Die Tatsache, dass Bundespräsident Dr. Van der Bellen in seiner Eigenschaft als oberster Repräsentant der Republik Österreich in der Frage "Migrationspakt Ja oder Nein" das Gegenteil von dem sagt, was die Bundesregierung als Ihre Haltung definiert, erweckt den Eindruck einer Zerrissenheit des österreichischen Staates.
Liegt hier ein Fehler im System des Bundesverfassungsgesetzes vor, der derart unterschiedliche Auffassungen an der Staatsspitze zulässt?
Unbestreitbar ist, dass es jeder politischen Partei, jedem Staatsbürger, unbenommen ist, innen-und außenpolitische Positionen entsprechend der jeweiligen Überzeugung einzunehmen.
Die zentralen Funktionen einer guten Verfassung besteht jedoch darin, dafür Sorge zu tragen, dass die auf verfassungskonforme Art und Weise zustande gekommene Willensbildung des Staates nicht wieder in die Phase des davorliegenden Widerstreites der Meinungen zurückversetzt wird. Genau diesen Eindruck vermitteln die Äußerungen des Bundespräsidenten.
Für die Beurteilung des gegenwärtigen Zwistes erscheint wohl der Wortlaut des Artikels 1 des Bundesverfassungsgesetzes maßgeblich, dem zufolge das Recht vom Volke ausgeht. Das Volk wird durch die Abgeordneten im Parlament, in der Folge durch die Bundesregierung, vertreten. Diese ist dazu berufen, das Land zu regieren.
Das Amt des Bundespräsidenten ist in Österreich mit wichtigen Funktionen ausgestattet, in erster Linie bei der Regierungsbildung. Doch auch hier sind dessen Einflussmöglichkeiten letztlich von den Mehrheitsverhältnissen im Nationalrat abhängig. Sobald eine Regierung angelobt ist, beschränkt sich die Funktion des Bundespräsidenten in der Regel darauf, nicht aufgrund eigener Initiative, sondern auf Vorschlag der Bundesregierung zu agieren, weshalb er seitens der Rechtswissenschaft als "Gefangener der Bundesregierung" bezeichnet wurde.
Dies bedeutet: Die Bundesverfassung sieht, solange eine Bundesregierung im Amt ist und kein Entlassungsgrund vorliegt, für den Bundespräsidenten keinen Auftrag zu einer Regierungstätigkeit vor.
Äußerungen zu konkreten Akten der Bundesregierung, wie der Frage, ob ein ausländischer Lehrling abgeschoben werden soll oder nicht, weiters ob ein bestimmtes Abkommen unterzeichnet werden soll oder nicht, wird von nicht wenigen Staatsbürgern als Einmischung in die Agenden der Bundesregierung und somit auch als Missachtung des Wählerwillens der Mehrheit empfunden.
So sehr sohin eine Meinungsvielfalt im Parlament das Wesensmerkmal eines demokratischen Staates bildet, ist ein Meinungsstreit zwischen den obersten Organen des Gesamtstaates dessen Solidität abträglich.
Dem Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt obliegt es jedoch, abgesehen von der wohl abzulehnenden Ausübung einer Parallelregierungstätigkeit, über die konkrete Regierungspolitik hinaus grundsätzlichen gesamtstaatlichen Anliegen – keineswegs im diametralen Gegensatz zur Position der Bundesregierung – eine Stimme zu geben, beispielsweise der langfristigen Sicherung der österreichischen Gesellschaft etwa durch Überwindung des Geburtendefizites.
Bei Fortdauer der derzeit unterschiedlichen Auffassungen des Herrn Bundespräsidenten im Verhältnis zur Politik der Bundesregierung erscheint der Verfassungsgesetzgeber gefordert klarzustellen, dass dem Bundespräsidenten nicht eine Parallelregierungsfunktion zukommt.
Dr. Heinrich Birnleitner ist Land-und Forstwirt in Aistersheim, Oberösterreich; er war früher österreichischer Diplomat.