Die Heuchelei hat wieder Hochkonjunktur, wenn sich etwa das linke "juste milieu" allergrößte Sorgen um das christlich-soziale Profil der ÖVP macht, wenn darob im "Standard" handverlesene Interviewpartner Krokodilstränen vergießen und ein "christliches Unbehagen mit der Politik von Kurz" konstatieren. Journalisten, Kabarettisten und andere Vertreter des zeitgeistigen Feuilletons, die sich der ÖVP oder dem Thema Kirche und Religion bevorzugt negativ, lächerlich-machend bis verspottend nähern, beklagen plötzlich lautstark, dass die ÖVP christlich-soziale Prinzipen aufgegeben hätte – ziemlich verlogen, aber leicht durchschaubar. Wenn schon die Oppositionsparteien bisher kein Kraut gegen die Regierung gefunden haben, dann müssen "kritische Bürger" her, die versuchen, einen Keil in die alte (schwarze) und neue (türkise) Partei zu treiben.
Das ist umso leichter möglich, als die christliche Soziallehre, die sich seit über 100 Jahren stetig weiterentwickelt hat, keinen verbindlichen "Katechismus" für politisches Verhalten hat, weshalb es heute ein breites Spektrum an Meinungen gibt. So betont etwa Martin Rhonheimer, Professor für Ethik und politische Philosophie an der päpstlichen Universität Santa Croce und Präsident des Austrian Institutes of Economics and Social Philosophy, die "wohlstandsschaffende Dynamik der Marktwirtschaft" und resümiert trocken: "Umverteilung schafft keinen Wohlstand."
Nur wirtschaftliches Handeln kann das Problem der Armut lösen, wie man ja in vielen Ländern – vor allem in Asien – beobachten kann. Rhonheimer verweist auch auf die ältere Tradition der katholischen Soziallehre, die "kompromisslos das Privateigentum verteidigte und damit die individuelle Freiheit gegen alle Formen des Sozialismus". Von diesen Positionen haben sich viele – durchaus zeitgeistig – mittlerweile wegbewegt, was Rhonheimer beklagt: "Es gibt eine Neigung der katholischen Soziallehre, schnell auf Distanz zur Marktwirtschaft zu gehen. Da herrscht die Vorstellung, verantwortlich für die Schaffung von Arbeit seien Regierungen und nicht der Markt." Ein Irrglaube, der sich hierzulande seit Bruno Kreisky hartnäckig hält; kein ideales Umfeld für eine Politik, die eine gesellschaftliche Neuorientierung vornehmen will.
Keine Frage, das christliche Österreich weist heute eine größere politische Bandbreite auf als etwa noch vor einer Generation. Dennoch sollten einige Fakten außer Streit stehen: Wenn wir uns vor Augen halten, dass ein unersättlicher Staat selbst mit steigenden Einnahmen seit Jahrzehnten nicht das Auslangen findet, dass Staatsverschuldung und Steuerquote nach wie vor (zu) hoch sind und wir gleichzeitig Umverteilungsweltmeister sind – siehe dazu die Umverteilungsstudie des WIFO – scheint es dringend geboten, korrigierend einzugreifen, um einen funktionierenden Sozialstaat – der den Kritikern ja so am Herzen liegt – auch in Zukunft garantieren zu können. Denn:
- Es ist weder christlich noch sozial, Menschen abhängig von Wohlfahrtsleistungen zu halten oder sie durch eine hohe Abgabenlast zu hindern, selbst Vorsorge zu treffen, etwa auch durch Schaffung von Wohnungseigentum.
- Es ist weder christlich noch sozial, immer mehr Schulden anzuhäufen und damit künftige Generationen zu belasten.
- Es ist weder christlich noch sozial, das Anforderungsniveau in den Schulen immer weiter abzusenken, um eine vermeintliche "Gleichheit" herzustellen.
- Es ist weder christlich noch sozial, eines der teuersten Gesundheitssysteme zu erhalten, in dem – so ein OECD-Bericht – jedes Jahr 20 Prozent der jährlichen Ausgaben von 35 Milliarden Euro, also sieben Milliarden, verschwendet werden (Wie viele echte soziale Nöte könnte man damit lindern!).
- Es ist weder christlich noch sozial, die Menschen – trotz gestiegener Lebenserwartung – nach wie vor früher als in anderen Ländern in Pension gehen zu lassen und die Kosten für diesen Unfug in die Zukunft zu vertagen.
Dr. Herbert Kaspar ist Publizist und Kommunikationsexperte und hatte lange wichtige Funktionen im Österreichischen Cartellverband inne.