Recht auf Schulbildung als Asylgrund? Ein Meisterstück des Verfassungsgerichtshofs

Mit einer Ende November ergangenen Entscheidung über eine afghanische Familie (nachzulesen hier) öffnet der Verfassungsgerichtshof alle Schleusen, um Migranten aus instabilen, islamistisch bedrohten Drittweltländern Asyl in Österreich zu ermöglichen: Sämtliche negativen Asylbescheide der Vorinstanz wurden aufgehoben, weil diese die angeblich nicht gegebene Möglichkeit zur Schulbildung der Töchter nicht ausreichend gewürdigt habe.

Die fünfköpfige Familie hatte, wie aus dem Erkenntnis des VfGH hervorgeht, im Oktober 2015 in Österreich Asyl beantragt. Als Gründe wurden genannt: Die Bedrohung durch die Taliban in ihrer Herkunftsregion innerhalb Afghanistans sowie ein Cousin, der die Töchter verheiraten beziehungsweise "für andere Zwecke verkaufen" wolle. Ferner, jedoch keineswegs prioritär, dass den Töchtern in ihrer Region kein Schulbesuch möglich gewesen sei.

Eigene Fluchtgründe der Kinder (die einen Asylanspruch auch der Eltern nach sich ziehen) wurden von den Eltern verneint. Zu den vorgebrachten Fluchtgründen bemerkte die Mutter in einer Einvernahme sogar: "Die Bedrohung durch die Taliban und den Cousin meines Mannes war nicht so groß, wir wollten ein besseres Leben führen." Dennoch wurde der Familie Anspruch auf subsidiären Schutz gewährt.

Das genügte der Familie offenbar nicht. Sie wollte Asyl. Das Bundesverwaltungsgericht als Vorinstanz hatte diesbezüglich nicht nur die Bedrohung durch die Taliban sowie den Cousin als zu vage kritisiert, sondern zu der Frau auch bemerkt, dass keine Anhaltspunkte für eine "westlich orientierte" bzw. selbstbestimmte Lebensweise vorliegen. Wörtlich: Sie lege "kein Verhalten beziehungsweise keine Denkweise an den Tag, das beziehungsweise die sich von in Afghanistan lebenden Frauen unterscheide und ein größeres Gefährdungspotenzial mit sich bringen würde."

Wir haben es also offenbar mit einer "durchschnittlichen" afghanischen Familie zu tun, die weder aus ethnischen noch aus religiösen oder politisch-weltanschaulichen Gründen verfolgt wird. Schon gar nicht vom afghanischen Staat und dessen Behörden. Im Gegenteil: Der afghanische Staat konnte die Taliban und andere islamistische Gruppen zurückdrängen, auf dass auch die zwischenzeitlich wieder prekärer gewordene Sicherheitslage nur einzelne Regionen des Landes betrifft. 

Auch in Hinblick auf eine Anhebung des Bildungsniveaus, speziell für Mädchen, wurden große Anstrengungen unternommen. Immerhin, so liest man in dem Erkenntnis des VfGH, seien bereits vierzig Prozent der Schüler Mädchen. Dies scheint dem VfGH allerdings zu wenig: Für Frauen sei "die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden." (Was auch immer "vollständig" bedeuten mag!)

Was als potentielle Bedrohung bleibt, sind gelegentliche gezielte Angriffe islamistischer Gruppen gegen Schulen und Lehrer. Aber nur in einzelnen Regionen des Landes! An weiteren Hindernissen am Schulbesuch speziell von Mädchen zitiert der VfGH einen "Mangel an weiblichen Lehrkräften und weite Entfernungen zur nächsten Schule". Wenn das kein Asylgrund ist! (An dieser Stelle wäre man geneigt zu fragen, ob mit dem Argument einer weiten Entfernung zur Schule nicht auch deutsche Bürger aus dem hintersten Hochschwarzwald Asyl in Österreich beantragen könnten.)

All das Genannte habe das Bundesverwaltungsgericht verabsäumt, in die Reflexion mit aufzunehmen. In der Begründung "der die Dritt-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen" (sprich: die Kinder) betreffenden Erkenntnisse habe das Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen der fehlenden Bildungsmöglichkeiten in ihrer Heimatprovinz in Afghanistan erst gar nicht auseinandergesetzt. (Sprich: In den Erkenntnissen betreffend die Eltern sehr wohl!)

Was die unzureichende Konkretion der Bedrohung durch die Taliban sowie den Cousin betrifft, hätte das Bundesverwaltungsgericht laut VfGH aktiv darauf hinwirken müssen, dass lückenhafte Angaben vervollständigt werden. (Man lernt: Unvollständige Angaben zu behaupteten Fluchtgründen gehen nicht mehr zu Lasten des Antragstellers. Was in manch anderen Fällen das erhebliche Risiko mindern wird, Details einer behaupteten Flucht beim Anhörungstermin A anders zu schildern als beim Anhörungstermin B und hierdurch unglaubwürdig zu werden.) 

Namentlich durch das Unterlassen eines Ermittlungsverfahrens betreffend die Schulbildung der Kinder habe das Bundesverwaltungsgericht das "Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander" und hierdurch das internationale Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung verletzt. Auch dies muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Im Grunde genommen habe die Vorinstanz "rassisch diskriminiert", indem sie einer Familie, die keineswegs "rassisch" noch sonstwie im Sinne der Genfer Konvention verfolgt wird (sondern schlicht in einem rückständigen Land lebt), Asyl verweigert hat.

Natürlich ist mit der Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanz nicht gesagt, dass die Familie nunmehr Asyl erhalten würde. Man ersieht jedoch überdeutlich, dass es keiner "klassischen", gegen eine bestimmte Person oder Gruppe gerichteten Verfolgungsszenarien mehr bedarf, um Asyl erhalten zu können. Selbst wenn die Taliban den Schulbesuch der Töchter aktiv torpedieren, würde die Familie nicht aufgrund eines abweichenden religiösen Bekenntnisses verfolgt. (Ohnedies bleibt angesichts der weitschweifenden Argumentation des VfGH diffus, wieweit die mangelnden Bildungsmöglichkeiten erst im Zusammenhang mit der Bedrohung durch islamistische Gruppen einen Asylgrund abgeben können.)

Allemal reicht es offensichtlich, in der Herkunftsregion derartige Umstände vorzufinden. Diese Auslegung der Genfer Konvention versteht sich keineswegs von selbst. Die Situation ist denn auch relativ neu, weil in "klassischen" Verfolgungshandlungen eines Staates gegen eine Gruppe mit dem Staat als Akteur sogleich ein gesamtes Staatsgebiet "Verfolgungsgebiet" ist.

Und so fragt man sich vor allem: Warum um Himmels willen ist es der betroffenen Familie nicht zumutbar, innerhalb Afghanistans den Wohnort zu wechseln, wenn den Eltern der Schulbesuch ihrer Töchter so sehr am Herzen liegt? In den meisten Regionen Afghanistans ist der Einfluss der Taliban geschwunden, und mindestens in Kabul, der Hauptstadt, gibt es höhere Schulen auch für Mädchen.

Zu einer möglichen Rückkehr nach Afghanistan bemerkt übrigens der Vater: "Meine Töchter können auf keinen Fall nach Afghanistan zurückkehren. Sie sind frisch auf den Geschmack der Freiheit gekommen. Wenn man ihnen das wegnimmt, vernichtet man sie." Ein nach der Flucht gesetztes Verhalten, das eine Rückführung rechtlich unmöglich macht, ist ein solches auf den Geschmack Gekommensein allerdings nicht.

Kommen wir zum Schluss: Es erhellt von selbst, was diese Entscheidung des VfGH weit über ähnlich gelagerte Fälle hinaus in Hinblick auf möglichen Missbrauch bedeuten kann: Wer (verständlicherweise!) Afghanistan in Richtung Westen verlassen möchte, muss lediglich glaubhaft machen, aus einer unruhigen Region Afghanistans zu stammen und ein Mädchen mit sich führen, welches die Tochter sei. Schon jetzt gibt es in manchen gängigen Herkunftsländern der Asylwerber Orte, deren Einwohnerzahl weit unter der Anzahl derjenigen liegt, die dort aufgewachsen sein wollen.

Aber vielleicht ist es alsbald schon ein Asylgrund, wenn es in einem Bergdorf Afghanistans kein öffentliches Verkehrsmittel gibt oder ein solches nur einmal am Tag fährt. Oder wenn das Lohnniveau Äonen unter dem österreichischen liegt. Man wird darauf vertrauen dürfen, dass der VfGH auch in diesem Fall einen möglichen Asylanspruch herbeiargumentieren kann.

Dr. Wilfried Grießer (geboren 1973 in Wien) ist Philosoph und Buchautor. Zuletzt erschienen: Flucht und Schuld. Zur Architektonik und Tiefenstruktur der "Willkommenskultur". Ares Verlag, Graz 2017.

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