Am 7. Juli 2017 hat Verteidigungsminister Doskozil den Ausstieg aus dem Eurofighter bekanntgegeben, am 13. Juli 2017 beendete der zweite parlamentarische Untersuchungsausschuss zu diesem Thema seine Arbeit. Grund genug, gerade jetzt vorlegende Texte zu veröffentlichen. Sie entstanden während des ersten Eurofighter-Untersuchungs-Ausschusses 2006/07 und stammen von einem Österreicher mit Heimat- und Verantwortungs-Bewusstsein und besten Verbindungen zum militärisch-ministeriellen Komplex. Es ist natürlich immer davon auszugehen, dass sich hier der Erkenntnis-Horizont von vor zehn Jahren widerspiegelt – was aber eher ein Vorteil ist, denn dadurch ist historische Authentizität gegeben. Alles ist original, es wurde nichts aus heutiger Sicht hinzugefügt. In dieser Folge wird mit den Legenden um die Neutralität aufgeräumt.
Die Papers sind dem "Tagebuch" von dritter Seite zugespielt worden und sind an dieser Stelle in loser Folge veröffentlicht worden.
Als Soldat hat man sich an die Vorgaben der Politik zu halten. Wenn das Land, dem man dient, neutral ist, hat man darüber zu wachen und alles dafür zu tun, dass diese wichtige Säule, auf dem das Staatsgebäude beruht, intakt bleibt. Doch Gedanken zu diesem Problem kann und muss sich gerade die Führung der Armee machen, die zwar zu blindem Gehorsam verpflichtet ist, aber nicht zu genereller Blindheit.
Man muss ja den politischen Auftrag verstehen, wenn man ihn richtig erfüllen will. In puncto Neutralität ist die Frage: was verteidigt man denn da überhaupt?
In der Öffentlichkeit – von den Schulen über die Medien bis zu den höchsten Kreisen der Politik – geistern immer wieder die abenteuerlichsten und absurdesten Vorstellungen über dieses Phänomen herum. Zunächst einmal ist eines sicher: die Neutralität hat etwas mit dem Völkerrecht zu tun. Dieses ist jedoch entgegen landläufiger Annahmen kein Vertragswerk, das einmal abgefasst wurde und nun wie das Urmeter in einem kühlen, trockenen Raum in Paris liegt, wo es jederzeit besichtigt werden und als Maßstab dienen kann. Ein Völkerrechts-Gesetzbuch, in dem man wie im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch oder im Strafgesetzbuch nachschauen könnte, gibt es nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Vielzahl von bi- und multilateralen Verträgen, Abkommen, Noten, Absichtserklärungen und Verlautbarungen.
Dieses Corpus ist nicht definiert, nicht kodifiziert, wird von keiner Institution supervidiert und sanktioniert. Es liegt vielmehr in den Archiven von Regierungen und supranationalen Organisationen herum und feiert an den Völkerrechtsinstituten von Universitäten in zyklisch abgehaltenen Vorlesungen fröhliche Urständ.
Ja: es kann sich bei diesen Gegenständen des Völkerrechts sogar um eine unilaterale Erklärung handeln, die einfach in die Welt gesetzt wird. Eine solche ist die österreichische Neutralität. Sie beruht auf einem am 26.Oktober 1955 verabschiedeten Gesetz, das aus ganzen zwei Absätzen besteht:
Artikel I.
(1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.
(2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen.
Artikel II.
Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.
Im Moskauer Memorandum, jenem diplomatischen Papier zwischen Österreich und der Sowjetunion, das den Weg zum Staatsvertrag freimachte, steht dann noch sozusagen als – vorweggenommene – Durchführungsbestimmung, dass diese Neutralität "der Art zu sein hat, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird". Interessanterweise war es damals gerade die SPÖ, die im Vorfeld dieses Memorandums die größten Vorbehalte dagegen hegte.
Diese Neutralitäts-Erklärung wurde daraufhin den damals bestehenden rund 50 Staaten der Erde zur Kenntnis gebracht, indem die jeweiligen Botschafter ein Papier überreichten, wo genau obige zehn Zeilen draufstanden. Die Empfänger dieser Nachricht haben dann höflich genickt, "very interesting" gemurmelt und das Papier zur Ablage an die Staatsarchive weitergegeben. Wenn besonders gute Beziehungen bestanden, gab's danach wahrscheinlich einen Cocktail. The same procedure as usual wiederholte sich dann bei den rund 150 weiteren Staaten, die seither zur Staatengemeinschaft dazugekommen sind.
"Kinder, so neutral kumma ma nimma mehr z'samm"
Diese etwas sarkastische Betrachtungsweise will eines verdeutlichen: Es bestehen keine internationalen Verträge, weder über diese unsere Neutralität noch über die irgendeines anderen Staates. Es gibt nur eine Zurkenntnisnahme, indem man ein Papierl eingesteckt hat. Das ist zwar mehr als nix, aber immer noch nicht sehr viel.
Die Erzählungen unserer Lehrer, Journalisten und anderer mit der öffentlichen Interpretation dieser Grundfeste unseres Gemeinwesens Beauftragter, dass das alles international abgesichert sei, sind also nichts anderes als Illusion. Gut gemeint zwar, aber schlecht recherchiert oder einfach von anderen übernommen, die sich selbst im Irrglauben der heiligen Neutralität verrannt hatten. Was wurde da nicht alles bona fide tradiert. Zum Beispiel, dass man als Neutraler keinem Militärbündnis beitreten darf. Das ist falsch. Wir haben das von uns aus gesagt. Dürfen tät man alles, einfach weil es keine Ge- und Verbote gibt.
Wie wichtig respektive unwichtig dieses Ding namens Neutralität ist, zeigt sich, wenn man das Phänomen von Österreich und dem großen Vorbild Schweiz entkoppelt.
Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man ist nur jeweils in einem bestimmten Konflikt oder einer bestimmten Situation neutral, oder aber man macht daraus eine außenpolitische Doktrin. Die Grenzen sind fließend, neutral ist jeder gerade so, wie er's braucht.
- Das gibt's etwa den alten Klassiker Schweden, der nach zweihundert Jahren seine Neutralität sanft hat entschlafen lassen: 2002 entschied die sozialdemokratische(!) Regierung, geomilitärische Bündnisse und Verteidigungspakte mit den Nachbarn und anderen Mitgliedern der Europäischen Union einzugehen.
- Finnland war während der Teilung Europas praktisch "neutral unter sowjetischer Aufsicht". Für derartige Konstruktionen wurde damals sogar der Ausdruck "Finnlandisierung" geprägt.
- Belgien, die Niederlande und Dänemark waren es einmal und kein Mensch hat sich darum im 1. und 2. Weltkrieg etwas geschert. Die Deutschen haben deren Neutralität mit Füßen getreten, und keine "Garantiemacht", sollte es so etwas überhaupt gegeben haben, kam zu Hilfe. Kein Wunder, dass diese Staaten nach dem Weltkrieg die Nase von der Neutralität voll hatten und schnellstens in die Arme der NATO geflüchtet sind.
- Neutral kann man auch sein unter eigener Verletzung seiner Neutralität. So wie etwa Spanien und Portugal im 2.Weltkrieg, die eindeutig neutralitätswidrige Handlungen gesetzt haben, indem sie Deutschland Häfen und Flugplätze und einiges andere zur Verfügung stellten. Von der Spanischen Legion im Russlandfeldzug gar nicht zu reden.
- Eine andere interessante Variante ist die unbewaffnete Neutralität. So gesehen in Mittelamerika. Dort hat Costa Rica 1983 angesichts der damaligen Verschärfung der Bürgerkriege in diesem Raum, insbesondere in Nicaragua, seine dauernde, aktive und unbewaffnete Neutralität verkündet. Die Armee selbst war schon 34 Jahre zuvor abgeschafft worden. Klingt gut, wenn man nicht weiß, dass da eine paramilitärische "Sicherheitsgarde" von an die 10.000 Mann existiert, das ist am Größenverhältnis des Landes gemessen eine völlig normale – Armee.
- Neutral kann man auch sein, wenn es kein Mensch weiß: wer außer ein paar Universitätsdozenten hätte vermutet, dass seit zwanzig Jahren auch unser EU-Partner Malta Neutralität und Blockfreiheit in der Verfassung verankert hat?
- In Asien wiederum gelten oder galten, in vielen Fällen ist das ja nicht so ganz klar, Nepal, Laos, Kambodscha und natürlich Indien als neutral. Das erinnert an die schönen Bilder der Treffen von Indiens Nehru, Jugoslawiens Tito und Indonesiens Sukarno etwa am See von Bled: Es war die sogenannte Achse der "Blockfreien", und was immer das auch sein sollte, neutral war es jedenfalls nicht.
- Zur neutralen Verwandtschaft gehört auch – man höre und staune – das bevölkerungsreichste Land der Erde. Allerdings durch keine Verfassungs-Artikel und diplomatischen Noten. China gilt einfach deshalb als neutral, weil es kein Militärbündnis mit anderen Staaten hat beziehungsweise solche Bündnisse historisch für die Sicherheit Chinas durch die Jahrtausende vernachlässigbar waren.
Man sieht, die Neutralität hat viele Gesichter. Und weil eben der Steckbrief fehlt, kann sie auch kaum jemand identifizieren.
Solidarität statt Neutralität
Das Gesicht unserer Neutralität ist schon nach vierzig Jahren runzlig geworden. Nach den für sie so fruchtbaren und glücklichen Zeiten des Kalten Krieges, in denen sie leuchtete und strahlte, aber gottlob nie herausgefordert wurde, kam mit der Aufhebung der Militärblöcke und der fortschreitenden Einigung – und Vereinheitlichung – des Kontinents die Gretchenfrage: Was fängt man mit diesem Sonntagsgesicht an?
Es boten sich a priori drei Möglichkeiten:
- die strikte Beibehaltung,
- die Aufgabe
- oder die sukzessive Aufweichung der Neutralität.
Es wurde natürlich – und das ist wahrlich nicht spezifisch österreichisch, solche Lösungen passieren in anderen Ländern genauso, einfach weil sie die bequemsten sind – der Weg des Durchlavierens gewählt. Eine Aufgabe der Neutralität konnte man sich wegen des dummen Wörtchens "immerwährend", und schon wegen des damit verbundenen Gesichtsverlusts, vor allem nach innen, gar nicht leisten. Und eine strikte Beibehaltung hätte zu einem Schweizer Weg geführt. Nur hat die Schweiz dazu die internationalen Verbindungen, das internationale Geld und zweihundert Jahre Friedensgeschichte, die sie in die Lage versetzen, sich zurückzulehnen und ihre splendid isolation in vollen Zügen auszukosten.
Obwohl wir inzwischen ja auch nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen sind, gibt es in Europa nur Platz für ein einziges reduit in dessen Mitte. Österreich hatte deshalb gar keine andere Wahl, als sich in den europäischen Einigungsprozess einzubringen. Der Preis dafür war die faktische Aufgabe der Neutralität, beginnend mit dem 1.Jänner 1995, dem Tag des EU-Beitritts.
Schweiz raus, Battle Groups rein
Denn erstens ist dadurch die österreichische Neutralität nicht mehr von jener "Art, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird". Die Schweiz will und kann eben nicht der EU beitreten, weil dadurch ihre Souveränitätsrechte in vielfältiger Weise eingeschränkt würden. Einerseits werden Agenda an Brüssel übertragen, andererseits hat EU-Recht in jedem Land der Gemeinschaft automatisch Vorrang vor nationalem Recht.
Zweitens und noch schwerwiegender ist damit die Tatsache verbunden, dass Österreich mit der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages einer im Aufbau befindlichen EU-Armee beigetreten ist. Das steht freilich in krassem Widerspruch zur wichtigsten Formulierung im Neutralitätsgesetz: "Österreich wird ... in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten". Und so beteiligen wir uns mit 200 Mann an einem gemeinsamen Gefechtsverband ("Battle Group") mit Deutschland und der Tschechischen Republik, dessen Stärke insgesamt 1.500 Mann betragen soll.
Für die gesamte EU-Streitmacht sind derzeit elf solcher Verbände geplant. Sie sind nicht nur für humanitäre und friedenserhaltende Einsätze gedacht, sondern auch für friedensschaffende, sprich Kampfeinsätze, und die sogar außerhalb Europas. Mit beiden Nachbarstaaten gibt es schon seit Jahren intensive Zusammenarbeit bei Auslandseinsätzen und Übungen. Die Battle Group sollte Anfang 2008 einsatzbereit sein. Ab diesem Zeitpunkt würde sie im Turnus mit einer anderen Battle Group in Bereitschaft stehen.
Aber natürlich nur, wenn Wien nicht weiter glaubt, seine Verbands-Bestandteile in letzter Sekunde zurückpfeifen zu können, dann nämlich, wenn es sich um keinen UNO-konformen Einsatz handelt. Die Einheit würde dann – auch wenn nur ein kleinerer Teil fehlt – nicht einsatzfähig sein, würde von der Battle Group zur "Bettel Group". Wieder einmal eine österreichische Lachnummer. Wieder einmal ein Musterbeispiel für das Fehlen jeglichen Solidaritäts-Bewusstseins.
Der Verlust der Unschuld
Und so hat jetzt die österreichische Neutralität endgültig ihre Unschuld verloren, falls sie jemals eine gehabt hat. Das Land ist höchstens noch bündnisfrei wie weiland Finnland oder Jugoslawien. Die Kommentare des damaligen ÖVP-Klubchefs Andreas Khol zu Amsterdam lassen auch an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: "Damit wird die Neutralität für den Bereich der EU außer Kraft gesetzt. Diese ist nur mehr als Halbmondsichel vorhanden – man kann zurecht von einer Restneutralität sprechen." Und der Einsatzhorizont des Bundesheeres verlagert sich von der Verteidigung des Staatsgebietes über die Zwischenstufe der Friedenserhaltung etwa am Golan oder am Balkan zu möglichen Kampfeinsätzen jenseits der Grenzen der EU. So schwarz auf weiß im Analyse-Teil der Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin 2001, wo "die Durchsetzung der Interessen der Union im globalen Rahmen" zu den "vitalen Sicherheitsinteressen Österreichs" gerechnet wird.
Vor allem viele Linksdenker trauern der Neutralität nach – verständlich, denn gemäß ihrer Weltanschauung darf es ja überhaupt keine Waffengewalt und keine Kriegseinsätze geben, und wenn doch einmal unbedingt nötig, dann bitte höchstens zur Verteidigung des eigenen Schrebergartens. Es gibt aber auch Mitbürger, die über die vollendeten Tatsachen nicht jammern, sondern sie als Garant für eine sichere Zukunft sehen. Denn Europas Sicherheit sei auch Österreichs Sicherheit, und deshalb, meinen diese eher konservativ-liberalen Kreise, sei das neue Staatsleitbild nicht mehr Neutralität, sondern Solidarität.
Eine profilierte Stimme aus diesem Lager gehört Dr. Erich Hochleitner, dem langjährigen österreichischen Botschafter in Brüssel sowie bei der NATO und ständigem Vertreter bei der WEU, der Verteidigungsgemeinschaft der EU. Er meint:
"Politisch wird heute der Status der Neutralität von allen wichtigen EU-Partnern, aber auch von Österreichs Nachbarn, als funktionslos und überholt angesehen. Keiner unserer Nachbarn hat Interesse an einem neutralen Österreich. Im Gegenteil, der Status der Neutralität stößt bei unseren EU-Partnern ... zunehmend auf Unverständnis und wird als ein diplomatischer Stolperstein, der die Stabilisierung Mitteleuropas ... behindert, angesehen. Ein neutrales Österreich ist für unsere EU-Partner ein Querriegel, der im Fall einer Krise den Norden vom Süden der Union trennt und bei einer Bedrohung der Südflanke der Union – das heute wahrscheinlichste Bedrohungsszenario – die notwendige Verstärkung und Versorgung des bedrohten Südens aus dem Norden behindern könnte."
Die Moral von der Geschichte
Es ist, was es ist. Man kann neutral sein, man kann nicht neutral sein, man kann auch ein Neutrino sein. Das ist jedes Landes und dessen Bürger ureigenste Sache.
Nur hat das zwei entscheidende Konsequenzen.
Erstens für die äußere Sicherheit. Ein echt Neutraler steht im Grunde völlig allein da. Er muss also erhebliche Mittel aufwenden, um den Eintrittspreis in sein Land maximal in die Höhe zu treiben. Ein nicht Neutraler, noch dazu, wenn er klein ist, tut gut daran, sich einem Militärbündnis anzuschließen. Noch dazu, wenn er mit dessen Mitgliedern weltanschaulich übereinstimmt und politisch-ökonomisch-rechtlich schon auf die vielfältigste Weise verbunden ist.
Zweitens für die politische Hygiene. Man sollte sich und alle zwanzig Jahre eine neue Generation nicht belügen und in wohliger Selbsttäuschung wiegen. Beziehungsweise von den verantwortlichen Spitzen des Staates darin wiegen lassen. Wenn in regelmäßigen Abständen für die "Bevölkerung" – der Ausdruck "Bürger" impliziert ja eine gewisse Mündigkeit – die Neutralitätsplatte aufgelegt wird, kann einem mitdenkenden Staatsbürger nur mehr schwindlig werden ob der erklingenden Schalmeientöne. Daran zu einem Gutteil beteiligt ist sogar – bei allem Respekt vor dem Amt – die oberste Spitze des Staates, der Herr Bundespräsident. Als habilitierter Verfassungsrechtler müsste gerade er wissen, wie es um den Staatsmythos in Wirklichkeit bestellt ist. Und die Öffentlichkeit präzise informieren und damit auf den Boden der Realität zurückholen.
Die unveräußerlichen Rechte eines Staates
Aber Neutralität hin oder her, dieser schön langsam zum Popanz angewachsene Begriff ist nicht alles, es gibt da noch ein höheres Gut. Denn sonst könnte man ja folgende Überlegung anstellen: Wir sind zu klein, schaffen wir doch die eigenen Luftstreiftkräfte ab und überlassen wir die Überwachung und Verteidigung unseren Bündnis-Staaten, natürlich mit einer Zuzahlung für die entstehenden Kosten. Da kommen wir alles in allem viel günstiger weg und ersparen uns jede Menge Zores.
Das geht nicht. Verteidigungsminister Platter hat es in einer der wenigen Sternstunden seiner Tätigkeit am 23.Mai 2003 im Parlament beeindruckend auf den Punkt gebracht:
"Die Notwendigkeit der Luftraumüberwachung ist nicht eine Frage des neutralen Status der Republik Österreich, sondern eine Frage der Sicherstellung der Souveränität eines Staates auf Grund der Zugehörigkeit des Luftraumes zum Staatsgebiet. Bedient sich ein Staat nicht der adäquaten Mittel zur Kontrolle seines Staatsgebietes oder zur Ausübung der Staatsgewalt, dann stellt sich der Staat aus völkerrechtlicher Sicht selbst in Frage."
Wobei man nach unseren gerade vorhin angestellten Betrachtungen Platters "völkerrechtlich" ruhig in Klammern setzen kann. Ich brauch kein Völkerrecht, um zu wissen, dass ich meine eigene Hütte nicht mehr kontrollieren kann.
Aber man braucht da nicht einmal Gedankenspiele anzustellen, die Abtretung der Luftraumüberwachung gibt es im heutigen Europa tatsächlich. Und die Fakten müssen jemanden, der nur über etwas historisch-psychologische Bildung verfügt, nachdenklich stimmen. Nach fünfzig Jahren Unfreiheit lassen sich die wieder erstandenen baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland als NATO-Mitglieder von ihren Bündnis-Partnern wiederum überwachen. Besonders pikant ist die Situation in Slowenien, ebenfalls bei der NATO. Hier hat Italien die vollständige Luftraumsicherung übernommen. Ausgerechnet jenes Land, das Slowenien traditionell als terra nostra angesehen und sich im Weltkrieg nahezu die Hälfte davon einverleibt hat.
Wobei die Slowenen jetzt auch schon wieder langsam umdenken und eigene Flieger ins Auge fassen. Denn die bisherigen Erfahrungen waren nicht sehr erfreulich: die Italiener kommen im Abfang-Fall bei der Kleinheit des slowenischen Luftraums und der großen Entfernung ihrer Stützpunkte meistens zu spät. Das immer zwischen bündnisfrei und neutral changierende Irland hat zwar eine kleine Armee, die auch fleißig bei UNO-Einsätzen mitmacht, aber in der Luft beschränkt sie sich auf Transportaufgaben und verfügt über keine düsengetriebenen Kampfflugzeuge. Wer übernimmt den Schutz in der Luft? Richtig. Großbritannien, wer sonst. Trennungsgeschichte hin oder her.
So werden alte Feinde zu neuen Freunden. Eine schöne historische Entwicklung, mag man sich denken. Endlich werden die Menschen einmal vernünftig. Nur, was davon zu halten ist, hat man vor nicht allzu langer Zeit beim Auseinanderbrechen der Tschechoslowakei und Jugoslawiens gesehen. Nach Jahrzehnten einträchtigen Zusammenlebens kamen da praktisch über Nacht wieder tiefe Ressentiments zum Vorschein. Die blutige Balkan-Mentalität ist weit weg? Das hat man bis 1990 auch am Balkan selbst gedacht und sich in der Sicherheit vorbildlichen Zusammenlebens gewiegt. Und dass Tschechen und Slowaken weder geographisch noch geistig zum Balkan gehören, ist Tatsache.
Si vis pacem, para bellum
Welche Lehre ziehen wir daraus? Wenn du den Frieden willst, bewahre dir deine Unabhängigkeit, auch unter Freunden, denn nichts kann dich mehr korrumpieren als deren Begehren. Wenn du den Frieden willst, bleibe Herr im eigenen Haus. Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg. Si vis pacem, para bellum, das wusste man schon vor zweitausend Jahren. Und: damit du dich immer wieder daran erinnerst, wie aktuell und wichtig das alles ist, schau dir von Zeit zu Zeit das Theaterstück Biedermann und die Brandstifter an:
- Anna, was ist los?
- Der Kaffee.
- Sie sind ja ganz verstört?
- Dahinten – der Himmel, Frau Biedermann, von der Küche aus – der Himmel brennt ...
- Zum Glück ist's nicht bei uns ... Zum Glück ist's nicht bei uns ... Zum Glück –
(Max Frisch, "Biedermann und die Brandstifter", 1958.)
Fortsetzung folgt.
Die bisherigen Texte:
- Die Redl-Papers(I): Eine halbe Milliarde veruntreut
- Die Redl-Papers(II): Der Gewerkschafter und der Grüne
- Die Redl Papers(III): Der Abschuss lahmer Enten
- Die Redl Papers (IV): Abfang, Abschuss und der Zeitgeist
- Die Redl Papers (V): Der Wörgl-Incident