Der Vertrag von Aachen, geschlossen in einer karolingischen Kaiserpfalz zwischen den späteren Teilreichen des karolingischen Reichs, hat zu viele historische Anknüpfungspunkte, um als Zufall durchgehen zu können. Er wurde ganz bewusst von den zwei Hauptdarstellern als symbolische Neu-Gründung dieses Reichs gefeiert. Auch dieser Vertrag wurde übrigens bis kurz vor Abschluss der parlamentarischen Diskussion der Öffentlichkeit vorenthalten, was möglicherweise ebenfalls dem kaiserlichen Vorbild entspricht. Die bei Vertragsabschluss beiden Darstellern entgegengebrachten Missfallensäußerungen des Publikums unterschieden sich vom historischen Vorbild, fielen daher medial weitgehend unter den Tisch.
Bei der versuchten Rekonstruktion des karolingischen Reiches übersieht man geflissentlich, dass zeitgleich im Norden Europas ein gefährlicher Gegner in Form der Normannen an seinen Grenzen lauerte, das arabisch/moslemische Spanien an der Südwestgrenze eine weitere Bedrohung darstellte, im Südosten das byzantinische Kaiserreich gerade seine neu gewonnene Stärke feierte und der slawisch/magyarische Osten eine weitere Bedrohung des Reiches bildete. Heute sind fast alle diese Randvölker freiwillig und nicht durch Eroberung Teil der EU und damit de jure gleichberechtigt. Der Anspruch von Frankreich und Deutschland auf Führung in der EU beruht also auf keinem zutreffenden historischen Vorbild, keiner Eroberung und keinem Vertragswerk, ist also angemaßt und muss angesichts der inneren Probleme beider Staaten als obsolet angesehen werden.
Was könnte an die Stelle der deutsch/französischen Führung treten? Wenn man Europa in verschiedene Gruppierungen zerlegt, wären da einmal die drei großen Sprachgruppen der Germanen, Romanen und Slawen zu nennen. Sie lassen allerdings die kleinen fremden Sprachinseln wie zum Beispiel Finnland, Ungarn und Griechenland unberücksichtigt. Ein ähnliches Ergebnis zeigt eine Gruppierung nach Religionen, katholisch, evangelisch und orthodox. Eine solche würde sich ganz grob mit Germanen, Romanen und Slawen decken, würde aber den Moslems einen eigenen Anspruch ermöglichen, der territorial kaum darzustellen ist.
Bisher ist der slawisch/byzantinisch/orthodoxe Raum jedenfalls noch nicht ausreichend vertreten, was innereuropäische Gräben sichtbar werden lässt, die sich leicht zu Bruchstellen auswachsen können. Große Teile der slawischen Welt stehen noch außerhalb der EU. Sie könnten auf Grund ihrer Größe und Stärke bei Eintritt einen begründeten Führungsanspruch stellen. Solange sie selbst außerhalb bleiben müssen, haben sie Interesse an der Einflussnahme auf die slawischen Staaten innerhalb der EU. Von der Türkei als Kernland des byzantinischen Reiches und ihrem Einfluss auf die Moslems innerhalb der EU spreche ich hier noch gar nicht. Keine der dargestellten Einteilung in Gruppen ergibt eine ausreichende Abdeckung der europäischen Staaten, lässt daher Mitglieder verschiedener Durchsetzungsfähigkeiten entstehen.
Dringend notwendig wäre vorerst, der slawisch/byzantinisch/orthodoxen Gruppierung eine gleichberechtigte Stellung gegenüber Romanen und Germanen einzuräumen und ihre teils sehr unterschiedliche Kultur zu akzeptieren. Weiters muss dem Führungsanspruch Deutschlands und Frankreichs entgegengetreten werden, solange beide Staaten durch innere Schwäche Probleme aufwerfen, die mit den erkennbar vorhandenen Problemen der EU Interferenzen erzeugen können, die für die EU tödlich sein können. Bei einer allfälligen tiefgreifenden Renovierung der EU müsste man daher allen Staaten gleiches Gewicht beimessen, was in Form einer zweiten Kammer, in der die Staaten unabhängig von ihrer Größe dasselbe Gewicht hätten, geschehen könnte. Die Nachbildung des fränkischen Reichs ist jedenfalls kein brauchbares Modell, das einige Stabilität sicherstellen könnte.
Rupert Wenger war Offizier des Bundesheeres als Kompanie- und Bataillonskommandant in der Panzertruppe und später Analyst in einer Dienststelle des Verteidigungsministeriums.