Ist Deutschland ein souveräner Staat?

Mit dem Vertrag von Lissabon wurden der Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) reformiert. Am 13. Dezember 2007 haben 27 Mitgliedsstaaten der EU diesen Vertrag unterschrieben. Am 1. Dezember 2009 ist er in Kraft getreten.

Ziel der Verfasser dieses Vertrages war es, einen supranationalen Staat zu schaffen, in dem die nationalen Parlamente nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Hierzu zählen ein Staatsoberhaupt, ein Außenminister, ein allmächtiges Parlament und eine gemeinsame Verfassung. Die Vordenker dieses supranationalen Staates glauben, damit die Antwort auf Kriege, Unruhen und nationale Überheblichkeit gefunden zu haben. Der durch den Euro hervorgerufene soziale Unfrieden und der wiedererwachte Hass gegen Deutschland in vielen Ländern Europas dürften doch eher nachdenklich stimmen. Mit dem Vertrag von Lissabon hat man, wie nachfolgend gezeigt wird, das Ziel noch nicht ganz erreicht.

Durch diesen Vertrag wurden zwei neue Spitzenämter geschaffen: dasjenige des Präsidenten des Europäischen Rates und das des "Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik". (Die Staatsoberhäupter Europas bestanden darauf, dass Letzterer sich nicht "Außenminister" nennen durfte.)

Über den 2004 von den Politikern unterzeichneten EU-Verfassungsvertrag wollte man sämtliche gültige EU-Verträge aufheben (Art. IV‒ 437 EUVV). An ihrer Stelle sollte dann ein einheitlicher Text mit der Überschrift "Verfassung" stehen. Der Verfassungsvertrag scheiterte jedoch am erheblichen Widerstand in Frankreich und den Niederlanden. Das deutsche Volk wurde einmal mehr nicht befragt.

Relativ unbeeindruckt vom Willen der Franzosen und Niederländer setzten Funktionäre in Brüssel und hochrangige Politiker ihren Weg fort, auch wenn es über einen Umweg ging: Man arbeitete die Substanz des Verfassungsvertrages in das bereits bestehende Vertragswerk ein.

Weitere wichtige Neuerungen sind die

"erstmalige Auflistung der EU-Kompetenzen, die Ausdehnung der Befugnisse des Europäischen Parlaments und von Mehrheitsentscheidungen, die verstärkte Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips durch die nationalen Parlamente sowie die erstmalige Möglichkeit von Bürgerinitiativen [...] Europäische Union und Europäische Gemeinschaft werden zu einer einzigen Rechtspersönlichkeit verschmolzen, die Europäische Union heißt."

Die EU hat aber nicht den Status eines Staates. Das deutsche Bundesverfassungsgericht wies im Lissabon-Urteil darauf hin, dass diese lediglich ein "Verbund souveräner Staaten unter Geltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung" sei.

"(3) Die Charta der Grundrechte wird nicht als Text in den Vertrag übernommen, wohl aber wird sie durch den Vertrag anerkannt und damit auch verbindlich. (4) Das Europäische Parlament wird gleichberechtigter Mitgesetzgeber neben dem Rat."

Die Gesetzgebungsbefugnis des Parlamentes ist mit dem Vertrag von Lissabon auf mehr als 40 Bereiche erweitert worden. Die nationalen Parlamente sind also um diese Kompetenzen entmachtet worden. Besonders bei der Innen-, Rechts- und Verteidigungspolitik geht es ums Eingemachte.

Das propagierte Subsidiaritätsprinzip (Unabhängigkeitsprinzip) soll der Bonbon für die entgangene Macht sein und funktioniert folgendermaßen: Falls ein nationales Parlament einen Verstoß gegen seine nationalen Kompetenzen sieht, kann es innerhalb von acht Wochen gegen den beabsichtigten Rechtsakt der EU Einspruch erheben. Bemerkt es die Gesetzesänderung nicht oder begreift nicht die Tragweite, kann dies fatale Folgen für das betreffende Land haben.

Damit verliert der Bürger weitgehend die Möglichkeit zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft. Erinnert sei an Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Dieser Mangel lässt sich nicht durch das eingeführte Europäische Bürgerbegehren ersetzen, mit dem 1 Million Menschen aus verschiedenen Mitgliedsstaaten die Europäische Kommission zwingen können, sich mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen. Zudem gibt es die Unabänderlichkeitsklausel des Artikels 79 Absatz 3 GG: "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig."

Die EU ist "im vereinfachten Änderungsverfahren" durch Beschluss des Europäischen Rates ermächtigt, fast das gesamte Vertragswerk ganz oder teilweise zu ändern (außer Außen- und Sicherheitspolitik). Der Vertrag von Lissabon sichert der EU außergewöhnliche Vollmachten zu, was bei mir ein gewisses Unbehagen auslöst. Es erinnert mich an Ermächtigungsgesetze, die es in Deutschland seit 1914 reihenweise gab.

Im Vertrag von Lissabon werden die fünf "Grundfreiheiten" des Kapitalprinzips (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungs-, Kapitalverkehrs-, Niederlassungs- und Warenverkehrsfreiheit) besonders betont. Hingegen werden die sozialen Aspekte dem System der "offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" untergeordnet. Das wird sich auf die Lebensverhältnisse der in der EU lebenden Bürger auswirken bzw. hat sich schon ausgewirkt. In der EU-Grundrechte-Charta wird die Sozialpflichtigkeit des Kapitals, anders als im Grundgesetz, nicht erwähnt.

Der Korrektheit halber sei darauf hingewiesen, dass im Grundgesetz nicht das Wort "Kapital" verwendet wird, sondern der Begriff "Eigentum". So heißt es in Artikel 14 Absatz 2 GG: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." In diversen Rechtsprechungen des Bundesverfassungsgerichts wird das Eigentum als ein elementares Recht in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung betont.

Dort wurde aber auch klargestellt, dass nicht jedes Eigentum einer sozialen Bindung unterliege, vielmehr nur solches, das eine soziale Relevanz habe. Während in Artikel 23 der UN-Menschenrechtscharta das Recht auf Arbeit betont wird, fehlt es in der EU-Grundrechtecharta. Im Grundgesetz fehlt es allerdings auch! In Deutschland ist in den Artikeln 20 und 28 GG das Sozialstaatsprinzip rechtlich verankert und durch die Ewigkeitsklausel (Artikel 79 Absatz 3 GG) geschützt. Im Lissabonner Vertrag wird hingegen eine glatte Umkehrung dieses Prinzips vollzogen. Der freie Wettbewerb findet auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit statt. Um es etwas zugespitzt zu formulieren: Mit dem Vertrag von Lissabon wird das Sozialstaatsgebot des GG ausgehebelt.

Ein weiterer Streitpunkt ist das Thema "Recht auf Leben". So wird in der Charta der Grundrechte unter Punkt 2 bei der "Erläuterung zu Artikel 2 – Recht auf Leben" auf die Abschaffung der Todesstrafe hingewiesen, aber unter Punkt 3 schon wieder relativiert. Dort werden Fälle genannt, in denen eine Tötung nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet wird. Auch wenn Deutschland und Österreich kurz nach der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon das 13. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 3. Mai 2002 ratifiziert haben, das die Todesstrafe ausnahmslos sowohl in Friedenszeiten als auch für Kriegszeiten verbietet, so hat diese EU-Regelung eine gewisse Brisanz, denn sie gilt nach wie vor. Der Drohnenkrieg lässt grüßen!

Bevor auf die gerichtlichen Auseinandersetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht eingegangen wird, soll der Vollständigkeit halber auf eine wichtige Regelung hingewiesen werden: Artikel 50 des EU- Vertrages ist ein Novum, weil er erstmals den Austritt eines Staates aus der Europäischen Union regelt. Hiermit wird der bisherige Schwebezustand, ob es ein Austrittsrecht gibt oder nicht, endlich beendet.

Nach Artikel 50 Absatz 1 kann jeder Staat im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Vorschriften die Mitgliedschaft in der EU aufkündigen.

Als am 23. Mai 2008 der Bundesrat den Vertrag von Lissabon unterschrieb, reichte der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, aber auch die Linken, eine Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Der Staatsrechtsprofessor Karl Albrecht Schachtschneider verfasste für Gauweiler die Klage. Wegen einiger Meinungsunterschiede zwischen Gauweiler und Schachtschneider setzte Prof. Dietrich Murswiek die Klage fort und fertigte zusätzliche Gutachten und Schriftsätze an. Am 30. Juni 2009 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil: Der Vertrag von Lissabon und das Zustimmungsgesetz entsprechen den Vorgaben des Grundgesetzes. Allerdings wurde angemahnt:

"Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf jedoch nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedsstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt."

"Ausreichend" ist ein sehr dehnbarer Begriff! Zum nach wie vor bestehenden Demokratiedefizit der EU äußerte sich das Bundesverfassungsgericht eher zurückhaltend:

"Der Vertrag von Lissabon führt [die Union] nicht auf eine neue Entwicklungsstufe der Demokratie."

Bei der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichtes (BVG) am 10. und 11. Februar 2009 zum Vertrag von Lissabon sprach der damalige Bundesverfassungsrichter Prof. Di Fabio unter anderem von der "manchmal etwas unklaren Kompetenzverteilung" zwischen nationalen und europäischen Institutionen. Im Abschnitt 2c) der Pressemitteilung Nr. 72/2009 vom 30. Juni 2009 legte das Bundesverfassungsgericht die Kernkompetenzen des deutschen Staates fest. Hierzu zählen "die Strafrechtspflege, die polizeiliche und militärische Verfügung über das Gewaltmonopol, fiskalische Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben, die sozialpolitische Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell bedeutsame Entscheidungen wie Erziehung, Bildung, Medienordnung und Umgang mit Religionsgemeinschaften." Allerdings lässt das BVG mit nachfolgendem Satz wieder Unschärfen zu: "Sofern in diesen besonders demokratiebedeutsamen Sachbereichen eine Übertragung von Hoheitsrechten überhaupt erlaubt ist, ist eine enge Auslegung geboten."

Es wurde auch die Beschönigung der demokratischen Verhältnisse durch den Vertragstext beanstandet. Im Lissabon-Urteil wurde weder auf die Aushebelung des Sozialstaatsprinzips noch auf das unzureichende Verbot der Todesstrafe eingegangen.

Für politisch interessierte Menschen, die trotz permanenter Diskreditierung des Nationalstaates durch bestimmte Kräfte an diesem festhalten und sich mit diesem identifizieren, bewegt sich die Bundesregierung Deutschlands mit ihrer Abgabe von Kompetenzen an die EU haarscharf am Rande zur Illegalität. Manche Personen sprechen gar vom Verrat am eigenen Volk. Die Politiker wussten sehr wohl, wie brisant diese Angelegenheit ist. So kam es in der Vergangenheit immer wieder zu einem skurrilen Schauspiel: Berlin und Brüssel schoben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu, wer die souveränitätsverletzenden Gesetze/Verträge auf den Weg gebracht habe. Im "Spiegel" gibt es ein aufschlussreiches Zitat von Jean-Claude Juncker:

"Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."

Dirk Koch, Verfasser dieses Artikels, hatte wohl schon eine dunkle Vorahnung und schrieb, dass die Brüsseler Funktionäre beim Bau des Bundesstaates Europa nach derselben (demokratiefeindlichen) Methode weiter vorgehen würden. Der Artikel erschien wohlgemerkt ungefähr zehn Jahre vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon!

Im Jahre 2009 führte die Schweizer Wochenzeitschrift "Zeit-Fragen" zu diesem Thema ein Gespräch mit dem österreichischen Staatsrechtler Prof. Dr. Hans Richard Klecatsky. Zur Vorgehensweise von Vertretern der EU sagte er:

"Diese Erschleichungspraxis wurde und wird nun weiter und jetzt im völkerrechtlichen Bereich geübt. Sie ist da nicht minder rechtsstaatswidrig, weil sie mangels einer irgendwie erkennbaren Finalität für die Mitgliedsstaaten und in ihnen Rechtsunsicherheit in Potenz und Permanenz stiftet, also nicht nur da oder dort Unrecht schafft, sondern überhaupt ein richterstaatliches Herrschaftssystem in rechtswidriger Konkurrenz zu den europäischen Rechtstraditionen darstellt!"

Er weist auch auf die Auswirkung auf die Neutralität Österreichs hin. Am klarsten sehe man es im militärischen Bereich. So verpflichtet der EU-Vertrag zur militärischen Aufrüstung mit allen Mitteln und zum Einsatz österreichischer Soldaten in Drittstaaten im Kampf gegen den "Terror" und enthält eine Beistandsverpflichtung im Falle eines Angriffs auf einen Mitgliedsstaat der Union.

"Das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die immerwährende Neutralität Österreichs ‚nach Schweizer Muster‘ steht nach wie vor in voller Geltung, und es kann gegenwärtig rechtsgültig weder geändert noch beseitigt werden, auch nicht durch eine Volksabstimmung nach Art. 44 Abs. 3 B-VG. [...] Und ich will nicht, dass Österreich unter- oder in etwas aufgeht. Im Schleichprozess, der keine Rechtskraft kennt, hilft dem Kleineren auch keine Subsidiaritätsklausel."

Das ausführliche Gespräch mit Prof. Klecatsky ist im Anhang abgedruckt.

Der Vertrag von Lissabon wirkt sich auch auf das kleine Südtirol aus. Durch den Pariser Vertrag, aber auch durch das Aufbegehren der Südtiroler in den 1950er- und 1960er-Jahren gegen die italienische Fremdbestimmung ist das Land mit einigen Rechten und Kompetenzen ausgestattet worden. Die Südtiroler kämpfen um jedes einzelne Zugeständnis. Jedoch seit der italienischen Verfassungsreform im Jahre 2001 schmelzen die Kompetenzen dahin.

Alt-Senator und Verfassungsrechtler Roland Riz sagte am 13. März 2015 gegenüber der Tageszeitung "Dolomiten": "Es geht abwärts, das Meiste ist eh schon kaputt!"

Zum einen liegt es daran, dass den Zentralisten, Nationalisten und Faschisten in Rom die Autonomie Südtirols ein Dorn im Auge ist. Prof. Walter Obwexer von der Universität in Innsbruck, der im Auftrag der Südtiroler Landesregierung die Entwicklung der Autonomie untersuchte, fand heraus, dass an dem Kompetenzschwund auch die EU schuld ist. Das einstige Motto "Einheit durch Vielfalt" wird durch den Vertrag von Lissabon offenbar konterkariert. Dieser Vertrag ist allem Anschein nach minderheitenfeindlich!

Das Werk von Wolfgang Schimank "Ist Deutschland ein souveräner Staat?" ist erschienen im AnderweltVerlag www.anderweltverlag.com. Es ist auch auf Amazon erhältlich.

Der Autor ist Deutscher, EDV-Spezialist und auf Grund der Zugehörigkeit seines Vaters zur bedrohten sorbischen Volksgruppe und als ehemaliger Mitkämpfer der DDR-Bürgerrechtsbewegung in Sachen Minderheitenschutz besonders engagiert.

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