So gut Sebastian Kurz die Rolle des Bundeskanzlers ausfüllt und so richtig seine Fokussierung auf die Zuwanderungsfrage ist, so offen sind zwei staatspolitisch wichtige Flanken: Die juristische war auf diesem Blog immer wieder Thema. Die andere offene Flanke ist die verteidigungspolitische.
In der ÖVP hat diese Leichtgewichtigkeit Tradition. Jahrelang hatte die ÖVP-Parlamentsfraktion keinen einzigen Offizier in ihren Reihen. Heutzutage gibt es einen – Karl Nehammer – der allerdings nicht Wehrsprecher ist.
Im Zuge der jüngsten Debatte um eine Wiedereinführung der Truppenübungen für die Miliz erfuhr die Öffentlichkeit, dass es in der ÖVP auch einen sogenannten Rekrutensprecher gibt. Dieser begründete seine Ablehnung mit dem diskussionswürdigen Satz: "In der Wahrnehmung von Rekruten kann aus dem Grundwehrdienst kein ausreichender persönlicher Nutzen für ihr späteres Leben gezogen werden." Abgesehen davon, dass im Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ ganz andere Worte Richtung Miliz zu finden sind, ist die Überlegung, die Landesverteidigung aus "der Wahrnehmung der Rekruten" zu definieren, originell.
Die Erfüllung der Wehrpflicht ist Dienst an der Allgemeinheit, der in Sachen persönlicher Nutzen für das spätere Leben immer das Nachsehen haben muss. Darin besteht schon das Grunddilemma gegenüber dem konkurrierenden Zivildienst. Den Wehrdienst utilitaristisch zu hinterfragen bedeutet in Wirklichkeit die Distanzierung von der Verteidigungsbereitschaft, was angesichts der alles dominierenden Zuwanderungsfrage problematisch erscheint. Würde der Dienst mit der Waffe jedermann und wahrnehmbar einen unmittelbaren persönlichen Nutzen bringen, könnten wir uns den Wehrdienst sparen und würde sich die Idee eines Volksheeres von selbst verwirklichen.
Im Übrigen wäre es interessant zu erfahren, ob der Finanzsprecher der ÖVP in ähnlichen philosophischen Kategorien denkt wie der Rekrutensprecher. Dann könnte vielleicht einmal der Satz fallen: "In der Wahrnehmung von Steuerzahlern kann aus der Steuerpflicht kein ausreichender persönlicher Nutzen für ihr späteres Leben gezogen werden."
Wenn die ÖVP im Parlament neben dem Wehrsprecher auch einen Rekrutensprecher ernennt und damit das Personal des Bundesheeres politisch selektioniert, stellt sich die Frage, wie die übrigen Dienstgrade des Bundesheeres repräsentiert werden. Müsste es nicht auch einen Chargen-, einen Unteroffiziers- und einen Offizierssprecher geben?
Die Personalpolitik der ÖVP spiegelt das Desinteresse an der Landesverteidigung wieder. Dies ist nicht nur allgemeinpolitisch, sondern auch klientelpolitisch problematisch. Viele Offiziere, die politisch dieser Partei nahe stehen, werden einfach vor den Kopf gestoßen. Hinzu kommt die budgetäre Behandlung des Bundesheeres. Ist im Regierungsprogramm noch von der Herstellung einer langfristig gesicherten und ausreichenden budgetären Bedeckung sowie einem Auflösen des Investitionsrückstaus der vergangenen Jahre die Rede, findet sich von alldem im ersten Budget der ÖVP-FPÖ-Regierung nichts mehr.
Die enge Logik liegt auf der Hand: Der steirische Unteroffizier Mario Kunasek will seine Stellung als Verteidigungsminister offensichtlich dazu nutzen, um im Jahr 2020 Landeshauptmann der Steiermark zu werden. Diese Sprungbrettfunktion ist schon mal für einen Schwarzen in Tirol aufgegangen und geht nun für einen Roten im Burgenland auf. Warum soll sich nicht auch einmal ein Blauer versuchen?
ÖVP-Denke: Wenn Kunasek in der Steiermark einen ÖVP-Landeshauptmann ablösen will, bekommt er sicher kein Geld im Verteidigungsressort zur Profilierung. Als "Politik alt" kann man diesen Ansatz zusammenfassen.
Wenn die ÖVP unter Sebastian Kurz auch mittel- und langfristig erfolgreich sein will, wird die Konzentration auf den Kanzler und sein Migrationsthema nicht ausreichen. Sie wird sich kompetenzmäßig breiter aufstellen müssen und auch ihre offene Flanke Verteidigung schließen müssen.
Georg Vetter ist Rechtsanwalt, Vorstandsmitglied des Hayek-Instituts und Präsident des Clubs unabhängiger Liberaler. Bis November 2017 ist er Abgeordneter im Nationalrat gewesen.