Ein weiterer Grashalm. Krampfhaft klammern sich die Fahnenträger des guten Gewissens an das Buch des ehemaligen Vizekanzlers. Welche Geisteshaltung liegt aber dem Buch selbst jenseits von Kameralicht, gekränktem Stolz und einer eventuellen Wirkung «toxischer Männlichkeit» zugrunde?
Bei dieser Suche hilft ein anderes Buch. Der deutsche Philosoph und Autor, Alexander Grau, hat sein ebenso kompaktes wie brillantes Werk «Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung» dem Themenkomplex «Moral» gewidmet. Grau analysiert darin die Rolle von Moral, Moralismus und Hypermoral, also der Utopie einer ausschließlich nach rigiden moralischen Normen organisierten Gesellschaft. Er skizziert präzise die Funktionsweise einer Empörungskultur, zu deren moralinen Früchten Reinhold Mitterlehners Buch gehört – oder, Einschub, auch die entbehrliche Kritik an den Spenden für Notre Dame.
Der ehemalige Vizekanzler hat genau dieser Empörungskultur entsprechend ideologisierend und verallgemeinernd Sachthemen in seinen Anklagetopf wahllos vermischt. Auch dieses Rezept beschreibt Grau: «der grassierende Moralismus [trägt] nicht nur zu einer intellektuellen Vereinfachung, sondern auch zu einer extremen Ideologisierung aller möglichen Debatten und Streitfragen bei».
Neben dem verallgemeinernden Moralisieren ist dieser Selbstdarstellung die zeitgeistliche Neigung zu Haltung statt Zurückhaltung eigen. Den Finger in die Wunde legend, konstatiert Grau: «Der zeitgenössische Moralismus fühlt sich zuständig für alle und jedes, von der Rettung eines Kleinbiotops irgendwo an einer Bahnstrecke bis hin zum Schutz einer Vogelart auf Papua Neuguinea.» Bedeutender Zusatz: Moralisch ist man dort am haltungsvollsten, wo man selber keine unmittelbaren individuellen Handlungskonsequenzen zu fürchten hat. Traditionelle Werte wie Disziplin, Selbstbeherrschung (bis hin zu Lebensschutz) – und damit auch persönliche Zurückhaltung – schmecken bitterer und eignen sich weniger gut für Generalanklagen.
Als Ultima Ratio in politischen Diskussionen wird die ansonsten gerne als Sündenbock dienende Religion herangezogen. Der Christ «muss doch» und eine christlich-soziale Partei «hat» doch zu ... Abgesehen davon, dass «der Christ» zuallererst in seinem eigenen Leben Christ sein, das heißt dem Evangelium folgen, und auch nicht verurteilen sollte, zeichnet Grau die Entkoppelung von Religion und Moralismus nach.
Moral als Teil der Religion habe sich zu einer Religion an sich, ja sogar zur herrschenden Religion, entwickelt. Das ermöglicht nicht nur totalitäre Tendenzen einer zur Selbstreflexion unfähigen, weil selbstbegründenden Moral, sondern schadet auch der Religion: «In einer Welt, in der Moral zur herrschenden Religion geworden ist, muss die traditionelle Religion Moral werden. Damit beschleunigen die Kirchen zwar ihren Untergang als Kultur- und Geistesinstitutionen, dafür überleben sie als Moralanstalten».
Das Buch Mitterlehners wird wohl als Grashalm in der politischen Debatte keine langfristige Bedeutung erlangen. Damit ist es eben das, was es anderen zu sein vorwirft: mächtig in der Wortwahl, ideologisch in der Denkweise. Anders das Werk von Alexander Grau, das zu lesen und worüber zu diskutieren sich lohnt.
Auf Einladung von Landtagsabgeordneter Mag. Caroline Hungerländer Hungerländer und Mag. Jan Ledóchowski, Präsident der Plattform Christdemokratie, wird Dr. Alexander Grau am 7. Mai einen Vortrag über sein Buch «Hypermoral» halten. Sie sind herzlich dazu eingeladen: Anmeldungen bitte bis 05. Mai an caroline.hungerlaender@wien.oevp.at (begrenzte Platzzahl)
Koordinaten: 07. Mai 2019, 18:00 Uhr, Klubraum der Altkalksburger Vereinigung, Ballhausplatz 1
Mag. Caroline Hungerländer ist in der Fraktion Christlicher Gewerkschafter aktiv und ÖVP-Gemeinderätin in Wien.