Wiener Tagebuch: Die kulturelle Bereicherung durch das Spucken

Diesmal wird es unappetitlich. Es geht nämlich ums Spucken. Oder besser, weil das eine Kolumne über Wien ist, ums Schlatzen.

Wie gesagt, es wird unappetitlich. Das Spucken in der Öffentlichkeit ist in unseren Breiten seit langem tabu. In der Antike und im Mittelalter galt das Ausspucken noch als reinigend und Speichel als etwas Gesundes. Als Heilmittel. Man wusste es damals nicht besser. "Das Herunterschlucken von Speichel ist eine Unsitte", verkündete Erasmus von Rotterdam noch Anfang des 16. Jahrhunderts. 

Rund 100 Jahre später gilt das Spucken bereits als unfein. Wenn man das Bedürfnis danach hatte, spie man in ein Taschentuch. Zumindest in den besseren Kreisen. Selbst Spucknäpfe galten schnell als unappetitlich, als "verbotene Möbel". Im Zuge der industriellen Revolution, sprich mit dem Wachsen der Bevölkerungen und der Städte, wurde das öffentliche Ausspucken zu einem allgemein akzeptierten Tabu. Kurz, mit dem kulturellen und zivilisatorischen Aufstieg Europas verschwand das Spucken aus der Öffentlichkeit.

Das liegt Jahrhunderte zurück. In tribalistischen und einfacheren Gesellschaften außerhalb Europas fanden diese kulturelle Entwicklung und der technische Fortschritt bekanntlich nicht statt, dort wird auch heute noch fröhlich in der Öffentlichkeit gespuckt. Etwa um Sonnenblumenkerne in hohem Bogen loszuwerden, beim Betelnusskauen, um den starken Mann zu markieren, seine Verachtung auszudrücken, warum auch immer. In einigen asiatischen Ländern, etwa im schönen und hochentwickelten Singapur, ist öffentliches Ausspucken hingegen strafbar. Bis zu 1.000 Dollar kann einem der ungustiöse "Spaß" dort kosten.

So streng waren und sind selbst die Europäer nicht. Bei uns praktizierten diese Unsitte bisher vor allem Halbstarke und Asoziale. Eben weil es tabu und ekelhaft ist. Jugendliche markieren damit, so wie Hunde, ihr Revier. Ausspucken gilt als aggressiver Akt, vor jemanden auszuspucken, ist ein Zeichen der Geringschätzung. Gesteigert kann dieser Ausdruck der Verachtung nur noch werden, wenn man jemanden anspuckt. Vielleicht sogar direkt ins Gesicht. Weshalb man das selbst kleinen Kindern nicht durchgehen lässt.

Da Wien, nach den dunklen Jahrzehnten der westlichen Monokultur nun – der Weisheit und Politik linker Gutmenschen sei Dank – vor allem aus dem Orient und der Dritten Welt kulturell bereichert wird, wandelten sich einstige Unsitten innerhalb von wenigen Jahren zu neuen Sitten. Das gilt freilich nicht nur für das Spucken. Nach rund 400 Jahren darf nun auch im Golden Apfel wieder fleißig und öffentlich geschlatzt werden. Die Ergebnisse sind in Wien an Haltestellen, Gehsteigen, Parks, Plätzen, vor Schulen etc. zu bestaunen. Mahlzeit. Solche importierten Bräuche sind die Folgen von kultureller Vielfalt – Pardon: Diversity –, Bereicherung und Buntheit politischer korrekter Ausprägung.

Für Kulturrelativisten ist das kein Problem. Im Gegenteil. Sie können einem wortreich erklären, warum das öffentliche Schlatzen, auch wenn es für die Übertragung von Krankheiten förder- bzw. verantwortlich ist, unsere Stadt und unsere Gesellschaft bereichern, bunter/grüner und besser machen. Ohne angespuckte Gehwege und Plätze war Wien ärmer dran. Jeder neue kulturelle Beitrag und Input der Wien bzw. Europa in die eine oder andere Richtung verändert, ist schließlich gleich viel wert.

Also ärgern sie sich nicht, wenn sie am Gehsteig in einen "Greanen" latschen oder ihnen jemand seine "Sympathie" mittels lautem Aufziehen und kräftigem Ausspucken bekundet, sondern freuen sie sich über diese folkloristischen Beiträge zur kulturellen Vielfalt in unserer Stadt.

Das "Wiener Tagebuch" ist eine Kolumne von Werner Reichel mit Wiener Streifzügen und Erkundungen. Werner Reichel ist Autor und Chefredakteur von Frank&Frei – Magazin für Politik, Wirtschaft und Lebensstil.

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