Kinder waren immer, als schutzbedürftige Glieder ihrer Familien, Opfer von Kriegen und anderen Katastrophen. Zu einem für viele Kinder besonders entscheidenden Ereignis kam es vor genau hundert Jahren. Eine mächtige Auflehnung gegen Willkür, Machtmissbrauch, Übermut der Mächtigen, Unterdrückung der benachteiligten Menschen hatte Erfolg – die russische Revolution. Sie führte zu katastrophalen Zuständen und brachte Elend, Unterdrückung, Hungersnöte und Millionen Tote. Besorgt blickten viele Europäer nach dem sowjetischen Riesenreich. Sie fürchteten ein Übergreifen dieser gewalttätigen Ideologie auf ihre Völker.
Andere wünschten sich ähnliche Revolutionen, die den Massen zur Macht verhelfen sollten. Sie wurden enttäuscht, denn nur in Ungarn (unter Bela Kuhn), der Slowakei und in einigen Städten (in München unter Kurt Eisner) kam es zur Bildung der Räterepubliken, welche die "Reaktion" der bürgerlichen Kräfte allerdings nicht lange überlebten. Die breite Unterstützung der Massen blieb aus. Unter anderem aus folgendem Grund:
Die Familien brachten in der Absicht, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, ihnen Manieren, Disziplin, Lerneifer und Ausdauer bei. Diese Eigenschaften führten zu beruflichem Erfolg, guten Karrieren und gesellschaftlichem Aufstieg. Jetzt aber wurden viele junge Leute bürgerlich, gingen den proletarischen Massen abhanden. Was konnte man gegen diese Verluste tun?
Einige hochgebildete marxistische Philosophen, Soziologen und Psychologen befolgten Lenins Vorschlag: "Wer die Gesellschaft – zu einer kommunistischen – verändern will, muss die Familie zerstören." Aber wie geht man die Sache an?
Als die "Hauptschuldige" an diesem Dilemma orteten sie die Mütter. Sie sind es, die ihrem Nachwuchs diese Tugenden beibringen. Sie wecken die Kinder morgens rechtzeitig, machen ihnen ein Frühstück (ohne dieses lernen Schüler signifikant schlechter, kommen erst nach der Jause in der großen Pause auf Touren), lassen Schulschwänzen nicht zu, kontrollieren das Lernen und die Hausaufgaben und vieles mehr. Sie tun dies, bis der präfrontale Cortex im Stirnhirn wächst (seine Ausbildung wird durch Alkoholmissbrauch behindert), der die Jugendlichen befähigt, selbst Eifer, Zielstrebigkeit, Disziplin und Planung zu entwickeln. (Die Väter machen da wohl mit, aber die Mütter sind die besseren Erzieher).
Und wie hindert man die jungen Frauen an ihren Bemühungen um ihre Kinder? Indem man sie in den Vollberuf schickt, der sie acht und mehr Stunden am Tag von ihren Sprösslingen entfernt. Versprochen hat man ihnen berufliche Entfaltung, Selbstverwirklichung, eigenes Geld (das meistens für den Kindergarten und das Auto aufgeht).
Sie wurden mit dem dummen Sager "eine Stunde am Tag genügt für die Kinder" beruhigt. Diese Demagogen meinten, die oft alleingelassenen Kinder würden in der Folge wenig erreichen, und würden wohl zu den revolutionären Massen stoßen. Man nahm "eine Entwicklung bis an die Grenzen der Verwahrlosung" in Kauf. Das Paradies der Werktätigen war nahe, die gewaltsame Weltrevolution in Sicht.
Das Ergebnis dieser Manipulation der Familien ist dürftig: Die Weltrevolution blieb, zur allgemeinen Erleichterung, aus. Aber viel zu vielen jungen Menschen geht es nicht gut. Sie werden viel zu früh aus der Familie in Kinderkrippen gebracht, noch während sie fremdeln (Angst vor Unvertrauten im 2. Lebenshalbjahr). Die Orang-Utan-Mutter – zu über 98 Prozent mit dem Menschen genetisch verwandt – entlässt ihr Junges erst mit acht Jahren!
Viele Kinder werden der Deprivationstrias ausgesetzt: Sie leiden
- ihr Leben lang unter mehr Angst, weil sie die beruhigende Mutter und den schützenden Vater, ja die ganze Familie, zu oft vermisst haben;
- unter einem erhöhten Aggressionspotential, weil sie sich selbst verteidigen müssen; und
- unter Kontaktscheu, weil sie wohl zu wenige erfreuliche, ermutigende Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht haben.
Der Däne Jesper Juul fand bei 20 Prozent dieser Kinder infolge der zu frühen Trennung bleibende Schäden am Gehirn.
Sie kommen in zu frühem Alter für zu viele Stunden am Tag in den Kindergarten. Dort gibt es zu wenige Kindergärtnerinnen, ein bis zwei für oft 25 Kleinkinder (und fast keine männlichen Kindergärtner). Diese bemühen sich redlich und aufopfernd, können aber wohl nicht immer den vielen verschiedenen Bedürfnissen nachkommen. Der Kindergarten wäre erst ab dem vierten Lebensjahr und dann für maximal vier bis fünf Stunden am Tag ein Segen – dann auch ein Muss.
Es kann kein Zufall sein, wenn es die "Muttersprache" in weiteren Versionen gibt: englisch mothertongue, norwegisch und schwedisch mors-mål, materni jezik auf kroatisch, lingua materna auf italienisch, langue maternelle auf französisch, materinsčina bei unseren südöstlichen Nachbarn, oder mitriki glosa auf griechisch usw. Das Ungeborene hört schon ab etwa der 28. Schwangerschaftswoche, nimmt natürlich besonders die Stimme der Mutter wahr, imitiert sie (daher schreien deutsche Säuglinge mit Betonung am Anfang, französische Kinder am Ende!), und reagiert auf die Stimmen von fremden Frauen – nicht aber die des Vaters! (Wir Väter müssen da schon allerhand einstecken).
Im Sinn der emotionellen Botschaft der Mutter, spricht diese in hoher Stimmlage zu ihrem Säugling, sie macht Pausen (zum Festigen des Erlernten), intoniert übertrieben, betont die Schlusslaute. Die Frauen mit ihrer Freude am Sprechen sind die Sprachlehrer unseres Nachwuchses.
Jedoch wirkt sich heute die viel zu geringe Zeit, die den voll berufstätigen Müttern für ihre Kinder bleibt, bereits deutlich aus: Viele Kinder brauchen Nachschulungen, weil ihr Sprachschatz zu Ende des 2. Lebensjahres nicht über mindestens 50 Worte verfügt beziehungsweise zu Schuleintritt weniger als 5.000. Jetzt spätestens zeigt sich, dass "eine Stunde am Tag" nicht genügt!
Drei Viertel der Schulkinder wären nach dem Unterricht am Nachmittag lieber zuhause, Mädchen mehr als Buben. Im Kindergarten dürfte es wohl nicht anders sein, was aus den häufigen Konflikten der Kinder beim Abholen am späten Nachmittag wohl zu folgern ist: Ich habe mir nicht nur erzählen lassen, sondern auch selbst beobachtet, wie Mütter Fußtritte von empörten Kindern erhielten und angeschrien wurden: "Wo warst Du den ganzen Tag?"
Ein Viertel aller Schulkinder ist "beeinträchtigt durch chronische Leiden und psychische Belastungen". Es fehlen aber 80.000 Therapieplätze! Darauf, dass es die Mutter und die Familie sind, die zu wenig präsent sind, kommt man aber nicht.
Vielmehr gilt: Zuerst wird eine Schaden angerichtet, dann wird – unzureichend – zu therapieren versucht.
Da ist die Versorgung durch Tagesmütter wohl vorzuziehen, die nicht mehr als sechs Kinder betreuen, und wo sich – familienähnlich – die grösseren Kinder mit den kleineren abgeben. Aber, ist es wünschenswert, dass die Tagesmutter berührende Fortschritte eines Kindes, die ersten Worte, die ersten Schritte, den ersten Purzelbaum, als Erste erlebt und nicht die Eltern? Und dass die Bindung zwischen Eltern und Kindern schwach ist, diese Bindung, die stark sein muss, wenn die Stürme der Pubertät über die Familie brausen? Eine Familie muss eine starke sein, um Halt, Hilfe, Korrektur, Orientierung zu bringen, die den kleinen Kindern Wurzeln gibt, den großen aber Flügel macht.
Studien haben erwiesen, dass der Erziehungsstil der Eltern sich leicht unterscheiden soll – was sich auch adoptierte Kinder gleichgeschlechtlicher Eltern wünschen. Väter dürfen strenger, ungeduldiger sein. Ihr Beitrag darf sich allerdings nicht auf Rügen und Strafen beschränken (Jean le Camus). Auch Jean Liedloff geht in ihrem Bestseller "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" eindringlich darauf ein.
Viele junge Leute spielen lieber mit ihrer Elektronik als mit dem Ball. Sie spielen weniger als eine halbe Stunde am Tag im Freien. Die Abnahme der körperlichen Aktivitäten führt zur erheblichen Abnahme von Kraft, Geschicklichkeit, Beweglichkeit und Ausdauer. Aber eine Zunahme gibt es ja doch, es ist die des – Körpergewichts.
Eine Qualität erscheint nie im öffentlichen Bewusstsein: Das ist die Familientauglichkeit. Kinder erlernen sie durch kleine Mitarbeit, Hilfen, Höflichkeit, Verzicht in ihrer Herkunftsfamilie. Sie bringen diese später als wertvolles Gut in ihre Partnerschaft ein.
Wenn die beruflich erfolgreichen Eltern später erkennen müssen, dass ihr Einfluss nicht reicht, der Druck der Gruppe ihres Kindes übermächtig ist, dass der Bandenführer – oft ein Mädchen – aggressiv und auch sadistisch die Einhaltung des Bandencodex erzwingt (Christa Meves), wenn Schulabbruch, Beschaffungskriminalität, Prostitution, Drogen drohen, dann ist es oft spät, zu spät.
Wie oft müssen wir doch lesen, dass etwa "zwei 14-jährige einer alten Frau die Handtasche rauben` oder "Halbwüchsige einem auf dem Boden liegenden Opfer Tritte auf den Kopf verpassen". Elektronische Kampfspiele können zugleich mit dem starken Anstieg der Sexualhormone die Aggressivität steigern. Das droht vor allem in einem Alter, in dem durch entwicklungsgerechte Umbauvorgänge im Gehirn der Jugendlichen Mitgefühl und das Verständnis für andere herabgesetzt sind.
In – scheinbar – harmlosen Fällen fördert stundenlanges Spielen mit den elektronischen Geräten eine Lese-, Schreib- und Rechenschwäche, die Jugendliche schlicht berufsuntauglich macht. Es gibt bereits junge Leute, die nach dem Schulabschluss geradewegs in das AMS gehen.
Wir alle können sehen, dass gut betreute Kinder ihren Weg gehen, die Schulen bewältigen, Berufe erlernen, zufrieden und glücklich sind, so wie wir es jedem Menschen wünschen. Gut betreut, das ist absolut unverzichtbar. Kinder erreichen ihre Ziele nicht aus Instinkt, sondern durch Vorbild, Anleitung, Hilfen, auch Strenge und Konsequenz. Oder, wie es mein hochgeschätzter Lehrer, Ernst Federn, einmal schrieb: "Wozu erziehen, die Kinder machen uns doch alles nach!" Was aber, wenn das Vorbild nicht da ist?
Noch nie in der Geschichte waren Kinder so gut ernährt, gekleidet, mit materiellen Dingen überschüttet, familiär aber unterversorgt.
Wünschen wir nicht jedem Kind das beste, glücklichste, erfolgreichste Leben? Es hat nur eines.
Dr. Gerd Seyerl, Kärnten, ist Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde.