Der Fall Weinstein - eine Lektion für uns alle?

Verfolgt man US-amerikanische Medien, dann ist der Fall Harvey Weinstein, der interessanterweise gerade dann publik wurde, als der Hurrikan Harvey nach Louisiana abgedreht hatte, ein ganz zentrales Thema in diesen Tagen. Und da es offenbar so viele (und so international bekannte) Opfer gibt, die sich nur zögerlich an die Öffentlichkeit wagen, hat dieser Missbrauchsfall das Potential, die Vereinigten Staaten noch länger massiv zu erschüttern. Nicht weil es sich dabei um ganz unbekannte Spielarten von Missbrauch handeln würde, ganz im Gegenteil, sondern weil eine sakrosankte Institution, nämlich Hollywood, betroffen ist.

Nach allem, was bisher bekannt ist, muss man konstatieren:

  1. Der Fall Weinstein ist weitestgehend wie nach einem global gültigen Muster-Drehbuch für sexuellen Missbrauch abgelaufen.
  2. Das erschütterte Staunen darüber, dass so etwas passieren konnte, ist mehr als unglaubwürdig, denn zu gut wissen wir mittlerweile aus unzähligen Beispielen, in welchen Biotopen Missbrauch bestens gedeiht.

Ohne Zweifel wird Missbrauch durch soziale Dynamiken extrem begünstigt, wie sie auch in Hollywood weit über die Causa Weinstein hinausgehend anzutreffen sind. Schon an der schieren Dimension dieses Falles und der Erkenntnis, dass es sich dabei wohl nur um die Spitze des Eisberges handelt, zeigt, dass sexueller Missbrauch global gesehen endemische Ausmaße angenommen hat. Missbrauch findet einfach statt: In staatlichen Heimen, Unternehmen, Institutionen, Kirchen, im Sport und der Kultur, in Freiwilligenorganisationen und NGO’s, you name it!

Prävention: Meist völlige Fehlanzeige!

Überraschung: Immer riesengroß!

Der Fall Weinstein lässt erneut nichts anderes als den Schluss zu, dass wieder einmal bestimmte Institutionen beziehungsweise Unternehmen kläglich darin versagt haben, den schwächsten Gliedern der Kette (primär jungen Frauen, aber auch jungen Männern), den Schutz und die Sicherheit zu geben, die unbedingt erforderlich gewesen wären, um schlimmste innere (und äußere) Verletzungen zu vermeiden. Kinder waren in Hollywood offenbar weniger betroffen. Also fällt die Ausrede weg, sexueller Missbrauch wäre ja allein ein Thema des Kinderschutzes.

ad a) So läuft es immer:

  1. Basis für Missbrauch ist eine Machtasymmetrie, ein Machtgefälle. Dabei ist sexueller Missbrauch eine Variante des Machtmissbrauchs, neben Korruption und narzisstischer Dominanz. In diesem Fall: Ein mächtiger Produzent auf der einen Seite, bestens vernetzt, Vertrauter von Präsidenten, erfolgreich, unantastbar, geachtet und gefürchtet, Herr über Karriere oder Scheitern über Sein und Nichtsein. Jemand, der sich seiner Macht sehr bewusst war und gewillt, diese für seine Absichten zu missbrauchen und den die Schicksale seiner Opfer, ihre Verletzungen und Traumata, völlig kalt ließen.

Auf der anderen Seite die Frauen, die als angehende Schauspielerinnen beim Produzenten und seiner "Besetzungscouch" vorbei müssen. Jung, unerfahren, sicher auch ein bisschen naiv. Im Versuch durch ihr Erscheinungsbild besonders auf sich aufmerksam zu machen, schön zu sein und anziehend, aber de facto oft sehr abhängig und allein, passten sie perfekt in das Beuteschema des Täters: "Die kann man ungestört missbrauchen, sie können und werden sich nicht wehren. Und wenn schon, das kriegen wir hin! Gefährlich sein könnten die alten, arrivierten und selbstbewussten Schauspielerinnen. Zu alt, um interessant zu sein, von denen lässt man besser die Finger."

Blöd gelaufen, wenn schließlich die jungen Opfer von einst dann selbst arriviert wurden und gefährlich waren, weil sie nicht vergessen haben. Weil sie den Punkt erreichten, an dem die mit einem Outing verbundene Scham weniger schmerzte als das Schweigen und als die dadurch immer größer gewordenen Gewissensbisse, als sie mitansehen mussten, wie der Täter sein Spiel ungehindert immer toller trieb.

  1. Der Täter wählt möglichst wehrlose Menschen als Opfer aus, um seine Taten zu verheimlichen oder um für den Fall, dass ein Opfer trotz aller Einschüchterungen und Drohungen doch einmal redet, zumindest gute Ausreden zu haben, wie: Sie hat ja mich verführt, seht, wie sie sich angezogen hat, sie wollte das ja, alles war einvernehmlich etc.
  2. Ist ein Opfer ausgewählt, wird die Tat geplant und der Täter lässt es ganz zufällig aussehen, sich plötzlich mit dem Opfer allein in einem Zimmer, einer Limousine etc. zu finden. Zufällig ist daran gar nichts, alles bestens orchestriert. Man nennt diesen Prozess auch "grooming", also das Herrichten und Vorbereiten der Situation und des Opfers beziehungsweise die Vernebelung der Wahrnehmung des Umfelds. Schlimm ist wieder einmal, dass andere dabei mitspielten und so die Rolle von Mittätern einnahmen.
  3. Opfer, die einem Täter so auf den Leim gegangen sind, finden sich in einer schier unentrinnbaren Falle: Sie schämen sich für das was vorgefallen ist und versuchen, es geheim zu halten. Zu schmerzlich waren die Erlebnisse und unerträglich wäre es, das zu offenbaren und damit für "Hinz und Kunz" zum Gesprächsstoff zu machen. Man ahnt ja, wie viele sich genüsslich den Mund über solche Nachrichten zerreißen würden. Insbesondere wenn man damit rechnen muss, dass es ja (darauf hatte der Täter ja besonderen Wert gelegt) keine Beweise für das gibt, was im stillen Kämmerlein geschehen ist und die hochbezahlten Anwälte des Täters nur darauf warten, so jemanden in der juristischen Luft zu zerreißen. Und dabei geht es doch um sehr intime Dinge, etwas, das dem abgebrühten Täter nichts ausmacht, aber ein junges und attraktives Opfer erneut zum Objekt der Begierde macht, wenn es publik wird. Also schachmatt!

Die englische Pionierin der Täterforschung, Hilary Eldridge, hat diese Missbrauchsspirale so beschrieben und damit klargestellt, wie gezielt Täter vorgehen. Damit hat sie aber auch klar gemacht, wie wenig die von Tätern vorgebrachten Entschuldigungsmuster, es sei halt passiert, ein Ausrutscher eben, der Realität widersprechen: 

Der Missbrauchszyklus

  • Missbrauchsphantasien, Vorüberlegungen
  • Bestehende Hemmungen werden durch innere Rechtfertigungen überwunden
  • Phantasie verstärkt sich (Missbrauchsproben in kleiner Dosierung)
  • Einkreisung des Opfers und Planung des Missbrauchs
  • Isolierung des Opfers, Behauptung von Komplizenschaft, Manipulation zur Verhinderung einer späteren Aufdeckung ("Wir zwei sind ein ganz besonderes Paar")
  • Bei sich bietender Gelegenheit = Missbrauch
  • weitere Manipulation, Unter-Druck-Setzen zur Verhinderung der Aufdeckung
  • Phantasie über den vergangenen und zukünftigen Missbrauch
  • Schuld/Angst
  • Selbstbeschwichtigung (Das mache ich nie wieder, ich komme damit schon durch!)
  • zurück zum Start und Planung neuen Missbrauchs.

Die Erfahrung lehrt, dass Täter aus diesem Kreislauf selbst keinen Ausgang finden – und das in der Regel auch gar nicht wollen.

ad b) Wer im Jahr 2017 über sexuellen Missbrauch staunt, hat alles verschlafen

Beeindruckend, wie auch in diesem Fall die berühmte "Schweigespirale" lief. Nicht nur dass jedem einigermaßen klar denkenden Menschen das dem System immanente Missbrauchs-Gefährdungspotenzial (hie mächtiger Producer – da junge Schauspielerinnen) bewusst sein musste. Viele – sehr viele – wussten dezidiert davon und noch viel mehr hatten über Jahre und Jahrzehnte sich immer stärker verdichtende Gerüchte gehört.

Manche handelten, doch es waren wenige, die potenzielle Opfer unter hohen persönlichen Risiken warnten. Die Macht des Handels lag bei denen, die dem Täter Opfer zuführten, ihn dabei unterstützten oder alles taten, um Opfer schweigen zu lassen – Gratulation. Doch auch das kennen wir von unzähligen anderen Fällen ebenso. Also nichts Neues unter der Sonne.

Besonders verwunderlich ist die Tatsache eines so umfassenden und weitläufigen Missbrauchssystems wenn man bedenkt, dass gerade Hollywood mit dem wirklich beeindruckenden und aufwühlenden Film "Spotlight", in dem es um die Aufdeckung von Missbrauch in der Diözese Boston geht, erst im Jahr 2016 völlig zu Recht den Oskar für den besten Film bekommen hat. Ohne die Vorfälle in Boston irgendwie beschönigen zu wollen, wie war denn das nun aus heutiger Sicht mit dem Glashaus und den Steinen, oder mit dem Splitter im Auge des Bruders und dem Balken im eigenen Auge, den man übersieht?

Bemerkenswert auch, dass Hollywood ja die wahrscheinlich einflussreichste Propagandainstitution der sogenannten sexuellen Revolution ist. Eine Revolution, die nicht die kolportierte sexuelle Befreiung aller gebracht hat, sondern die sexuelle Dominanz der Starken über die Schwachen. Prostitution, Pornographie, Menschenhandel, Missbrauch aller Art feiern unter dem Deckmäntelchen dieser neuen freien Sexualität fröhliche Urstände.

Im Zusammenwirken mit einer immer verwirrteren Genderideologie führt dies alles zu einer erheblich gesteigerten Missbrauchsmöglichkeit und -wahrscheinlichkeit. Nicht mehr "teile und herrsche" scheint das Erfolgsrezept zu sein, sondern "verwirre und herrsche".

Der Fall Harvey Weinstein und die Tatsache, wie weitverzweigt das Problem des sexuellen Missbrauchs in Hollywood eigentlich darüber hinaus zu sein scheint, ist ein sehr dunkles Kapitel. Gleichzeitig aber ist es eine schaurige wie beeindruckende Offenbarung, wohin dieser schöne neue Weg führt.

Bedrückend, dass es den meisten Menschen nicht gelingt, aus den unzähligen so klar auf der Hand liegenden Fällen für ihren eigenen Wirkungsbereich zu lernen. Warum das so ist? Wahrscheinlich primär, weil den meisten Menschen sexueller Missbrauch in ihrer Umgebung als nicht denkmöglich oder – wenn es hochkommt – doch als unvergleichlicher und einmaliger Einzelfall vorkommt.

So auch diesmal: Niemand von uns kennt wahrscheinlich einen Typus vom Format des Harvey Weinstein, soviel scheint sicher. Also lesen wir wieder einmal die Nachrichten und lehnen uns entspannt zurück: Kein Handlungsbedarf! Dabei wären gerade diese publizierten und lehrbuchhaften Fälle so gut geeignet, die Muster sichtbar zu machen, die bei Missbrauch ablaufen. Fast egal, ob im Großen und im Kleinen.

Sie erlauben mir eine Frage?

"Kennen sie eine Situation, in der ein erhebliches Machtgefälle besteht?"

Sie dürfen ruhig mit "ja" antworten, alles andere wäre wohl wenig realistisch!

Aber nun sind Sie selbst in die Falle gegangen, denn jetzt frage ich weiter: 

"Wurden geeignete Präventivmaßnahmen ergriffen, um in diesem Setting der latent bestehenden Missbrauchsgefahr möglichst gut zu begegnen?"

Wenn die Antwort "nein" lautet, dann habe ich keine Frage mehr, sondern eine Feststellung, und behaupte: 

"Hier haben Verantwortungsträger kläglich versagt und machen sich damit für eventuell auftretenden Missbrauch systemisch mitschuldig!"

Was heißt das alles nun für Sie und für mich?

Einerseits ist die Lehre aus der Causa Weinstein – und das ist nichts Neues: Hinschauen und nicht wegschauen! Und dann geht es darum, sich mit den sehr erstaunlichen Dynamiken des sexuellen Missbrauchs zumindest rudimentär auseinanderzusetzen, um nicht erneut furchtbar überrascht zu sein, wenn es wieder geschehen ist, sondern um präventiv zu handeln.

Wenn Sie das noch nicht getan haben, investieren sie zwei bis drei Stunden Zeit und befassen sich mit diesem Thema einmal etwas ausführlicher – Sie werden beeindruckt sein, was Sie finden. Nicht mit Nachrichten über Missbrauchsfälle, die ja meist nur sehr verkürzt sind. Lesen sie ein Buch darüber.

Mag. Johannes Leitner ist verheiratet und Vater von sechs Kindern. Er ist Leiter eines genossenschaftlichen Revisionsverbandes, Steuerberater und war langjähriger Leiter einer christlichen Laiengemeinschaft im Raum Wien. Er ist Mitautor des 2012 erschienenen Buches "Sexueller Missbrauch in Organisationen; Erkennen – Verstehen – Handeln"

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