Wiener Tagebuch: Die Wiener Zeitmessung

Dienstagmorgen. Ich stehe vor der TU, der Technischen Universität, und warte auf die nächste Straßenbahn. Die 1er- und 62er-Linie sowie die Badner Bahn fahren auf diesem Streckenabschnitt. Laut Anzeigetafel kommt die nächste Straßenbahn in genau sechs Minuten. Da das Wetter angenehm ist, ich gern zu Fuß unterwegs bin, die nächste Station etwa 500 Meter entfernt ist und ich mir nicht an diesem beliebten Sandlertreffpunkt die Füße in den Bauch stehen möchte, spaziere ich zur nächsten Station. Ganz gemütlich. Dort angekommen, verrät mir die Anzeigetafel, dass die nächste Straßenbahn in genau fünf Minuten kommt. Sensationell, ich habe die geschätzt 500 Meter in einer Minute zurückgelegt. Nicht schlecht.

Ich rechne kurz überschlagsmäßig nach. Ich war also mit ca. 30 km/h unterwegs. Gott sei Dank ist die Wiedner Hauptstraße keine Begegnungszone oder Wohnstraße. Wenn ich da ins Radar spaziert wäre…

Und dabei bin ich noch nicht einmal gelaufen. Usain Bolt kann sich warm anziehen, wenn ich für den 100-Meter Lauf zu trainieren beginne. Weil ich offenbar gut in Form bin, warte ich nicht auf die angekündigte Straßenbahn und marschiere weiter. Nächste Haltstelle, gleiches Ergebnis. Laut Anzeigetafel kommt die Straßenbahn in vier Minuten. Also beschließe ich, nicht auf sie zu warten und die ganze Strecke zu Fuß zu gehen. Keine Straßenbahn, keine Badner Bahn weit und breit. Irgendwann biege ich in eine Seitenstraße ab. Gut, dass ich mich nicht auf die Angaben der Wiener Linien verlassen habe.

Die sind offenbar völlig willkürlich. Nach deren Zeitrechnung kann eine Minute je nach Bedarf auch 120 Sekunden, 180 Sekunden oder wie lange auch immer dauern. Irgendwie ist das für das sozialistische Wien typisch.

Man erzählt den Bürgern irgendwelche Häuslschmähs, versucht sie mit seltsamen Methoden ruhig zu stellen, sich die Realität mit plumpen Tricks zurechtzubiegen und erreicht damit zumeist das genaue Gegenteil von dem, was man beabsichtigt hat. Dieser Service macht schließlich nur Sinn, wenn man sich auf die Angaben verlassen kann. Ansonsten sorgt man vor allem für Unmut und Ärger.

Diese Strategie des Schönredens, Schummelns und Schmähtandelns hat im roten Wien eine lange und schlechte Tradition. Sie ist den Genossen längst in Fleisch und Blut übergegangen. Egal ob es ich um Islamkindergärten (die es eigentlich gar nicht gibt), explodierende Schulden (Wos kost die Wöd?), Messerattacken (Wir können froh sein, dass es eh nicht so viele sind, sagt Häupl) oder den Milliardenskandal rund um das KH Nord (Schau ma amoi) handelt, es gilt stets das rote Motto: Is eh ned so wüd; na, de Bim kommt eh glei…

Das beherrschen die Sozis aus dem Effeff, egal ob im Rathaus oder bei den Wiener Linien. Besser, man verlässt sich nicht auf ihre Versprechungen.

Das "Wiener Tagebuch" ist eine Kolumne von Werner Reichel mit Wiener Streifzügen und Erkundungen. Werner Reichel ist Autor und Chefredakteur von Frank&Frei – Magazin für Politik, Wirtschaft und Lebensstil.

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