Hermann Broch (1886-1951) übertrug den Begriff "Die Schlafwandler" (1930/32) auf eine Epoche des politischen Zerfalls (1888-1918). Die Reaktionen der handelnden Subjekte auf diesen Sinn- und Werteverlust sind: rückwärts gewandte romantisch-nostalgische Verleugnung der Wirklichkeit, gefolgt von Orientierungslosigkeit zwischen Wertesystemen, und abschließend eine sachlich-zynische Unterordnung aller Wertesysteme unter die Maxime des kommerziellen Profits (Merkels Verdrusswort "alternativlos").
Dieser Weg führt in die Katastrophe; ohne dass sich die Handelnden dessen freilich bewusst wären, sind sie doch ganz in einer fatalen Selbst-Voreingenommenheit gefangen: Besessen vom Wunsch, eine verlustig gegangene Ordnung wiederherzustellen…
Das betrifft auch die hilflosen Versuche der spätkulturellen Merkel-EU, auf die welthistorische Refjutschie-Crisis 2015 zu reagieren. Der Konnex zur Julikrise 2014 drängt sich auf: "So gesehen waren die Protagonisten Schlafwandler – wachsam aber blind, von Alpträumen geplagt, aber unfähig die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen wollten." (Cristopher Clark: "Die Schlafwandler – Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog")
Immerhin war sich Dürrenmatts fiktiver spät-römischer Kaiser "Romulus der Große" noch der eigenen Überforderung angesichts der Völkerwanderung lapidar bewusst: "Wir sind Provinzler, denen eine Welt über den Kopf wächst, die sie nicht verstehen können."
Oder war alles nur politisches Kalkül, aus dem Geiste eines Kultur-Untergangs-Fatalismus heraus? "Rom ist längst gestorben! Du opferst dich einem Toten .... Geh schlafen Präfekt!" (Dürrenmatt)
Zwischen jener fiktiven alt-römischen Nacht (476 n. Chr.) in Campanien zur Zeit der Völkerwanderung und jenem warmen Spätsommer-Wochenende (12. - 13. September 2015) in Berlin auf dem Höhepunkt der Refjutschie-Crisis liegt ein Zeitraum von 1539 Jahren. Trotz modernster Kommunikationsmittel scheiterte jene Krisen-Telefonkonferenz deutscher Spitzenpolitiker im Sinne einer verpassten Staatsräson erneut.
"Die Grenze bleibt offen, nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschieden hätte, .... Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will." (Robin Alexander: "Die Getriebenen")
Oder war es nur Faulheit, an jenem (durch den weltgeschichtlichen Gang für alle Beteiligten versauten) Wochenende? Dürrenmatts Dialog erscheint gespenstisch-aktuell:
Julia: Hinter dir steht nichts als deine Faulheit.
Romulus: Eben. Es ist meine politische Einsicht, nichts zu tun.
J: Dazu hättest du nicht Kaiser werden brauchen.
R: Nur so konnte natürlich mein Nichtstun einen Sinn haben. Als Privatmann zu faulenzen ist völlig wirkungslos.
J: Und als Kaiser zu faulenzen gefährdet den Staat.
R: Du bist hinter den Sinn meiner Faulenzerei gekommen. (Dürrenmatt: "Romulus der Große")
Fühlte man sich im nördlichen Berlin, einfach nur weit, weit weg vom Balkan-Chaos der vor der Tür stehenden Flüchtlingsmassen, die da ins europäische Zentrum drängten? So wie damals, als Romulus die Nachricht ereilte:
Präfekt: "Die Germanen kommen!"
Romulus: "Wo sind sie denn, die Germanen?
P: "In Nola, Majestät!"
R: "Was schreist du denn? Dann sind sie ja erst morgen hier! Ich will jetzt schlafen!"
Treppenwitze der Geschichte
Die Landung der Alliierten in der Normandie (6. Juni 1944) beurteilte Ernst Jünger historisch angemessen: "Es handelt sich um den Beginn des großen Angriffs, der diesen Tag historisch machen wird." Der militärische Oberbefehlshaber Rommel war gerade abwesend in der schwäbischen Heimat – und feierte den Geburtstag seiner Ehefrau. Zeitgleich verschlief der (von der geschichtlichen Vorsehung auserkorene) Adolf Hitler in der frischen bayrischen Berghof-Alpenluft schlicht den entscheidenden Vormittag: Blick frei auf den mythischen Untersberg, in der Kaiser Friedrich Barbarossa – so wie er – vor sich hin träumte. Zuvor hatte er "wie üblich – bis zum Morgengrauen, seine Gäste mit endlosen Monologen traktiert". Obwohl seit 5:30 Uhr die Alliierten in massiven Angriffswellen vorrücken, wagt es niemand, Hitler zu wecken; erst nach sechs Stunden, "im Morgenmantel empfängt er die Nachricht." Den Befehl, die Panzer loszuschicken, erteilt er erst nachmittags und viel zu spät.
45 Jahre später löste Ex-SED-DDR-Funktionär Schabowskis mit einem lapidaren Geschwafle unfreiwillig die Grenzöffnung der DDR aus; nicht einmal die Grenzoffiziere wussten Bescheid: Eine Öffnung war nämlich ganz einfach nicht vorgesehen, nur deren Evokation entwich unter dem dynamischen Druck einer lapidaren Presskonferenz (am Abend des 9. November 1989): "Nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich." (Schabowski)
26 Jahre später war es wieder soweit: Vielleicht wollte eine Kanzlerin nur als "Mutti" in die Geschichte eingehen, mit einem von ihr ausgelösten "zweiten Mauerfall", mit ihrer eigenen, "Merkels Grenzöffnung". Doch auch damals (als in der Nacht des 5. Septembers die Flüchtlingsmassen gegen den österreichischen Grenzübergang Nickelsdorf anbranden) "erfährt die Führung der Bundespolizei erst aus den Medien und fragt im Innenministerium nach: Sind das nicht alles unerlaubte Grenzübertritte?" (Robbin: "Die Getriebenen")
Zugleich machte sich jene postmodern-protestantische Heilige einer undifferenzierten christlichen Nächstenliebe auf zur Prozession: Zu jener weltberüchtigten Selfie-Refjutschie-Tour – in einer für sie typischen Mischung von Unbedarft-, Dumm-, Konzeptlosigkeit (getrieben von der Wahnvorstellung einer säkularisierten biblischen Brotvermehrung). Oder erfüllte sie hier nur eine Verschwörungstheorie? War das also jenes "ganz Europa betreffende Phänomen ...: Nämlich der Austausch seiner Population und die Veränderung des Volkes"? (Renaud Camus)
"Das Zaudern, das in ruhigen Zeiten nützlich ist, bringt Männern in unruhigen Zeiten den Untergang." (Alphonse de Lamartine)
Bereits 1989 hatte sich Bestseller-Autor Umberto Eco in fatalistischer Nonchalance diesem "großen Austausch" ergeben:
Die Dritte Welt klopft an die Pforten Europas, und sie kommt herein, auch wenn Europa sie nicht hereinlassen will. ... Im nächsten Jahrtausend wird Europa ... ein vielrassischer ..., "farbiger" Kontinent sein. ...: Wenn es uns gefällt, umso besser; wenn nicht, wird es trotzdem so kommen." (Umberto Eco)
Sinn macht ein solch erzwungener Imperativ innerhalb der europäischen Geschichte freilich nicht:
Europäisch ist, dass es viele Staaten, Staatsvölker, Sprachen und Kulturen gibt. ... Es ist Verarmung, diese Vielfalt irgendwie auf einen gemeinsamen Nenner herunterzuziehen." (Safranski: "Politischer Kitsch)
Denn diese Refjutschies (aus islamisch und afrikanisch geprägten Kulturen) haben mit der 3000-jährigen Geschichte Europas vielleicht gerade noch ein paar Jahrzehnte gemeinsame Eroberungsgeschichte durch Alexander den Großen oder imperialistischer Mächte gemeinsam.
Trotzdem betrachtet Eco diese Völkerwanderung als unausweichliches "Kapitel in der Geschichte des Planeten, der die Kulturen seit jeher im Gefolge großer Migrationsströme vergehen sah" (Umberto Eco). So wie sich damals in der Spätantike "die römisch-barbarischen Reiche" gebildet hätten, mache sich nun "eben der versteppende und verhungernde Süden" auf Richtung Europa. Auf diese Weise würde eben aber nur eine "neue ethnische Mischung in den Zielländern" entstehen, "so wie einst in Sizilien eine nicht sehr große Anzahl von Normannen einen blonden und blauäugigen Menschenschlag hinterlassen hat." (U. Eco, ebenda).
Vergewaltigungen und Chaos hat es damals sicher nicht gegeben. Gell?
Als hätte sich Eco in Büchners "Dantons Tod" verirrt: "Es hilft nichts. Da ist doch alles wie sonst, der Wind geht, die Wolken ziehen, wir müssen´s wohl leiden." …wenn er meint: "Die großen Wanderungen hören nicht auf. Was sich da vor unseren Augen abzeichnet, ist einfach eine neue Phase der afro-europäischen Kultur." (U. Eco)
Antiker Selbstbehauptungswille gegen frühe Völkerwanderungen
Was wäre passiert, hätten sich die Römer, nach der Gallierkatastrophe (387 v. Chr.) ihrem Schicksal willenlos ergeben und sich nach der Drohung des keltischen Heerführers Brennus "Vae victis!" ("Wehe den Besiegten!") nicht wieder aufgerappelt zum Willen zur Weltmacht?
Unser Rechtsystem wäre ohne Corpus Juris Civilis nicht denkbar; ohne die Erfindung des Opus caementition (Zement), würden Touristenmassen heute in Rom vergeblich nach den Caracalla-Thermen Ausschau halten; ohne Wasser-Viadukte wäre die Ewige Stadt (unter Augustus eine Millionenmetropole) nie entstanden; die altrömische Infrastruktur ließ deutsche Städte (wie Bonn-Bonna, Koblenz-Confluentes, Köln-Colonia Claudia Ara Agrippensium, Trier-Augusta Treverorum) entstehen.
All diese Entwicklungen fanden statt in einem Zeitraum von 800 Jahren; nämlich zwischen der ersten Plünderung Roms durch die Kelten (387 v. Chr.) sowie der letzten im Jahre 410 n. Chr. durch den westgotischen Heerführer Alarich.
War sich U.Eco darüber bewusst, dass solche Umbrüche von den Zeitgenossen als katastrophal empfunden wurden? "Alarich und seine Goten waren zwar Christen, Heilige waren sie nicht. Sie waren gekommen, um die Stadt zu plündern ...."(Baker: "Rom – Aufstieg und Untergang einer Weltmacht")
"Der Schock erschütterte die gesamte römische Welt. Der heilige Hieronymus klagte, dass `in einer einzigen Nacht die ganze Welt untergegangen sei´. ... Der heilige Augustinus ... zog eine ganz andere Lehre: Mit der Zerstörung Karthagos im Jahre 146 v. Chr. hatte der moralische Verfall der Römer begonnen, und ... konnten sie ihren egoistischen Neigungen, ihrer Habsucht und Machtgier freien Lauf lassen." (Baker)
In der Silvesternacht 2015/16 sollte sich im deutschen `Colonia Claudia Ara Agrippensium´ (Köln) ein weiterer welthistorisch-banaler Kulturschock wiederholen:
"Fremde Hände überall. Auf dem Po, den Brüsten, zwischen den Beinen, feixende Gesichter, hämisch lachende Männer. ... Rund 1000 Männer, zumeist nordafrikanischer und arabischer Herkunft, hatten ... Frauen begrapscht.
`Es war ein Kulturschock´ .... Danach empfanden sie viele pauschal als Täter, als ´wehrhafte junge Männer, die sich ,unsere' Frauen holen´. ...`Der Dom gilt gemeinhin als mütterliche Gestalt, als Dommutter, die auf die Stadt schaut und aufpasst.´ Das gehe ... so weit, dass die Türme als `mütterliche Zitzen´ empfunden werden.
Und dann hätten all die jungen, starken Männer ... diese heimische katholische Dommutter besudelt."[1] (Standard)
…wenn auch als historischer Spät-Nachzünder. 200 Jahre vor der Plünderung Alarichs lebten in der Ewigen Stadt am Tiber noch 800.000 Menschen, danach schrumpfte die Zahl auf 90.000; die einst stolzen germanischen Römerstädte waren nur mehr Kleinstädte.
"London eine Ansammlung von Ruinen; allgemeinbildende Schulen ... gibt es nicht mehr. ... Der Fernhandel erlahmt, und so verliert auch die Geldwirtschaft massiv an Bedeutung.
Kurz: Die technischen, kulturellen und ökonomischen Errungenschaften, die über Jahrhunderte, die römische Zivilisation strahlen ließen, gehen in großen Teilen des einstigen Weltreiches nun verloren." (Geo-Epoche)
Sehnen sich also Eco`s Multikulti-Apologeten wieder gravierende Änderungen für die kulturelle Spätzeit Europas herbei? War ja so langweilig bisher im postmodernen Nanny-Wohlfahrts-Staat!
Was wäre geschehen, hätte Kaiser Augustus nach jener katastrophalen Niederlage seines Heerführers Varus (Schlacht im Teutoburger Wald, 9. n.Chr.), nicht die richtigen Schlüsse für den Fortbestand des Imperiums getroffen? Er räumte die Provinz Germanien, verstärkte die Rheingrenze mittels eines Limes gegen Einbrüche germanischer Barbaren.
Nur: Augustus war (mit seinem "Varus, gib mir meine Legionen wieder!") immerhin bereit zu schonungslosem Eingeständnis der eigenen Niederlage: Diese Erkenntnis wird im postmodern-toleranten Multikulti-Relativisierei-Geschwafle umgewertet…
Untolerierbar ist nicht die Migration, sondern sind die Mauern, die aufhalten wollen, was nicht aufzuhalten ist. Wir haben Umberto Eco gelesen. Wir haben nicht auf ihn gehört. Europa sähe anders aus. Syrien, der Nahe Osten und die anderen Staaten an den Küsten des Mittelmeeres auch." (Widmann in der "Frankfurter Rundschau")
Diese Zeilen sind zwar – zweifellos – mit allen Wassern der Rhetorik gewaschen: Sinn (im Sinne einer historischen Kongruenz) ergeben sich aber trotzdem nicht...
"Die Ursachen dieses gigantischen Zerfalls im Nahen Osten sind dermaßen komplex, dass es völlig unmöglich ist, sie von außen beseitigen zu können. ... Das sind Zerfallsprozesse, bei denen die meisten Eingriffe (siehe die beiden Irakkriege, Afghanistan und Libyen) die Sache nur noch schlimmer machen. ... Es ist viel erreicht, wenn man das eigene Haus wenigstens notdürftig bewahrt." (Safranski: "Politischer Kitsch")
Und noch eine Parallele 1914/2015: Am Tag des Sarajewo-Anschlags auf das Thronfolgerpaar, am 28. Juni 1914, bewegte sich dieses in einer Limousine auf eine große Menschenmenge zu, ohne Leibwache: Irrtümlicherweise war der diensthabende Offizier in ein anderes Auto gestiegen, seine Polizisten am Bahnhof zurücklassend.
Das Thronfolgerpaar wähnte sich in trügerischer Sicherheit, ganz voreingenommen von den vorherigen leutseligen Urlaubserfahrungen (im Ferienort Ildize, dem Einkaufsbummel über den Bazar in Sarajewo, wo sie bereits der Attentäter Princip beschattet hatte). Noch am Vorabend des Anschlags hatte die Gattin von Franz Ferdinand die Warnungen des bosnischen Kroaten-Führers Sunaric in den Wind geschlagen: "Wo immer wir waren, hat uns jeder bis zum letzten Serben mit solcher Freundschaftlichkeit ... begrüßt, dass wir über unseren Besuch sehr glücklich sind." (Clark: "Die Schlafwandler")
Am 10. September 2015 machte Bundeskanzlerin Merkel in Berlin ein Selfie mit einem Syrer inmitten einer Refjutschie-Crowd; sie wirkt auf dem Foto wie eine verlegene Hochzeitsbraut… Knapp vier Monate später bezeichnete sie die Silvesterübergriffe in Köln als "verheerend".
Dazwischen liegen 101 Jahre und 13 Tage… Die historische Frage bleibt dieselbe: "Warum verhielten sich jene Männer, deren Entscheidungen Europa in den Krieg führten, ausgerechnet so ...? Wie lassen sich das Gefühl der Angst und die dunklen Vorahnungen ... in Einklang bringen mit der Arroganz und Prahlerei, ... häufig zum Ausdruck gebracht durch ein und dieselbe Person?" (Clark)
Die Männer von damals sind in die zweite Reihe gerückt; vorne teilt eine neue Femo-Heilsverkünderin die Botschaft aus: "Wir schaffen das!" Doch ist die Welt unter feministischer Ägide keine bessere, sondern nur eine andere geworden. Die Schlafwandler werden nun von einer weiblichen Somnambulen angeführt: "Der Schlaflose hält die Augen geschlossen, als wolle er die kühle Grabesfinsternis, in der er liegt, nicht sehen. Dennoch fürchtend, dass die Schlaflosigkeit in ganz gewöhnliches Wachsein umschlagen könnte." Und weiter: "Groß ist die Angst dessen, der erwacht ..." (Hermann Broch: "Die Schlafwandler" – 1930 / 32)
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Dr. Elmar Forster ist Lehrer und lebt(e) seit 1992 als Auslandsösterreicher in Ungarn, Prag, Bratislava, Polen, Siebenbürgen (Rumänien).