wenn es gegen die "Richtigen" geht?" ( vgl. Christian Ortner in "Die Presse" vom 10. Mai 2019)
Ich bin auf die Stellungnahme des Herrn Bundespräsidenten Van der Bellen schon sehr neugierig.
Warum wohl hat es am 15. Mai 1955 dieses Ersttagskuvert gegeben??
(wenn wir doch schon am 8. Mai 1945 befreit wurden ...?)
Gerhard Rohrböck war Finanzmanager bzw. Geschäftsführer mit viel internationaler Erfahrung, auch kommunalpolitisch viele Jahre engagiert.