Veränderungen und Adaptierungen sind selbstverständlich in allen Lebensbereichen immer wieder notwendig und unabdingbar. Jedoch sollten sie niemals um den Preis bewusster Halbwahrheiten oder eines absichtlichen Schlechtredens von vermeintlich "Altem" und "Überholtem" erfolgen. Genau dies ist aber bei der österreichischen Bildungsdiskussion ständig der Fall! Im Eifer politischer Macht- und Pokerspiele wird sehr schnell die Realität vergessen oder ausgeklammert.
WAS soll Schule und Bildung überhaupt sein? Der von so vielen Eiferern und Theoretikern geforderte Bereich einer Fun-Area? Ein selektions- und druckfreier Raum, in dem durch ausschließliche Fremdmotivation durch eine "Ich hab dich nur lieb"-Pädagogik sesselkreisartig ein jeder vermeintlich jedes Ziel erreichen kann? Oder doch eher ein Raum, in dem durchaus wertschätzend und "liebend" auch Anstrengung, Leistung, Übung und Bildung als hoher Stellenwert gefordert werden kann und darf? Wo junge Menschen lernen, dass auch Misserfolg, Niederlagen, Bewertungen, Anforderungen, Erwartungen etc. zukünftige Lebensbegleiter sein werden, mit denen sie umgehen lernen müssen?
WAS soll der Pädagoge überhaupt sein? Ein Lernbegleiter, ein Lernanbieter, ein "guter Freund", ein ständiger Fremdmotivator, der in seiner Unterrichtssprache Wörter wie "sollen" und "müssen" gar nicht mehr verwenden darf, weil sie gemäß so manchem Elfenbeinturmpädagogen autoritär, altmodisch und persönlichkeitshemmend sind? Oder doch eher eine fördernde, aber auch fordernde Leitfigur, eine authentische Führungspersönlichkeit, der bewusst ist, dass im zukünftigen Leben niemals alles "auf freundschaftlicher und ausschließlich verständnisvoller Augenhöhe" ohne jegliche Grenzen und Vorgaben passieren wird?
So ist es seit langem in Mode gekommen, dass außerschulische Zurufer, nicht selten aus gehobenen Positionen der Privatwirtschaft, der Institution "Schule" und ihren Mitarbeitern ständig ausrichten, was wann wie zu geschehen hat. Sie bringen intensiv zum Ausdruck, dass das bestehende System altmodisch, persönlichkeitshemmend und viel zu selektiv sei. Was aber keiner von diesen Herrschaften bisher jemals erklärt hat, ist die Tatsache, dass sie es alle in ihrem Lebensweg in gehobene oberste Positionen mit sozialem Ansehen und durchaus wirtschaftlichen Vorteilen geschafft haben – und das offenbar aus einem Schulsystem heraus, dass doch so alt, so traditionell, so konservativ, so persönlichkeitshemmend und gar selektiv war? Theoretisch müssten nun diese Zurufer gemäß ihren eigenen Aussagen ja dann massiv in ihrer Persönlichkeit durch ihre eigene Schullaufbahn beeinträchtigt worden sein. Paradox, oder?
Vielleicht sollten sich diese Herrschaften dann doch einmal die Frage gefallen lassen, ob ihr Lebensweg in der jetzt von Ihnen geforderten Schule ähnlich erfolgreich verlaufen wäre bzw. ob in ihren eigenen Firmen oder Institutionen Mitarbeiter auch mit solchen Glaceehandschuhen angefasst werden, wie von "moderner" Schule derzeit permanent verlangt wird?
Getoppt wird die österreichische Bildungsdebatte dann noch durch die Tatsache, dass viele die Schule und die direkte Arbeit betreffenden Regelungen und Ideen von Entscheidungsträgern – Juristen, Sektionschefs, "Hobbypolitikern" – gemacht werden, welche von der durchschnittlichen Schulrealität keine Ahnung haben, denen in Wahrheit das Kind, der Schüler im Vergleich zum eigenen politischen Verkauf und Erfolg völlig gleichgültig ist!
Es ist kein Geheimnis, dass dieses Verhalten auch noch durch unzählige "Mitschwimmer" etwa aus der Lehrerbildung, "Schulaufsicht" oder Funktionärsebene unterstützt wird. Diese heulen mit der Politik mit.
Das Pisa-Abschneiden scheint unser einzig wirklich relevantes bildungspolitisches Problem zu sein, verfolgt man die Aussagen so mancher Entscheidungsträger. Hier halte ich es mit Sebastian Kurz – "In Österreich wird vieles schöngeredet." So scheint es keine Probleme mit Verhaltensauffälligkeiten zu geben. Ddenn diese haben nicht zu existieren – weder gegen Mitschüler und schon gar nicht gegen Lehrkräfte. Die "Lehrerausbildung NEU" wird als der Weisheit letzter Schluss dargestellt, obwohl hinter vorgehaltener Hand viele zugeben, dass die zukünftige Lehrergeneration (vorsätzlich) ungenügend und extrem praxis- und realitätsfern ausgebildet wird.
Es gibt angeblich auch keine Probleme beim Erlernen der deutschen Sprache. Wehe dem, der dies als Grundbedingung vehement einfordert. Inklusion ist das dogmatische Gebot der Stunde. Sie wird unabdingbar gefordert, ohne aber die Rahmenbedingungen, das Geld, die Spezialisten dafür zu haben und den Mut, zwangsläufige Grenzen anzusprechen!
Klassen fast ausschließlich mit Kindern nichtdeutscher Muttersprache, extrem unterschiedlichen Bildungsniveaus und negativen erzieherischen Einstellungen zur Bildung: All das wird ebenfalls vernachlässigt.
Immer wieder ist es verwunderlich, wie sehr die Gesellschaft viele Bildungslügen widerspruchslos hinnimmt.
- Dazu gehört etwa die gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen, in der jeder von jedem profitieren wird.
- Dazu gehört die Ganztagsschule, in der ab 16 Uhr kein Lernen, kein Üben, kein Vorbereiten notwendig sein wird und wo Erziehungsberechtigte rechtzeitig aus der Firma gehen dürfen, weil ja "ab Schultagende nur mehr Zeit für die Familie sein wird".
- Dazu gehört die Inklusion, die stattzufinden hat, auch wenn sie dann vielleicht im restlichen Leben bitter endet. Dabei ginge es beim kritischen Hinterfragen niemals um die Idee selbst, sehr wohl aber um die Art und Weise des unehrlichen politischen Verkaufs und des Verschweigens von Grenzen und Problemen!
Es ist im Endeffekt gleichgültig, welche Rahmenbedingungen man schafft, wie das Klassenzimmer aussieht oder die Sitzordnung ist, ob frontal oder gruppenorientiert gearbeitet wird. Bildung steht und fällt grundsätzlich mit den agierenden Lehrkräften und ihren fachlich-menschlichen Qualitäten. Es ist das Armutszeugnis österreichischer Bildungspolitik schlechthin, dass diesem Punkt weder in der "Lehrerausbildung NEU" noch in der gesamten Autonomiediskussion ehrlich Rechnung getragen wird!
Der Bildungsexperte Fachautor SObl. Wolfgang Weissgärber ist seit 1987 als Klassenlehrer am "Zentrum für Inklusions- und Sonderpädagogik" tätig.