Eigentlich ist das Tagebuch nicht der geeignete Ort für Interviews. Aber da dieses (Fernseh-)Interview mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in den Mainstream-Medien völlig ignoriert worden ist, es aber spannende Einblicke in das Denken Kohls über die heutige Politikergeneration und über die Zukunft Europas verschafft – diese werde entweder christlich oder gar nicht sein –, sei es hier ausnahmsweise wiedergegeben.
Eszter Baraczka: Wir sind nach der Trauerzeremonie. Im Allgemeinen werden auf Trauerzeremonien schöne Dinge gesagt, aber hier schien es doch sehr stark so, dass ein jeder sehr ehrlich war, und tatsächlich sehr erschüttert; dabei waren, als Helmut Kohl seine wahrlich historischen Taten vollbrachte, im Zusammenhang mit ihnen sehr viele Ängste formuliert worden. Liegt seine historische Größe gerade hierin?
Viktor Orban: Eine Trauerzeremonie hat es noch nicht gegeben, diese wird es am Abend geben. Dies war eine politische Verabschiedung. Dies kann man auch daraus ersehen, dass zum Beispiel das Wort "Christentum" nicht gefallen ist, obwohl wir einen christlich-demokratischen Politiker beerdigt haben. Jeder hat also entsprechend den Regeln der politischen Korrektheit, wie dies im Gebäude des Europäischen Parlaments heutzutage Sitte und erlaubt ist, gesprochen. Wir können also in diesem Moment eher über politische Aufregungen reden. Der wahre erschütternde und seelische Abschied von unserem Kanzler wird heute Abend in der Basilika stattfinden. Aber zweifelsohne war es eine spannende Sache, so viele ehemalige Zeitgenossen von Helmut Kohl zu sehen, die im Rahmen einer solchen politischen Verabschiedung ihre Erinnerungen mit den Anwesenden geteilt haben. Und tatsächlich war die Verabschiedung in der Hinsicht auch Europas würdig, dass die politischen Führer geradeheraus und ehrlich über ihre Gefühle für Bundeskanzler Kohl als Mitarbeiter, als Kollege oder als Freund sprachen. Auch wir Mitteleuropäer, durften sprechen, unsere Stimme war in dieser Versammlung Donald Tusk. Denn er durfte als Präsident des Europäischen Rates das Wort ergreifen, und er sprach als Pole aus Gdansk, und er dankte, meiner Ansicht nach, im Namen jedes Mitteleuropäers, so auch im Namen der Ungarn für all das, was Helmut Kohl für die Freiheit der Ungarn, das Hinausdrängen der Sowjets aus Ungarn, aus Mitteleuropa und danach für unsere Aufnahme, Wiederaufnahme nach Europa getan hat. So dass auch wir dem großen Kanzler Deutschlands für all das danken konnten, was er für uns getan hat.
Laut Nachrichten in der Presse hätten im Übrigen auch Sie gesprochen. Ich weiß nicht, ob Sie das bestätigen können: In der deutschen Presse war die Meldung zu lesen, dass die Witwe des verstorbenen Kanzlers es gewollt hätte, dass Viktor Orbán auf dieser europäischen Verabschiedung eine Rede hält.
Schauen Sie, wenn wir einen großen Menschen beerdigen, und jetzt ist eine große Eiche gefallen, dann ist jeder Tratsch oder jede Rangelei, die um die Beerdigungszeremonie herum entstanden ist, notwendigerweise unwürdig. Daran darf man nie teilnehmen.
Ich glaube, Sie können im Übrigen von sich behaupten, dass Sie freundschaftlich mit Helmut Kohl verbunden waren. Es gab einen Besuch im vergangenen Jahr, er war schon sehr sehr krank. Und es ranken sich sehr viele Legenden um diesen Ihren Besuch im Familienhaus, im Heim von Helmut Kohl. Wir wissen nicht, warum Sie dort waren. Es gab die Überlegung, dass Helmut Kohl Ungarn in den Angelegenheiten der Migration zurechtweisen würde, andere Stimmen meinten, er habe Sie gerade aus dem Grunde eingeladen, um Merkel ein bisschen zu provozieren, denn wir wissen ja sehr gut, dass ihre Beziehung nicht ungetrübt war. Verraten Sie uns die Wahrheit? Werden wir sie jemals erfahren?
Schauen Sie, ich habe den Bundeskanzler mehrfach besucht. Er hat mich noch in den 90er Jahren davon überzeugt, dass die alten Größen Recht hatten, die sagten, Europa werde entweder christlich sein oder nicht sein. Ich habe in ihm also den großen Kanzler des Christentums und der Christdemokratie respektiert. Und er hat, wenn man das so sagen kann, mit großväterlicher Liebe unsere Generation dahin, in jene Richtung geleitet, dass es natürlich auch hierin Moden gibt, Moden kommen und gehen, aber es gibt einen einzigen sicheren Punkt, auf den man Europa hinsichtlich der Werte aufbauen kann. Und dieser ist das Christentum, denn die Werte Europas sind hieraus entsprungen. Und dies muss man auch dann bewahren, wenn das auch nicht immer populär ist. Auf diese Weise bin auch ich übrigens in die Familie der europäischen Christdemokraten gekommen, auf seinen einladenden Ruf hin. Unsere Generation hat dies immer mit Respekt, hat diese Meinung immer mit Respekt von ihm angenommen. Unser Verhältnis war übrigens eher eines, wie es zwischen Großvätern und deren Enkeln zu bestehen pflegt. Die Eltern erziehen, unterrichten und lieben auch ihre Kinder. Die Großeltern unterrichten sie nicht mehr, sie lieben sie nur. Und Helmut Kohl verfügte über so einen großväterlichen Habitus. Er hat uns niemals belehrt, er hat nicht gedacht, dass er, weil er älter oder weil er ein Deutscher und größer ist, sich jedwede belehrende Tonart erlauben dürfte. Wenn er etwas nicht verstanden hat, dann fragte er lieber, und hat nie verurteilt, und er beantwortete sehr gerne jede Frage. Und hinter dem, was er sagte, steckte christliche Fröhlichkeit und Liebe. Früher war dieser Ton in der europäischen Politik nicht fremd, inzwischen ist dies vollkommen ausgestorben. Jetzt ist die Kultur des Belehrens, des Geringschätzens und des Beleidigens stärker als die Kultur der christlichen Fröhlichkeit und des Respekts, aber ich bin mir sicher, dass wir diese Kultur nicht gemeinsam mit Helmut Kohl begraben haben.
Jean-Claude Juncker erwähnte in seiner Rede einen Moment, in dem diesem in jeder Hinsicht großformatigen Politiker Helmut Kohl, die Tränen kamen und er weinte, und zwar als man in der Europäischen Union beschloss, die Beitrittsverhandlungen mit den mittelosteuropäischen Ländern, darunter auch mit Ungarn, aufzunehmen. Und da hat er es so formuliert, dies sei einer der schönsten Momente in seinem Leben. Kannten Sie diese Geschichte?
Ja. Helmut Kohl hatte zweifelsohne große Gefühle, er war ein großer Mensch, mit großen Tugenden, großen Gesten und großen Entscheidungen. Und meiner Ansicht nach hat er es dem lieben Gott auch immer gedankt, dass dieser das Schicksal Europas und auch sein persönliches Schicksal auf die Weise gestaltet hat, dass er auch die großen Entscheidungen Europas fällen musste. Er selbst hat übrigens nie bestritten, dass er sich selbst auch für fähig hielt, diese Entscheidungen zu fällen. Er war ein christlicher Mensch, er besaß solch eine christliche Demut und Zurückhaltung. Doch war er sich dessen bewusst, dass es wichtig war, dass an der Spitze Deutschlands im entsprechenden historischen Moment die geeignete Person stehe, die in Lage sei, all das zu verkörpern, was in der deutschen Geschichte gut und weiterbringend sowie in den anderen europäischen Ländern nützlich ist. Dementsprechend erlebte er auch die Erweiterung der Europäischen Union als eine Art geistige Ausgießung, wie eine historische Wahrheit wiederhergestellt wird, an deren Gestaltung er auch persönlich teilnehmen darf. Er bot übrigens selbst noch in seinem vom Alter gekennzeichneten Zustand einen großartigen Anblick, als er diese Augenblicke in Erinnerung rief.
Jedoch hat er ein Buch geschrieben, und wenn Sie vorhin schon die politischen Aufregungen bei dieser europäischen Verabschiedung erwähnt haben, so formuliert er in seinem Buch eine sehr harte Kritik im Zusammenhang mit der Europäischen Union. Unter anderem, dass wir, nicht ich, sondern die europäischen führenden Politiker die Vergangenheit vergessen haben, sie haben vergessen, aus den historischen Fehlern zu lernen, nicht jeder macht seine Hausaufgaben. Er sorgte sich also um Europa. "Aus Sorge um Europa", so lautet auch der Titel des Buches, und darin formuliert er den Ihren sehr ähnlichen Gedanken, wenn er ausspricht, es sei kein europäischer Superstaat notwendig, sondern eine Pluralität, eine Vielfalt benötige Europa, in der sich ein jeder gleichzeitig als Europäer und Franzose, Deutscher oder eben als Ungar fühlen könne.
Schauen Sie! Die Deutschen haben ein eigentümliches historisches Problem. Deutsche nationale Gefühle zu zeigen, sie sichtbar zu machen, fällt ihnen mit dem 20. Jahrhundert in ihrem Rücken sehr schwer, deshalb gibt es Momente, in denen man auch gar nicht genau weiß, ob ein Deutscher, wenn er das Wort "Europa" gebraucht, darunter Deutschland oder Europa versteht. Denn dagegen Europäer zu sein, ist in Deutschland erlaubt und eine stolze Sache. Helmut Kohl hat dies nie miteinander verwechselt. Er hat auch immer klargemacht, dass er ein Deutscher ist. Und die Deutschen besitzen Tugenden, sie verfügen über historische Verdienste und sie haben sehr schwerwiegende Sünden und Fehler begangen, aus denen sie auch in der Zukunft für sich die Lehren ableiten werden. Er hat sein Deutschtum nicht verleugnet, er war gerne ein Deutscher, er war gerne der große Kanzler der Deutschen und er war auch gern der Kanzler des großen Deutschlands. Er war eine Art Staatsgründer, und das hat er mit natürlicher Freude und Gelassenheit, und eben auch in einer Art Bewusstsein des Ruhmes erlebt, während er übrigens persönlich zugleich auch weiterhin ein demütiger Mensch bleiben konnte. Dies ist in der Politik eine sehr schwierige Sache und es war im 20. Jahrhundert auch nur wenigen gegeben. Er vertrat also das Europa der Nationen. Er vertrat also das Europa des Christentums, weil nur die Nationen die festen Werte bieten, und hinsichtlich der Form der Politik dachte er, Europa müsse aus Nationen bestehen, zum Beispiel aus der deutschen Nation, und der ungarischen und der polnischen und der tschechischen Nation. Deshalb müssen die Nationen all das, was ihnen zusteht, bekommen. Den Respekt, die Anerkennung. Man muss ihre Rechte respektieren, man kann ihnen diese nicht wegnehmen, man darf ihnen nicht mit schleichenden Verfassungsänderungen irgendein Gebäude aufzwingen oder andrehen, in dem am Ende sich niemand wohl fühlt, weder der Deutsche noch der Pole noch der Ungar. Er kannte diese Grundwahrheiten. Diese Grundwahrheiten zeigen sich heute nicht in ihrem ganzen Umfang und ihrem vollen Licht, wir müssen arbeiten, um sie zu reiben, damit sie glänzen und sichtbar werden. Dies ist die gegenwärtige Mission der Osteuropäer oder Mitteleuropäer in Europa. Das Europa der Nationen.
Ich habe eine letzte Frage. Seine legendäre Freundschaft mit dem französischen Präsidenten ist allen bekannt. Kann dieser französisch-deutsche Motor auch jetzt noch so funktionieren, wie sehen Sie das? Jetzt sagen alle: "Nun, jetzt wird er wieder anspringen, und Europa wird wieder groß sein." Welche Aussichten sehen Sie hierfür? Wir sind bekanntlich an einem Wendepunkt, verschiedene Papiere, verschiedene Vorstellungen sind in Vorbereitung über die Zukunft der Europäischen Union. Wie sehen Sie dies?
Ich habe den Eindruck, dass die Zukunft Europas von den Charakteren und Persönlichkeiten abhängt. Vom menschlichen Charakter und der menschlichen Persönlichkeit. Wenn wir führende Politiker haben werden, die sich im notwendigen Moment als charakterstark erweisen, dann wird Europa sich entwickeln. Wenn nicht, dann bleiben wir so, wie wir jetzt sind, in diesem gegenwärtigen Zustand der Lähmung. Als ich 1998 zu Helmut Kohl ging, als mich das ungarische Volk das erste Mal mit der Bildung einer Regierung beauftragte, da ging ich zu Helmut Kohl, habe mich mit ihm zu einem langen Gespräch zusammengesetzt und ihn in zahlreichen Fragen um seine Meinung und seinen Rat gebeten. Und wie ein Großvater, der nicht belehren, sondern nur helfen will, hat er mir auch alles gesagt. Und das Gespräch hatte einen Moment, der auch eine Botschaft für die Zukunft darstellt. Als ich ihn fragte, wie es denn mit der Frage der Moral, der Tugend in der Politik stehe? Er sagte: "Ihr Ungarn, ihr verkompliziert alles. Das ist nicht so kompliziert. Was im Privatleben gut ist, das ist auch gut in der Politik. Was im Privatleben schlecht ist, das ist auch in der Politik schlecht." Wenn wir politische Führer haben werden, die verstehen, dass dies die Frage des Charakters und der Persönlichkeit ist, und dass das, was hier gut ist, es auch dort ist. Und wir einfache Wahrheiten wieder aussprechen können und wir es im Namen einfacher Wahrheiten wagen, die Meinung unserer eigenen Völker zu vertreten, zum Beispiel in der Frage der Migration oder der Frage der Nation oder gar im Namen des Christentums. Wenn wir führende Politiker haben werden, die es wagen, dies offen auszusprechen, dann wird Europa eine Zukunft haben. Eine Sache ist sicher, an Ungarn wird es nicht liegen.
Viktor Orban ist ungarischer Ministerpräsident.