Folgt das Recht der Politik oder die Politik dem Recht? Kant oder Kickl? Henne oder Ei? Fragen dieser Art beschäftigen zurzeit die Republik vom Bundespräsidenten abwärts. Je nach ideologischer Grundausrichtung scheint deren Bewertung auch relativ eindeutig. Während für die einen klar ist, dass die Grundfesten unserer demokratischen Ordnung wie die Menschenrechte unantastbar sein müssen, ist es für die anderen vollkommen uneinsichtig, dass offensichtlichste Missstände einfach hinzunehmen sind, wie der Verbleib krimineller Asylwerber in Österreich, aufgrund von Gesetzen, die genau diese Menschen zum Teil auf abscheulichste Art gebrochen haben.
Wie auch immer man dazu stehen mag, die Wogen gehen diesmal zur Abwechslung aus gutem Grund hoch. Denn die durch die Äußerung des Innenministers aufgeworfene Fragestellung setzt auf einer bedeutend tieferen Ebene an als das oftmals zu gesellschaftlichen Gretchenfragen hochstilisierte parteipolitische Hickhack. Sie verlässt den abgenutzten Boden des alltäglichen Politainments, auf dem atemlose Fernsehexperten sich die immer gleichen Monologe und Duelle liefern, und verweist auf eine für uns neue Tanzfläche, die eigentlich eine viel ältere ist. Hier beginnt das eigentlich Politische.
Wir sind es nicht mehr gewohnt, die grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens zu diskutieren. Zu lange wurden all diese Themen im postpolitischen Konsens zugedeckt. Mit dem durch den Zusammenbruch der Sowjetunion proklamierten "Ende der Geschichte" schien bereits alles Relevante entschieden. Der Diskurs war beschränkt auf ein pragmatisches Reagieren auf anstehende Problemlagen und die erwähnte Tritsch-Tratsch-Politik.
Die postdemokratische Konstellation, die Politik der Alternativlosigkeit, die konsensuelle Demokratie wurde abgesichert durch einen Schutzwall aus teils absurden Tabus und Sprachregelungen. Diese Moralisierung des Politischen rührt laut Arnold Gehlen von einer grenzenlosen Ausdehnung der privaten Familienmoral her, kulminierend in der manichäischen Einteilung politischer Positionen in Gut und Böse. Links und Rechts sind in vielen Kreisen zu bloßen Synonymen dieser Einteilung degeneriert. Das hat zu einer allgemeinen Verflachung politischer Debatten geführt.
Aufgrund der multiplen Krisenerscheinungen der letzten Jahre scheint dieser postpolitische Modus des Politikmachens nun an seine Grenzen zu stoßen. Zukünftige Entwicklungen, die sich abzeichnen (Digitalisierung, demographischer Wandel, weitere Massenmigrationsströme etc.), verlangen nach neuen Denkweisen, die in der aktuellen Sprache der Politik und Moral nicht zu fassen sind.
Äußerungen, wie die des Innenministers und die Reaktionen darauf sind Symptome eines Paradigmenwechsels, der vor allem durch die Erwartungshaltung der Bevölkerung angetrieben wird. Dieser verlangt eine tiefgehende Reflexion vor allem der Begrifflichkeiten, um eine weitere Polarisierung der Gesellschaft zu verhindern. An deren Anfang muss der ernsthafte Versuch stehen, die vermeintlich gegnerische Seite in ihren Denkweisen und dahinterstehenden psychologischen Bedürfnissen zu verstehen, ohne sie mittels schneller Etikettierung abzuurteilen. Denn in Anlehnung an ein berühmtes Zitat Alexander Solschenizyns lässt sich erkennen, dass die Linie, die rechts von links trennt, das Herz eines jeden Menschen durchkreuzt.
Fabio Witzeling ist Soziologe am Humaninstitut Vienna, sowie Politik- und Strategieberater.