Egal was passiert: es muss ein großer Plan dahinter stecken. Verschwörungstheorien haben wieder Hochsaison. Die USA wollen Europa in einen Krieg gegen das friedliche Russland hetzen. Die Nato kreist Russland ein, obwohl sie versprochen hat, sich nicht nach Osten auszudehnen. Deshalb hat die USA in der Ukraine auch einen faschistischen Putsch orchestriert. Gezielt wird eine muslimische Masseneinwanderung nach Europa gesteuert, um so die europäische Identität zu zerstören. Wer sich politisch diesem Plan widersetzt, wird in die Enge getrieben, bis er abtreten muss.
Nur in einem Pakt mit Russland könne Europa sich von dieser (was auch immer sie sein mag) Fremdherrschaft befreien. Das sind nur die gängigsten Erzählmuster, die heute tief in politische und gesellschaftliche Kreise wirken, und als Erklärung für so ziemlich alle Ereignisse herhalten müssen.
Faszinierend daran ist: es könnte ja tatsächlich so sein. Allerdings nur dann, wenn man die Fakten beiseite schiebt, und Handlungen immer nur als Teil eines großen Plans sieht, über den eine bestimmte Gruppen von Leuten die Welt steuert. Ob dieser "große Plan" die Erklärung dafür sein könnte, warum dieses Erzählmuster auch in katholisch-konservativen Kreisen so massiv einschlägt, wäre einmal eine eigene Untersuchung wert.
Am 28. März 2018 veröffentlichte die Hohe Repräsentantin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik einen "Aktionsplan zur militärischen Mobilität" in der EU. Kaum war die Pressemeldung der EU-Kommission dazu publiziert, kamen über die üblichen Kanäle schon die Meldungen, wonach nun endlich klar sei, die EU werde von den USA in Kriegsvorbereitungen gegen Russland gehetzt. Sämtliche EU-Länder werden nun "von der EU" angehalten, Straßen und Brücken so auszubauen, dass die Panzer ungehindert Richtung Osten rollen können.
Ein Blick in den Aktionsplan lässt die Sache schon etwas weniger dramatisch erscheinen. Das Papier wurde bereits im Vorjahr von Kommissionspräsident Juncker in seiner "State of the Union" Rede für dieses Frühjahr angekündigt. Nichts deutet darauf hin, dass hier irgendwer in einen Krieg gehetzt werden solle. Der Aktionsplan gibt den gemeinsamen Diskussionsstand der EU-Länder zur Sicherheitspolitik im Bereich der Mobilität wieder. Er skizziert die nach wie vor gegebene Kleinräumigkeit Europas in der Sicherheitsfrage und versucht, Lösungswege aufzuzeigen. Im EU-Binnenmarkt gibt es mittlerweile funktionierende Abläufe im grenzüberschreitenden Transport von Gefahrengütern. Bei militärischen Transporten aber funktioniert der Binnenmarkt offenbar nach wie vor nicht.
Letztlich ist der vorliegende Aktionsplan nicht mehr als ein Detail, um der ursprünglichen Idee der europäischen Einigung, einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft, einen Schritt näher zu kommen. Wenn man das will – und eine solche europäische Sicherheitsgemeinschaft ist in der gegebenen weltpolitischen Lage durchaus sinnvoll –, dann muss man als geeintes Europa in der Lage sein, die Grenzen bei etwaigen Übergriffen auch sichern zu können. Der Aktionsplan zielt ja nicht nur auf Panzerfahrten ab, sondern spricht klar von der Mobilität zu Lande, in der Luft und auf dem Wasser.
Die Geschichte, wonach der Aktionsplan nur ein Beleg dafür sei, dass die USA Europa in einen Krieg gegen Russland hetzen wolle, passt wunderbar in die schon viel ältere Verschwörungstheorie, wonach die Nato dabei sei, Russland einzukreisen. Wirklich plausibel ist die These, das größte Flächenland der Erde werde eingekreist, nicht. Allein schon deshalb nicht, weil im Norden Russlands das ewige Eis liegt, im Süden China und die früheren asiatischen Teilrepubliken der Sowjetunion, in denen der starke Arm Moskaus immer noch ein ganz wichtiger Faktor ist (auch wenn einige dieser Länder mit den USA im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan – zumindest offiziell – kooperieren).
Damit beschränkt sich die "Einkreisung" auf die europäischen Grenzen Russlands, wo nur die baltischen Staaten der Nato angehören. Finnland ist neutral. Weißrussland ist gar nicht glücklich über die Großmachtbestrebungen Moskaus, hat aber – unter anderem deshalb, weil der dortige Herrscher Alexander Lukaschenko noch nie im Verdacht stand, ein lupenreiner Demokrat zu sein – kaum Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Aus Georgien hat Russland bereits zwei Teilstücke militärisch herausoperiert, in der Ukraine wurde die Krim annektiert und der Osten des Landes militärisch überfallen. Von der Nato eingekreist ist einzig und allein Kaliningrad, die russische Enklave, die einst Königsberg hieß.
Um die These von der Einkreisung Russlands durch die Nato aber zu untermauern, wird von den Anhängern dieser Geschichte ein Versprechen der Nato kolportiert, sich nach dem Fall des Eisernen Vorhang nicht nach Osten auszudehnen. Gegeben wurde das Versprechen angeblich in den 2+4 Verhandlungen, in denen es um den Abzug der Sowjetunion aus der ehemaligen DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands ging. Diese Verhandlungen fanden im Jahr 1990 statt. Damals existierte der Warschauer Pakt noch, dem sämtliche europäische Länder östlich des Eisernen Vorhangs angehörten (angehören mussten). Erst 1991 wurde dieses Militärbündnis aufgelöst.
Es ist also unwahrscheinlich, dass in einer Zeit, in der der Warschauer Pakt genauso noch existierte wie die Sowjetunion, über eine mögliche Osterweiterung der Nato gesprochen wurde, und ein Versprechen gegeben wurde, eine solche Erweiterung würde nicht stattfinden. Die Mitgliedschaft in einem der beiden Bündnisse schloss die Mitgliedschaft im anderen eindeutig aus.
Aber, selbst wenn eine Aufnahme der mitteleuropäischen Länder in die Nato damals in irgendwelchen Gesprächen thematisiert wurde, ist ein Versprechen, die Nato werde diese mitteleuropäischen Länder nicht aufnehmen, auszuschließen. Wenn es Vereinbarungen gab, dann wurden sie in die Verträge geschrieben.
Entscheidend ist aber ein weiteres Argument: Es kam nach 1991 (Auflösung des Warschauer Paktes) nicht zu einer Osterweiterung der Nato (im Sinne eines strategischen Plans, dieses Bündnis zu erweitern), sondern zu Beitrittsgesuchen fast aller mitteleuropäischen Länder des ehemaligen Sowjetreiches. Aufgrund der Erfahrungen mit der russischen Besatzung (das war die Realität des Warschauer Paktes, mit Ausnahme von Rumänien) suchten diese Länder Sicherheit unter dem Nato-Schirm, um auf diese Weise einer neuerlichen Okkupation durch Moskau zu entgehen. Es war der Wunsch dieser Länder, aus Sicherheitsüberlegungen Mitglied der Nato zu werden, so wie sie aus wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Überlegungen einen Beitritt in die EU anstrebten. Nach der wiedergewonnenen Freiheit und Souveränität nutzen sie ihre Vertragsfreiheit.
Das bedeutet weiters: Wäre damals im Zuge der Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands mit Moskau vereinbart worden, dass die Länder zwischen der deutschen und der russischen Grenze nicht der Nato beitreten dürfen, wären sie ihrer Vertragsfreiheit beraubt gewesen wären, hätten also ihre Souveränität nicht entfalten können. Eine derartige – Gott sei Dank nie geschlossene – Vereinbarung hätte also eine neuerliche Aufteilung Mitteleuropas in eine westliche und eine östliche Einflusssphäre bedeutet, die historisch an den Hitler-Stalin-Pakt erinnert hätte.
Wer die These vertritt, die "Nicht-Osterweiterung" der Nato sei damals Russland versprochen worden, möge also bedenken, in welchen Konstrukten der Macht- und Einflusspolitik diese These angesiedelt ist. Ein fast witziger Aspekt dieser These ist, dass ihre Vertreter zwar gerne den mitteleuropäischen Ländern durch ein Verbot des Nato-Beitritts ihre Souveränität genommen hätten, heutzutage aber lauthals beklagen, Polen und Ungarn würde von der EU ihre Souveränität geraubt. Verschwörungstheorien müssen nicht einmal logisch sein.
Jene Länder Mitteleuropas, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Mitglied der Nato werden konnten, wurden seither zumindest vor einer militärischen Aggression von Russland geschützt. Von Aktionen im hybriden oder asymmetrischen Krieg wurden sie trotzdem getroffen. Man denke etwa an den massiven Cyberangriff gegen Estland oder auch an das von Moskau gesteuerte Attentat im Wahlkampf in Montenegro im Vorjahr. Georgien und die Ukraine, die noch bis in die 2000er Jahre von alten kommunistischen Kadern (und Oligarchen) regiert wurden, waren sowohl von der EU-Perspektive also auch einem Nato-Beitritt ausgeschlossen. Beide Länder wurden Opfer einer militärischen Aggression durch den großen Nachbarn Russland.
In der Ukraine kam es erst im Rahmen der Orangen Revolution 2004 zu einem erfolgreichen Bürgerprotest gegen das alte System. Allerdings gelang es Präsident Viktor Juschtschenko nicht, in dem Land wirkliche Reformen durchzuführen. Das lag nicht nur an seinem Streit mit der Regierungschefin Julia Timoschenko. Juschtschenko und seine Partei Nascha Ukraina unternahmen erste Versuche einer Annäherung an die Nato. Er scheiterte nicht nur an der Nato selbst, sondern vor allem an den Wünschen der eigenen Bevölkerung, für die eine Nato-Mitgliedschaft damals keine Option war. Untersuchungen zeigten nur eine geringe Unterstützung für diesen Weg, der die 20-Prozent-Marke nicht überschritt. Erst die Annexion der Krim durch Russland und der anschließende Einmarsch in der Ostukraine ließen die Beliebtheitswerte der Nato in der Ukraine stark ansteigen.
Was aber für die Ukrainer eine Option war und ist, ist die europäische Perspektive, zu der sich dann der 2010 gewählte Präsident Viktor Janukowitsch bekannte (gegen den sechs Jahre davor die Orange Revolution ausgebrochen war, die ihn damals auch als Präsident verhinderte). Er suchte offensichtlich die Annäherung an die EU, die ihren Abschluss in einem Assoziierungsabkommen finden sollte. Allerdings verweigerte er am Gipfel von Vilnius im November 2013 die Unterschrift. Die Folge dieser Weigerung war ein neuerlicher Protest am Maidan, dem Freiheitsplatz in der ukrainischen Hauptstadt Kyiv, der wegen seiner zentralen Forderung nach einer europäischen Ausrichtung der Ukraine Richtung Europa auch Euro-Maidan genannt wird. In der Ukraine selbst ist auch von einer "Revolution der Würde" die Rede, die von jenen Kreisen, die die These einer Einkreisung Russlands durch die Nato verbreiten, aber als ein von den USA (und der EU) gesteuerter (faschistischer) Putsch interpretiert wird. "Belegt" wird diese Putsch-Geschichte damit, dass Janukowitsch nicht formal korrekt abgesetzt wurde, die USA mit viel Geld die Zivilgesellschaft in der Ukraine unterstützte, sowie die US-Diplomatin Victoria Nuland das "f-Wort" gegen die EU gebrauchte und meinte, "Jaz" (gemeint ist damit der ukrainische Politiker, Außen- und Premierminister Arsenij Jazenuk) werde das schon machen.
Manche Beobachter nannten Viktor Janukowitsch auch Januskowitsch. Mit dem s in der Mitte seines Nachnamens wurde auf die zwei Gesichter des aus der Ostukraine stammenden und Moskau sehr zugeneigten Politikers angespielt. Auf der einen Seite gab Januskowitsch vor, die Ukraine näher an die EU heranführen zu wollen. Dazu wurde sogar eine Gruppe ehemals hochrangiger EU-Politiker engagiert, deren Wirken zu Beginn dieses Jahres als "Hapsburg-Group" bekannt wurde.
Auf der anderen Seite begann er das Herrschaftssystem Putins auch in der Ukraine zu etablieren. Die Staatsmacht sollte mit wirtschaftlicher Macht verschmolzen werden. Janukowitsch versuchte sich als oberster Oligarch zu etablieren, der die Geschäfte der anderen Oligarchen kontrolliert (und dafür auch kassiert). Die Oligarchen sollten weiter ungestört ihre Reichtümer anhäufen können, politisch aber dürften sie – so wie es Putin in Russland durchgesetzt hat – keinesfalls in Opposition zu ihm gehen. Damit brachte er aber nicht nur die Bevölkerung gegen sich auf, die unter der grassierenden Korruption litt, sondern auch die ukrainischen Oligarchen, die bei aller korrupten Raffgier offenbar nicht ein russisches Schicksal erleiden wollten. Der Bruch des europäischen Versprechens brachte letztlich die Bevölkerung gegen Janukowitsch auf.
Die Proteste ließen trotz des kalten Winters nicht nach. Mehrmals versuchte die berüchtigte Bereitschaftspolizei Berkut das Protestcamp auf dem Maidan zu räumen. Meist in der Nacht oder im Morgengrauen, wenn wenig Leute auf dem Platz waren. Die Menschen mussten ja weiter ihren Lebensunterhalt verdienen, konnten also nicht permanent am Maidan ausharren. In den Kirchen rund um das Zentrum der Hauptstadt wurden rechtzeitig vor dem Anrücken der Berkut die Glocken geläutet. So rief man die Bevölkerung auf, auf den Platz zu kommen, um die Würde der Ukrainer zu verteidigen. Das Glockengeläute erinnerte an die Warnungen zur Zeit des Mongolensturmes.
Die Lage eskalierte Anfang des Jahres 2014. Am 20. Februar 2014 wurde in Kiew auf die Demonstranten auf dem Euromaidan geschossen. Über 50 Demonstranten wurden damals gezielt mit Kopfschüssen getötet. Im Zuge der Proteste kam es zu weiteren Toten. Aufgrund der Gesamtzahl der Toten gab man diesen Opfern des Protestes den Namen "himmlische Hundertschaft" oder auch "Himmelshundertschaft". Die Herrschaft von Viktor Janukowitsch war nicht mehr zu halten. Er setzte sich nach Russland ab, nachdem er zuvor zumindest einen ganzen Hubschrauber voll Geld außer Landes bringen ließ.
Die Flucht eines korrupten und kleptokratischen Präsidenten, der zuvor den Weg nach Europa versprochen, aber den nach Russland eingeschlagen hat, ist nicht mit einem Putsch zu vergleichen. Die Geschichte von einem faschistischen Putsch passt nur in die Erzählmuster der alten sowjetischen Propaganda, wo man jede Gegnerschaft zur Herrschaft Moskaus gerne als faschistisch dargestellt hat. Unbestritten ist, dass der sogenannte "rechte Sektor" im Hotel Ukraina am Maidan ein ganzes Stockwerk für sein Hauptquartier requiriert hatte. Einen wirklichen Einfluss auf die ukrainische Politik kann man ihm aber nur dann unterstellen, wenn man die Herauslösung der Ukraine aus dem Herrschaftsbereich Moskaus bereits als eine rechte oder faschistische Politik definiert. Die Partei Svoboda, der man ebenfalls eine Beteiligung am "Putsch" unterstellt, und die aufgrund ihrer nationalistischen Töne immer wieder als Beleg für den Faschisten-Putsch herhalten muss, ist nicht einmal im Parlament vertreten.
All diese Fakten werden die Verschwörungstheoretiker nicht davon abbringen, ihre Thesen weiter zu verbreiten. Im Gegenteil. Sie graben sich immer tiefer in ihre eigenen Gedankengebäude ein. Jüngstes Beispiel ist der Rücktritt des slowakischen Premierministers Robert Fico. Wie auch die anderen Visegrad-Staaten wehrt sich die Slowakei gegen die Umverteilung von Migranten. Da für die Verschwörungstheoretiker die Masseneinwanderung nach Europa gesteuert ist, folgt logisch, dass all jene Politiker, die sich dagegen aussprechen, verdrängt werden. Als "Beweis" dafür muss dann auch der Paneuropa-Gründer Richard Coudenhove-Kalergi, der in Japan geboren und später in Europa lebend vor 80 Jahren (unter anderem aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte und der Entwicklung der Verkehrstechnik) die These formulierte, dass es in Zukunft zu einer stärkeren Vermischung der Völker kommen werde, als Begründer eines "Coudenhove-Plans" oder "Kalergi-Plans" zur gezielt gesteuerten Masseneinwanderung nach Europa zwecks Vermischung der Rassen herhalten.
Fico ist demnach also nicht zurückgetreten, weil es in der Slowakei zu einem offensichtlichen Mafia-Mord an einem Journalisten und seiner Verlobten kam, und seine Regierung über persönliche Verbindungen offensichtlich mit diesen Kreisen in einem engen Kontakt stand, sondern weil er gegen die Masseneinwanderung ist.
Bei den Thesen von der Nato-Verschwörung und dem Faschisten-Putsch in der Ukraine kann man bei den Vertretern dieser Geschichten wenigstens noch von einem tief sitzenden Antiamerikanismus, von einem Nationalismus und einen tiefsitzenden Hass gegen die europäische Einigung ausgehen. Bei vielen anderen Thesen, die von ihren Vertretern als politische Wahrheit empfunden werden, ergibt aber auch dieses Muster keinen Sinn mehr. Je mehr sich diese Thesen aber festsetzen, umso schwieriger wird es, eine vernünftige Politik zu betreiben. Schließlich kann man vernünftige Entscheidungen nur auf Basis von Fakten treffen, nicht auf Basis von fake news, Gerüchten oder Verschwörungstheorien.
Der Autor ist Generalsekretär der Paneuropabewegung Österreich.