Fünfzig Jahre nach 1968 wird ein kritischer historischer Rückblick die damaligen Ereignisse und Weichenstellungen in die richtige Perspektive rücken. Die desaströsen Folgen jenes "mythischen" Jahres sind bis heute spürbar. Zu feiern gibt es demzufolge nichts – falls das jemand vorgehabt hätte. Es ist in aller Interesse den Mythos 68 zu entzaubern.
Zu diesem Zweck empfiehlt sich die Konsultation des aktuellen Werkes Kulturbruch ´68 – Die linke Revolte und ihre Folgen des Gymnasialprofessors, Buchautors und Autors der Wochenzeitung Junge Freiheit Karlheinz Weißmann. Er rekonstruiert die revolutionären Ereignisse der 60er und 70er Jahre und analysiert sie in ideologie- und religionsgeschichtlicher Hinsicht.
Die Kulturrevolution von 1968 war ein vielschichtiges Ereignis. Für jede Revolution ist einerseits ein entschlossener Kader unabdingbar. So war auch 1968 das Projekt einer Elite. Diese gab sich als "nonkonformistisch" aus. Das Projekt stand unter dem Einfluss der Besatzungsmächte, denen an einer Umerziehung Deutschlands gelegen war. Andererseits beteiligten sich allzu viele aus eigenem Antrieb an den revolutionären Ereignissen. Die Revolution hatte die dunkle Seite im Menschen angesprochen. Inhaltlich war sie ein Aufguss pseudo-religiöser, gnostischer und antichristlicher Ideologeme.
Im Folgenden einige von Weißmann abgehandelte Themen, die dem Berichterstatter besonders relevant erscheinen.
Die 68er Bewegung als Zerstörung im Namen des Fortschritts
Im Vorwort stellt Weißmann grundsätzlich fest:
"68 war weder eskalierter Vater-Sohn-Konflikt noch notwendiger Modernisierungsschub, weder berechtigter Aufstand gegen ein ‚Schweinesystem‘ noch der Beginn einer schönen und wilden Zeit, in der alle etwas lockerer wurden. 68 war vielmehr Ursache jener Formschwäche, unter der die westliche Welt heute leidet, ein Vorgang äußerer und – stärker noch – innerer Zerstörung. Die meisten unserer gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Probleme gehen auf das zurück, was die Achtundsechziger taten oder was sie ihre Erben tun ließen".
Wichtig ist hier besonders die allzu diskret eingestreute Formulierung vom "[nicht] notwendigen Modernisierungsschub". Weißmann schneidet damit ein geschichtsphilosophisch alles entscheidendes Thema an, nämlich die Frage nach der Existenz beziehungsweise der Beschaffenheit einer allfälligen "Moderne". Eng damit verbunden ist die Frage, ob "Modernisierungsschübe" überhaupt "notwendig" bzw. unausweichlich seien. Und die Frage, wer berechtigt oder sogar verpflichtet ist, diese "Schübe" durchzuführen.
Wir sind hier mitten in einem zentralen Problem: Denn die Vorstellung eines automatisch und zwangsläufig ablaufenden Geschichtsprozesses, der immer mehr "Modernisierung" brächte, die ihrerseits immer gut und richtig und wichtig wäre, ist allgegenwärtig, besonders aufgrund der Agitation durch die 68er Revolutionäre und ihrer Nachbeter. Gleichzeitig wird alles, wofür das Jahr 1968 steht, von der offiziellen Geschichtsdeutung als in diesem Sinne "modern" betrachtet. (Von daher ist es bemerkenswert, dass der ab 1970 regierende österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky zwei Jahre später sein Wahlprogramm als "Modernisierung" bewarb. Was mit dieser Art Propaganda ausgesagt werden soll, ist klar: Man verhilft der Geschichte, dass sie "richtig" weiterläuft. Denn man kennt die Richtung, in die die Geschichte laufen soll. Dahinter steht ein gnostisch-hegelianisch-marxistisches Geschichtsverständnis.)
Weißmann sieht das freilich kritisch und macht die "progressiven" Ideologien von 1968 für "Formschwäche" und "Zerstörung" verantwortlich.
Alleine schon das feststellt zu haben, ist in Zeiten wie diesen von großer Bedeutung.
Die zerstörerischen Aspekte der 68er Bewegung stehen nämlich im heutigen Diskurs meist unter einem Vorbehalt, wenn sie denn überhaupt angesprochen und eingestanden werden. Hier kommt ein Argumentationsmuster ins Spiel, das heutzutage ausschließlich "linken" und "progressiven" Bewegungen durchgehen gelassen wird:
Im Regelfall kommt bei den ehemaligen Protagonisten der 68er Bewegung nämlich "irgendwann die salvatorische Klausel: Wir haben es gut gemeint, es ist nur böse gelaufen".
Die Revolution als Projekt der Siegermächte – und als Akt des ersten Revolutionärs
Weißmann spricht offen aus, dass hinter der gegen Widerstände durchgedrückten Kulturrevolution ein Interesse der Besatzungsmächte stand:
"[Es] gab durchaus noch starke Widerstände [gegen die Kulturrevolution]. In der Nachkriegszeit existierte ein breites Spektrum von Intellektuellen, die sich als Bürgerliche, Liberale, Konservative, praktizierende Katholiken oder Lutheraner oder als Anhänger eines ‚Nationalismus mit menschlichem Antlitz‘ betrachteten, selbstverständlich an den öffentlichen Debatten teilnahmen und entschlossen waren, der Kulturlinken entgegenzutreten, dem, was Paul Sethe den ‚Aufstand der Kammerdiener‘ nannte, der unter dem Schutz der Besatzungsmächte begonnen hatte und daran ging, das kulturelle Erbe der Deutschen zu zerstören" (47).
Die 68er Revolution sollte das besetzte Land umgestalten. Dazu kehrten Exilanten (nämlich Exponenten der "Frankfurter Schule" wie Herbert Marcuse und Theodor Adorno) aus den USA nach Deutschland zurück.
Aus Sicht des Berichterstatters macht von daher die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel Sinn: Deutschland soll offenbar ganz abgeschafft werden.
Immer jedoch, wenn revolutionäre Kräfte in Gang gesetzt und chaotische Zustände planvoll angestrebt werden, begibt man sich in den Machtbereich des ersten Revolutionärs.
Und dieser hasst die Revolutionäre nicht weniger als alle anderen Menschen.
Weißmann analysiert die inneren Zerfallsprozesse innerhalb der – oft sehr skurrilen – kommunistischen Gruppen und Sekten und gräbt tiefer:
"Die chaotische Tendenz erschwerte naturgemäß den Zusammenhalt, aber die von dem ‚Situationisten‘ Dieter Kunzelmann zuerst in München gegründete Subversive Aktion erreichte doch vorübergehend eine gewisse Stabilität. Der Situationismus hatte seinen Ursprung in Frankreich und Belgien. Die sehr kleine Schar seiner Anhänger betrachtete sich als Avantgarde der Avantgarden und setzte auf eine Mischung aus Dadaismus und Clownerie, ergänzt um einen ausgesprochenen Irrationalismus, der sich wie selbstverständlich mit Elementen des okkulten Denkens legieren konnte, weil es in jedem Fall um die totale Befreiung des Individuums ging" (58f).
Es kam zu einer regelrechten "okkulten Explosion", zur Popularisierung von Astrologie, Spiritismus und Satanismus und natürlich dem damit zusammenhängenden Rauschgiftkonsum (69f).
Der Bocksfüßige war damit ohne weiteres erkennbar.
Der Kommunismus als pseudo-religiöses System und der Zynismus seiner Adepten
Weißmann weist auf die starke psychologische Bindekraft des Marxismus hin. Dieser konnte sich daher als Ersatzreligion in dem postchristlichen Vakuum einer vom Glauben abgefallenen Welt ausbreiten.
Dabei sind die Fakten, die gegen ihn sprechen, für den "Gläubigen" unerheblich. Der echte Marxist analysiert nicht die "Früchte", die der Baum Marxismus gebracht hat. Er betet seinen Götzen unverdrossen weiter an. Weißmann bringt es auf den Punkt:
"Man konnte den Eindruck gewinnen, als ob das anarchische und chaotische Element in der Studentenbewegung nicht anderes gewesen war als Ausdruck eines seelischen Vakuums, das nun mit Totalitarismus gefüllt wurde. Ein Vorgang, der um so schwerer nachzuvollziehen ist, als der verbrecherische Charakter des Sowjetsystems in sämtlichen Varianten offen zutage lag. [Der Marxist-Leninist Christian] Semler, der zu den führenden Funktionären der KPD gehörte, gab unumwunden zu, daß er die Berichte der großen Abtrünnigen [vom Marxismus] – André Gide, Arthur Koestler, Manès Sperber, Ignazio Silone – kannte wie das Werk Alexander Solschenizyns über das System der kommunistischen Vernichtungslager, den Archipel Gulag. Aber er und seine Genossen taten die Millionen Toten mit einem Schulterzucken als ‚Kosten der Revolution‘ ab, die nach der Hinwendung zu Mao – dem schlimmsten Massenmörder des 20. Jahrhunderts – nicht noch einmal anfallen würden" (178f).
Die "Kosten der Revolution" fielen aber auch mit Mao an, mehr als je zuvor.
Es gehört zur Blindheit unserer Zeit, dass sich knapp 30 Jahre nach dem Fall des kommunistischen Ostblocks marxistische Ideologeme wieder massiv im Westen ausbreiten. Ein Alexander Solschenizyn wird kaum gelesen – schon gar nicht in den Schulen, denn der Archipel Gulag (1973) könnte das offizielle Geschichtsbild ins Wanken bringen.
Die Revolution richtet sich gegen ihre Betreiber
Die Revolution ist nicht vollständig zu steuern. Das wird durch folgendes Ereignis im Umkreis der Frankfurter Schule, eines Motors der 68er Revolution, versinnbildlicht: Am 9. Dezember 1968 besetzten Studenten das Soziologische Seminar der Universität Frankfurt und hinderten Dozenten und Studierwillige daran, die Räumlichkeiten zu betreten:
"Dazu erhoben die Besetzer bizarre Forderungen nach ‚Halbparität‘ und Auslieferung größerer Haushaltsbeträge für ihre Zwecke. Das war selbst den Köpfen des Instituts, Habermas und Adorno, zu viel. Gerade hatte man noch die Forderung des Rektors der Universität nach schärferem Vorgehen gegen die Besatzer kritisiert, jetzt rief man selbst die Polizei und ließ das Institut kurz vor Weihnachten räumen" (143).
Die Eigendynamik der Revolution ließ sich aber nicht mehr stoppen:
"Ende Januar [1969] kommandierte [Studentenführer Hans-Jürgen] Krahl die Besetzung des Allerheiligsten der ‚Frankfurter‘: des Instituts für Sozialforschung. Wieder scheiterte der Versuch eines Ausgleichs, wieder wurde die Polizei geholt. Adorno achtete aber bei den Festnahmen sorgsam darauf, daß die Besetzer glimpflich behandelt wurden, und erkundigte sich später besorgt, ob man sie gefoltert habe[!]" (ebd.).
Als ob man in Deutschland damals Häftlinge gefoltert hätte. Zur marxistisch-freudianischen Ideologie der "Frankfurter" gehört zwangsläufig der Realitätsverlust.
Die Anbiederung Adornos an die Studenten, die in gewisser Weise Produkt seiner Propaganda – nichts zuletzt in einer freudianischen Auffassung von Sexualität – waren, nützte ihm aber nichts. Denn am 22. April 1969 drangen Abgeordnete des "Frankfurter Weiberrats" in seine Vorlesung ein, entblößten sich, tanzten um ihn anzüglich herum und versuchten, ihn zu küssen.
"Adorno verließ fluchtartig den Hörsaal. Er kehrte nicht mehr zurück. … [Drei] Wochen später starb Adorno" (144).
Der Golem war gegen seinen Erzeuger aufgestanden.
Resümee
Weißmanns Darstellungen sind profund, aber nicht uferlos. Sie sind für unsere Zeit höchst relevant, da auch heute noch politisch einflussreiche Personen, wie der längst im Establishment angekommene ehemalige Polizistenprügler der "Frankfurter Putztruppe", Joseph "Joschka" Fischer, kritisch dargestellt werden.
Das umfangreiche Literaturverzeichnis leitet zu weiteren Studien an. Karlheinz Weißmann und die Junge Freiheit, in deren Verlag das Buch erschien, sind im heutigen konformen Meinungs-Hauptstrom erfreuliche Alternativen.
Inhaltlich bietet die Abhandlung eine Orientierungshilfe in verworrener Zeit. Wie eingangs gesagt: "Modern" heißt eigentlich so gut wie nichts. Die Berufung auf "Modernität" ist normalerweise ein suggestives Mittel zur Durchsetzung politischer Partikularinteressen. Ideologisch fußt diese Suggestion auf der Gnosis, deren politisch wirkmächtigste Spielart der Marxismus ist.
Dieser kostete im Sowjetimperium und in Maos China etwa hundert Millionen Menschen das Leben. Im Westen brachte er mit der 1968er Bewegung die Auflösung von Familie und Nation, sexuelle Verwahrlosung, epidemischen Suizid und den Mord an Millionen ungeborener Kinder. Von daher wird man sagen müssen, dass angesichts dieser Monstrositäten Weißmanns Analyse im Tonfall fast zu akademisch-distanziert geraten ist.
Post scriptum: Protestantismus und Revolution
Karlheinz Weißmann ist nicht nur Historiker, sondern auch protestantischer Theologe und Religionslehrer. Er veröffentlichte ein positives Buch zu Martin Luther als "Prophet der Deutschen".
Als solcher weiß er über die revolutionäre Kraft der willkürlichen und gewaltsamen Lutherschen Weichenstellungen Bescheid. Als solcher ist aber auch zwangsläufig Teil des revolutionären Prozesses selbst.
Es ist daher in letzter Analyse nicht möglich, als Protestant eine echt konservative christliche Position zu begründen und zu verteidigen.
Dass Exponenten der revolutionären Vorgänge der 60er und 70er Jahre, bis hin zu RAF-Terroristen, aus protestantischen Pfarrhäusern stammten, illustriert diese zwar nicht kausale oder deterministische, aber aufgrund der Lutherschen Revolutionsgesinnung durchaus in einer gewissen Logik liegende, untergründige Verbindung der verschiedenen revolutionären Strömungen.
Karlheinz Weißmann sollte dieses Thema theoretisch und praktisch noch tiefer durchdenken.
Karlheinz Weißmann,
Kulturbruch ´68 – Die linke Revolte und ihre Folgen,
Junge Freiheit Verlag,
Berlin 2017, 252 Seiten
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Wolfram Schrems, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, reiche Erfahrung im interkonfessionellen Gespräch